Arthur M. Jacobs
Zeigen und Gedankenlesen:
Über Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation von Michael Tomasello
Michael Tomasello, Origins of Human Communication. Cambridge, MA/London: The MIT Press 2008. XIII, 393 S. [Preis: 27, 95 EUR ]. ISBN: 978-0-262-20177-3.
Mit Origins of Human Communication (2008) vollendet der Experimentalpsychologe und Direktor am Max-Planck Institut für Evolutionäre Anthropologie, Michael Tomasello, eine Art Trilogie, die mit Cultural Origins of Human Cognition (1999) und Constructing a Language (2003) begann. Im ersten Werk arbeitete er bereits wichtige Unterschiede zwischen menschlicher Kognition und derjenigen von Primaten heraus, im zweiten beschäftigte er sich eingehend mit der menschlichen Sprachentwicklung. In Origins of Human Communication schließlich evaluiert er drei spezifische Hypothesen zum phylo- und ontogenetischen Ursprung menschlicher Kommunikation als Alleinstellungsmerkmal im Artenreich.
Diese im ersten Kapitel, »A Focus on Infrastructure«, vorgestellten Hypothesen lassen sich wie folgt formulieren:
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Natürliche, spontane Gesten, insbesondere Zeigen und Pantomime, sind phylo- wie ontogenetisch die Wurzeln menschlicher kooperativer Kommunikation.
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Letztere basiert auf einer psychologischen Infrastruktur der geteilten Intentionalität (gemeinsame Ziele, Absichten und Überzeugungen), die ihren evolutionären Ursprung in gemeinschaftlichen (behilflichen) Aktivitäten hat und zwei Schlüsselaspekte besitzt: i) sozio-kognitive Fertigkeiten, um mit Anderen gemeinsame Aufmerksamkeit und Absichten zu erzeugen, und ii) prosoziale Motivationen, um Anderen zu helfen und mit ihnen Dinge, Gedanken oder Gefühle zu teilen.
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Konventionelle Kommunikation ist nur möglich, wenn die an ihr Beteiligten über zwei Gaben verfügen: i) natürliche Gesten und ihre geteilte intentionale Infrastruktur, ii) Fertigkeiten des kulturellen Lernens und der Imitation, um gemeinsam verstandene kommunikative Konventionen und Konstruktionen zu erzeugen und weiter zu vermitteln.
Die zentrale Botschaft von Kapitel 1 des Buches stellt also die Chomskysche Perspektive des universellen, genetisch determinierten Spracherwerbs auf den Kopf: Menschliche Kommunikation ist für Tomasello eine biologische Adaptation, die Kooperation und soziale Interaktion ermöglicht, während die eher rein linguistischen Sprachdimensionen kulturell konstruiert sind und von individuellen linguistischen Gemeinschaften weitergegeben werden. Für den zweiten Teil dieser Aussage spricht, dass die 4000-8000 lebenden Sprachen der Welt sich laut einem kürzlich publizierten Artikel des Max-Planck Direktors für Psycholinguistik, Stephen Levinson, teilweise so radikal auf allen Ebenen – Phonologie, Syntax und Semantik – unterscheiden, dass Chomskys Universalitätsthese als falsifiziert angesehen werden kann. Für den ersten Teil sprechen Forschungsbefunde, die Tomasello im fünften Kapitel, »Phylogenetic Origins«, behandelt.
Ausgehend von der Einsicht, dass in der biologischen Welt Kommunikation keineswegs intentional oder kooperativ sein muss, argumentiert Tomasello im zweiten Kapitel, »Primate Intentional Communication«, dass viele Primatengesten vielmehr benutzt werden, um die Aufmerksamkeit auf sich oder etwas zu lenken und das Verhalten anderer Primaten zu beeinflussen oder zu steuern. Die von dem Psychologen Karl Bühler in seiner 1934er Pionierarbeit Sprachtheorie erstmals als linguistische Besonderheit herausgehobene Zeigfunktion (Deixis) spielt dabei eine Schlüsselrolle: Schimpansen signalisieren damit beispielsweise, dass ein Mensch ihnen außerhalb ihrer Reichweite befindliche Nahrung geben soll. Von den drei fundamentalen sozialen Motiven, die vorsprachliche, neun Monate alte Kinder laut Tomasello bereits besitzen, Einfordern – von Hilfe oder Information – (›Ich möchte, dass DU etwas für MICH tust, mir hilfst‹), Informieren (›Ich möchte, dass DU etwas weißt, weil ich denke, dass es DIR hilft oder DICH interessiert‹) und Teilen – von Gefühlen oder Haltungen – (›Ich möchte, dass DU etwas fühlst, damit WIR Einstellungen oder Gefühle teilen können‹), stellt dies eine rudimentäre Form des Einforderns dar, einen kommunikativen Imperativ. Schimpansen nutzen die Zeigfunktion dabei erstaunlich flexibel, um etwa die bevorzugte Nahrung aus einer Angebotsmenge anzuzeigen. Ihre vokalen Fertigkeiten erlauben so etwas nicht: Ihre Vokalsignale sind extrem fixiert (innerhalb einer Art), weitestgehend unwillkürlich und dienen praktisch ausschließlich der emotionalen Ausdrucksfunktion, unabhängig davon, wie potentielle Rezipienten der Vokalisierung (z.B. ein Leopardenalarmschrei) die Situation wahrnehmen könnten.
Tomasello versäumt es in diesem Kapitel wie im gesamten Buch, die Forschungsarbeiten seines berühmten Oxforder Kollegen, Robin Dunbar, zu erwähnen. Der weist in einer Rezension des Buches für Current Anthropology nämlich darauf hin, dass Tomasellos Inflexibilitätsthese zwar auf Schimpansen, nicht aber auf alle Primaten zutrifft. Die Kontaktgrunzlaute von Gelada-Pavianen beispielsweise haben laut Dunbar keine fixe Struktur, sondern variieren enorm mit dem emotionalen Zustand und, noch wichtiger, mit der kommunikativen Intention des Senders. Weil Tomasello auch andere Arbeiten, deren Befunde gegen seine These zu sprechen scheinen, unerwähnt lässt – beispielsweise einige Arbeiten von Sue Savage-Rumbaugh zu mit Menschen aufgewachsenen Bonobos und ihrer Fähigkeit zu Intentionalität 4. Grades –, kann hier die Frage nach dem in allen Wissenschaften vertretenen ›confirmation bias‹, der Tendenz, Hypothesen bestätigende Befunde zu präferieren, aufgeworfen werden.
Im dritten, von der Bühlerschen und Griceschen Sprechakttheorie sowie Herb Clarks Buch Using Language beeinflussten Kapitel »Human Cooperative Communication« führt Tomasello dem Leser anhand einer Reihe von Alltagsbeispielen eindrücklich vor Augen, dass hinter vermeintlich einfachen Zeigakten und ikonischen Gesten (Pantomime) eine komplexe psychologische Infrastruktur steckt. Beide Kommunikationsformen können aus den zwei oben erwähnten, prosozialen Motiven heraus begründet werden, welche unseren Primatenvettern laut Tomasello fehlen: Informieren und Teilen. Beide zusammen erzeugen durch Verweisung auf relevante Umweltaspekt eine gemeinsame Basis, einen gemeinsamen Hintergrund an Weltwissen (›common ground‹) zwischen Sender und Empfänger – analog zu Bühlers ›Symbolfeld‹ –, der die Grenzen der egozentrischen Perspektive überschreitet und so erst die Basis für größere soziale Einheiten schafft.
In einer Tabelle fasst Tomasello die Unterschiede in der psychologischen Infrastruktur kommunikativer Akte zwischen Primaten (Schimpansen), Kleinkindern und Erwachsenen zusammen, wobei Schimpansen grundsätzlich nur intentionale Kommunikation zugeschrieben wird, Kleinkindern darüber hinaus auch ansatzweise kooperative Kommunikation und Erwachsenen voll kooperative Kommunikation (dank der Fähigkeit des ›recursive intention reading‹, des rekursiven Gedankenlesens: ›Ich glaube, dass Sie will, dass Ich will, dass Er …‹). Während Schimpansen lediglich das Motiv des Ein- oder Aufforderns kennen, kommen bei Kleinkindern noch Informieren und Teilen hinzu, bei Erwachsenen schließlich auch noch Kooperationsnormen. Bezüglich der Intentionalität schreibt Tomasello Schimpansen wie Kleinkindern ein elementares Zielverständnis, ein Verstehen der Wahrnehmung und des praktischen Denkens der Artgenossen zu. Erwachsene haben auch Zugriff auf gemeinsame Ziele und kommunikative Intentionen; sie können durch gemeinsame Aufmerksamkeit auf einen gemeinsamen Hintergrund verweisen und kooperativ denken (im Unterschied zum rein praktischen Denken). Was den Schimpansen an kommunikativen Mitteln fehlt – Imitation – können Kleinkinder und Erwachsene nutzen. Letztere haben über die Rekursivität zudem noch die Möglichkeit auf kommunikative Konventionen einzugehen. Der Mehrwert, den menschliche Kommunikation durch die Zeig- und Pantomimenfunktionen erfährt, ist also laut Tomasello enorm.
Woher diese spezifisch menschlichen sozialen Fertigkeiten seiner Auffassung nach stammen, erklärt Tomasello im vierten und fünften Kapitel (»Ontogenetic Origins«, »Phylogenetic Origins«). In Kapitel 4 bringt er viele überzeugende Beispiele und experimentelle Befunde zum Zeigen, welches Kleinkinder im Alter von einem Jahr bereits vor dem ersten ernsthaften Spracherwerb in einer erstaunlichen Bandbreite beherrschen. Zwei kommunikative Motive steuern dieses Zeigen. Erstens ein ›deklaratives‹, mit den Unterarten ›expressiv‹ (das Kind möchte eine Haltung gegenüber einem Referenten mit einem Erwachsenen teilen) und ›informativ‹ (das Kind möchte einen Erwachsenen mit benötigter oder gewünschter Information versorgen). Zweitens ein ›imperatives‹: Basierend auf einem elementaren Verständnis dafür, dass Andere Dinge geschehen lassen können, benutzt das Kind die Zeigfunktion, um diese kausalen Agenten zu steuern. Zeigen lenkt die Aufmerksamkeit Anderer auf bestimmte Umweltaspekte und fixiert so gemeinsame Bezugnahmen, einen gemeinsamen ›Sinnhorizont‹ (Bühler). Aber spätestens ab dem zweiten Lebensjahr können Kinder auch bei Anderen Vorstellungen hervorrufen, indem sie ikonische Gesten verwenden, also pantomimisch aktiv werden. Zunächst werden beim ›Gebärdenspiel‹ meist konventionalisierte Gesten gebraucht (Kopfschütteln für ›Nein‹ oder Handwinken für ›Tschüss‹), später auch immer mehr originelle Gebärden (ein Kind fummelt an seiner Brust und lächelt die Mama an, an deren Hemd Schnüre baumeln, mit denen das Kind gerne spielt).
Im fünften Kapitel beantwortet Tomasello die Frage nach dem Warum der altruistischen Kommunikationsform von Menschen mit der These des ›Helfen = Selbsthilfe‹: Anfangs wurde kooperative Kommunikation nur im engen Rahmen gemeinsamer Aufgabenbewältigungen genutzt. Diese sind bekanntlich adaptiv, weil kollaborative Individuen allgemein mehr Nachkommen haben: Hilfreiche Winke an Artgenossen können einen direkten Nutzen über den ›guten Kooperationspartner‹ zum ›Artvermehrungspartner‹ bringen.
Sowohl gemeinsames Handeln als auch kooperative Kommunikation beruhen auf der Fähigkeit des rekursiven ›Gedankenlesens‹ (mind-reading, intention reading) und der (angeborenen) Tendenz, dem Gegenüber Hilfe und Information anzubieten. Erst später (wann genau, lässt Tomasello offen) generalisiert kooperative Kommunikation auf Situationen außerhalb gemeinsam angegangener konkreter Aufgaben und auf unkooperative Zwecke wie Täuschen oder Lügen. Auch Primaten können laut Tomasello die Handlungen Anderer ›verstehen‹, soziale Intentionen zur Schau stellen und sich bei Gruppenaktivitäten engagieren. Doch ihre kommunikativen Gesten verfehlen das Ziel gemeinsamer Intentionalität: Die Rezipienten versuchen in einem sozialen Kontext nicht, eine Gebärde mit der erschlossenen Intention des Anderen in Verbindung zu bringen; ihnen fehlt der ›common ground‹. Primaten zeigen auch nicht aufeinander, und wenn sie auf menschliche Betreuer zeigen, dann ausschließlich, um etwas einzufordern. Der entscheidende phylogenetische Sprung war also derjenige, der der menschlichen Spezies das rekursive Gedankenlesen erlaubte. Wie und wann genau dieses außerordentliche ›neue Stück kognitiver Maschinerie‹ evolvierte, das allerdings lässt Tomasello weitgehend offen.
Im sechsten Kapitel, »The Grammatical Dimension«, entwickelt Tomasello seine Dreistufentheorie der ›einfachen‹, ›ernstzunehmenden‹ und ›einfallsreichen‹ Grammatik. Er verbindet dabei diese steigenden syntaktischen Komplexitätsgrade mit den drei sozialen Funktionen des Einforderns, Informierens und Teilens. Den Nullpunkt dieser evolutionären Gestengrammatik bilden die natürlichen Gestensequenzen der Primaten, die laut Tomasello keinerlei grammatische Struktur besitzen. Ein- oder Auffordern geschieht im Hier und Jetzt, involviert üblicherweise nur zwei Individuen und die Aktion, die der Eine sich vom Anderen wünscht. Dafür reicht eine ›einfache‹ Grammatik aus Zeigsequenzen und intentionalen Bewegungen, die die Erfahrungswelt in Ereignisse und Teilnehmer zergliedern.
Wollen wir Andere über hilfreiche Dinge informieren, kommen oft alle möglichen Ereignisse und Teilnehmer ins Spiel, die raum-zeitlich versetzt sein können. Hierzu bedarf es bereits einer ›ernstzunehmenden‹ Syntax, die beispielsweise Agens- und Patiens-Rollen markieren und Teilnehmer in einem gemeinsamen Aufmerksamkeitsraum identifizieren muss (wer tut was wann mit wem?). Eine Mischung von Gebärden und vokalen Ausdrucksweisen, typisch für Kleinkinder zu Beginn des Spracherwerbs, ist hier das Mittel zum Zweck.
Ist das Motiv schließlich das Teilen von Gefühlen oder Überzeugungen mit Anderen, etwa beim Erzählen einer Geschichte mit vielen Teilnehmern, Ereignissen und Orts- und Zeitangaben, wird eine einfallsreiche Syntax benötigt: die der gesprochenen Sprache. Im Gegensatz zur Standardauffassung der Chomskyaner benötigen Kommunikatoren laut Tomasello keine getrennten lexikalischen und grammatischen ›Module‹, um sich auszudrücken, weil sie bereits über sog. ›Konstruktionen‹ verfügen, vorfabrizierte, interne Bedeutungsstrukturen zur Benutzung in rekurrenten Kommunikationssituationen. Dies können einfache Wörter oder Phrasen wie ›Wie geht’s‹ oder ›Bis denne‹ sein, oder auch abstraktere Muster wie in der Englischen Passivkonstruktion ›X was VERBed by Y‹. Tomasello beruft sich hier auf die theoretischen Vorarbeiten von Linguisten wie Langacker, Fillmore und Goldberg, bietet aber im Grunde dem anspruchs- und erwartungsvollen Leser keine wirklich zufrieden stellende Antwort auf die brennende Frage, wie sich aus der ›einfachen‹ Gebärdengrammatik die hochkomplexen Sprachkonstruktionen eines Thomas Mann oder James Joyce entwickeln konnten.
Im siebten und letzten Kapitel, »From Ape Gestures to Human Language«, fasst Tomasello seine bisherigen Argumente noch einmal kompakt um das Kernargument der ›Sprache als geteilte Intentionalität‹ zusammen.
Fazit
Die beiden Schlüsselideen dieses Buchs, i) dass Sprache auf Kommunikation beruht und diese primär kooperativ und weniger manipulativ ist, ii) dass Gebärden und nicht Vokalisationen die phylo- und ontogenetischen Wurzeln der gesprochenen Sprache sind, sind nicht neu. Bühler, Wittgenstein, Austin, Grice oder Searle sahen Sprache bereits als ein Mittel, um Dinge zu tun, während die Chomskyaner sie vornehmlich als Instrument der Prozessierung und Externalisierung von Gedanken betrachteten. Condillac, Wundt, Arbib, Rizzolatti oder Corballis vertraten bereits die Auffassung, dass Sprache sich aus Gesten entwickelte und nicht aus Grunzlauten oder Warnschreien.
Was Tomasellos Darstellung dieser beiden Ideen so spannend und plausibel macht, ist die vergleichende, ethnologisch-entwicklungspsychologische Kombination aus einfallsreichen Verhaltensbeobachtungen und -experimenten mit Primaten und Kindern, häufig aus seinem eigenen Institut, welche diese Ideen konkretisieren und unterfüttern. Die genaue Beobachtung, wie Kinder Sprache erlernen und was sie beim Erwerb dieser Fähigkeit von heranwachsenden Schimpansen als unseren nächsten Verwandten unterscheidet, ist ein origineller Beitrag Tomasellos zur Sprachforschung. Die Konzentration auf vergleichende entwicklungspsychologische Verhaltensstudien einerseits und die pragmatischen und prosodischen Aspekte der Sprachentwicklung andererseits spiegelt Tomasellos Fachkompetenz, seinen beruflichen Werdegang wider. Von einem aktuellen Buch mit dem Titel Origins of Human Communication könnte man allerdings auch erwarten, dass einerseits die beiden anderen Standbeine psycholinguistischer Forschung, Syntax und Semantik, etwas intensiver behandelt werden als dies in Kapitel 6 der Fall ist, und andererseits auch neuropsychologische, neurowissenschaftliche oder genetische Studien zur Prüfung der Grundthesen des Buchs herangezogen werden.
Letzteres Desiderat lässt sich vielleicht an der ebenfalls nicht neuen Idee des ›mind reading‹ als Schlüsselfertigkeit sozialer Interaktionen verdeutlichen. Von den ersten Experimenten Jean Piagets zur Perspektivenübernahme bei Kindern über Premacks ›theory of mind‹ bis hin zu dem wegweisenden Experiment der Salzburger Psychologen Wimmer und Perner zu falschen Überzeugungen (›false beliefs‹) haben viele Wissenschaftler diese Idee in verschiedensten Theorien zu Wahrnehmung und Handlung, Imitationslernen, Empathie, Emotion oder Ästhetik verwendet. Es überrascht ein wenig, dass Tomasello auf solche verwandten Theorien nicht eingeht, ebenso wenig wie er Rizzolattis Arbeiten zu den Spiegelneuronen erwähnt, die viele für das neuronale Korrelat der Fähigkeit halten, verkörperte, mentale Simulationen zu vollziehen und so beobachtete Handlungen, Empfindungen oder Gefühle nachvollziehen zu können. Forscher wie Arbib, Rizzolatti oder Corballis sehen in den Spiegelneuronen die Grundlage der geteilten Intentionalität, auf der Tomasellos Sprachentwicklungstheorie fußt.
Hier scheint Tomasello sich selbst und seiner klassisch experimentalpsychologischen Ausbildung treu zu bleiben, indem er ausschließlich auf Beobachtungs- und Verhaltensdaten zur Prüfung und Stützung seiner Argumente verweist. Er verzichtet damit – aus welchen Motiven auch immer – auf die Möglichkeit, Antworten auf Fragen anzubieten, die sein Buch – jedenfalls nach Ansicht von Experten wie Robin Dunbar oder Nick Enfield –, offen lässt, insbesondere das Rätsel, wie und warum ein System, das auf Mimik und Gesten beruht, sich letztlich doch fast ausschließlich eines Vokalkanals bediente und einen geistigen Appart entwickelte, der den ganzen Reichtum an wörtlichen und metaphorischen Bedeutungen der Sprache erzeugt.
Michael Corballis konstruiert eine Antwort auf diese Frage um das auch bei Affen, Singvögeln oder Krokodilen auftretende ›Sprachgen‹ FOXP2 herum, das als ›Transkriptionsfaktor‹ andere Gene reguliert und von dem Institutskollegen Tomasellos, Wolfgang Enard und Svante Pääbo, meinen, dass sich die entscheidende Genmutation zeitgleich mit oder unmittelbar nach der Entstehung des anatomisch modernen Menschen ereignet hat – also vor etwa 100 000 bis 200 000 Jahren. Eine mögliche Folge der FOXP2-Mutation könnte eine bessere Kontrolle über Mund- und Gesichtsmuskeln gewesen sein. Corballis argumentiert, dass FOXP2 und andere Gene die Umstellung von der Hand- zur Mundkommunikation bewirkt hätten, als der Selektionsdruck auf diese energetisch zu kostspieligen Kommunikationswerkzeuge zu groß, die Notwendigkeit, auch nachts und auf größere Distanzen zu kommunizieren zu dringlich und die Vorteile der freien Hand zum Werkzeuggebrauch zu offensichtlich wurden. Tomasello zitiert zwar Corballis zweimal in seinem Buch als Kronzeugen für seine Gestenhypothese, geht aber nicht auf die Genmutationshypothese ein: Ist ihm diese ›zu viel Biologie‹ und ›zu wenig Kultur‹?
Eine weitere Frage, die man an Tomasello nach der Lektüre seines Buches richten kann, betrifft seine ausschließliche Fokussierung auf eine domänen-übergreifende Fähigkeit als Königsweg zur spezifisch menschlichen Natur. Glaubt er nicht, dass abgesehen von der Begabung zur ›geteilten Intentionalität‹ auch noch weitere domänen-übergreifende oder domänen-spezifische kognitive und emotionale Fähigkeiten uns vom Affen unterscheiden? Nicht nur Hauser, Chomsky und Fitch in ihrer umstrittenen interdisziplinären Arbeit aus dem Jahr 2002 behaupten, dass unsere numerischen Verarbeitungskapazitäten, unser Navigationsvermögen, unsere Fähigkeiten zu mentalen Zeitreisen (Corballis), zu vielseitigen sozialen Beziehungen und insbesondere unsere vermeintlich angeborene Fähigkeit zur Rekursion eine nicht minder wichtige Rolle bei der Evolution der menschlichen Sprache gespielt haben. Dadurch, dass er seine ›eindimensionale‹ Position so konsequent vertritt, motiviert Tomasello natürlich Gegenpositionen, was der Forschungsgenerativität wohl zugute kommen sollte.
Tomasellos Buch steht auf den Schultern vieler Vorgängerwerke, darunter Premack und Woodruffs bahnbrechende Arbeit über die Frage, ob Schimpansen eine ›theory of mind‹ haben, sowie Arbibs, Axelrods, Burlings, Corballis’, Dawkins’, Deacons, Donalds, Dunbars, Givons, Hausers, McNeills oder Wildgens’ Theorien zur Evolution von Kommunikation, Kultur, Kognition und Kooperation. Ihm gelingt es, viele übernommene Ideen in eine schlüssige Gesamtform zu gießen und mit einfachen, nachvollziehbaren empirischen Befunden abzustützen. Sein in flüssig lesbaren Sätzen und einem unterhaltsamen Stil geschriebenes Buch bringt das Thema ›Was macht den Menschen einzigartig?‹ einem breiteren Publikum nahe und macht das Lesen zum Vergnügen. Seine Fokussierung auf positive Evidenz für seine Theorie, sein weitgehender Verzicht auf die Darstellung alternativer Theorien und seinen Thesen widersprechenden empirischen Befunden machen dem Leser die Verfolgung (und Übernahme) seiner Argumente leicht. Wir Menschen sind einzigartig, weil wir uns für die Ziele und Absichten, Gefühle, Wünsche und Gedanken anderer Menschen interessieren und diese ›lesen‹ können, weil wir nicht nur Hilfe von diesen erwarten, sondern ihnen auch selbst Hilfe anbieten. Dies erlaubt uns – im Gegensatz zu unseren Primatenvettern – andere zu imitieren und so alles, was die Menschheitsgeschichte an Kulturgut zustande gebracht hat, zu lernen und zu lehren, allem voran aber zu sprechen!
›Zusammenarbeit und Selbstlosigkeit‹ statt ›Kampf ums Überleben‹; solche Geschichten liest man gerne, vor allem, wenn sie von einem so namhaften, spannend erzählenden Wissenschaftler wie Michael Tomasello geschrieben sind.
FU Berlin
Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie
Abteilung Allgemeine und Neurokognitive Psychologie
Dahlem Institute for Neuroimaging of Emotion (D.I.N.E.)
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2011-05-30
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