Mark-Georg Dehrmann

Von Objektwahl und blinden Flecken

Ein Sammelband fragt nach dem Verhältnis von Literaturtheorien zu ihren Gegenständen

Boris Previšić (Hg.), Die Literatur der Literaturtheorie. (Sammlung / Collection Variations 10) Bern u.a.: Peter Lang 2010. 199 S. [Preis: EUR 39,30]. ISBN 978-3-0343-0421-4.

1. Die Fragen

Bleibt eine Theorie an die Gegenstände, die Texte gebunden, an denen sie entwickelt wurde – auch wenn sie als Theorie mit dem Anspruch auftritt, auf andere Gegenstände übertragbar zu sein? Dies ist eine der Fragen, die der Sammelband Die Literatur der Literaturtheorie stellt. Der Ansatz, nach der Beziehung von Literatur und Literaturtheorie zu fragen, ist bestechend. Denn er reflektiert – so Daniel Müller Nielaba und Boris Previšić in ihrer Einleitung –, wie jede Theorie, aber natürlich auch jeder Deutungsanspruch überhaupt, durch einen blinden Fleck geprägt ist, der ihre Perspektive erst konstituiert. Die starre Gegenüberstellung von Literatur und Theorie lockert sich, beide erscheinen in einem gegenseitigen und fortgesetzten Reflexionsverhältnis zueinander. Die anderen Fragen, die die Einleitung mit dem Titelstichwort verbindet, unterstreichen dies: Wie kommt die Objektwahl unterschiedlicher Theorien zustande, richten sie sich doch oft mit Vorliebe auf ganz bestimmte Gegenstände und auf andere nicht? Inwiefern haben Theorien selbst Anteil an dem, worüber sie sprechen: an einem literarischen Schreiben? Und in welcher Weise beinhaltet wiederum Literatur selbst ihre Theorie, wenn sie das eigene Sprechen implizit oder explizit thematisiert?

2. Die Beiträge

In das fruchtbare Wagnis, kanonische Deutungen und theoretische Haltungen auf ihre Konstitutionsbedingungen hin zu befragen, lassen sich die Beiträge auf unterschiedliche Weise ein. Sie gehen den genannten Perspektiven mit verschiedenen Schwerpunktsetzungen und in unterschiedliche Richtungen nach. Den ›blinden Fleck‹ der Theorie thematisiert paradigmatisch Daniel Müller Nielaba in seiner Darstellung von Paul de Mans Rilke-Deutung (»De Man liest Rilke liest de Man«). De Man stellt in seinem Aufsatz (»Tropen (Rilke)«, in: Allegorien des Lesens, 1979) die Wandlung Rilkes von einem messianischen Verkündungslyriker zu einem modernen Dichter dar, einem Dichter, der nicht mehr die Erlösung des Lesers durch das richtige Wort verspreche, sondern in der Sprache deren Selbstreferentialität inszeniere. Nielaba zeigt, wie diese Interpretation de Mans eine normative Unterscheidung in die Literatur einführt: Einerseits gäbe es so eine gute, im dekonstruktiven Sinne ›bewusste‹ Dichtung, und eine schlechte, die die Selbstrefentialität der Sprache vergisst. Außerdem weise de Man, um seine Rilke-Interpretation plausibel zu machen, einigen Versen Rilkes doch einen referentiellen Wert zu. Diese Verse formulierten, dass Rilke in dem gleichen Gedicht nun eigentlich die Referentialität von Sprache dementiere.

Hans-Georg von Arburg unterzieht Leo Spitzers explication de texte einer ähnlich fruchtbaren Lektüre (»›A Stimmungsgeschichte of the word Stimmung is necessary.‹ Leo Spitzer liest Denis Diderot«). Spitzer vereindeutige den Befund seiner Diderot-Lektüre dort, wo er in den Einzugsbereich seines großen Projekts einer Geschichte des Stimmungsbegriffs gerate. Als drittes Beispiel für eine Lektüre des ›blinden Flecks‹ sei Christian Villigers Beitrag zu Gadamers Hermeneutik genannt (»Metaphorologie des Verstehens. Zur Literarizität von Gadamers Hermeneutik«). Plausibel zeigt er, wie der imaginäre Referenztext, den Wahrheit und Methode im Blick habe, die Gestalt eines platonischen Dialogs besitze, also dezidiert kein literarischer Text sei. Auf dieses implizite Modell hin entwerfe Gadamer seine Hermeneutik. Villiger verfolgt dann allerdings Gadamers Denken weiter, indem er die späteren Arbeiten zur Dichtung mit einbezieht. Er zeigt, dass Gadamer seine Hermeneutik dort sehr wohl modifiziert. Die verbreitete Kritik, etwa von Peter Szondi, dass Gadamer keine literarische Hermeneutik entwerfe, müsse demnach relativiert werden.

Andere Beiträge des Bandes setzen andere Schwerpunkte. Eine Gruppe von Aufsätzen rückt das Verfahren ›ihrer‹ Theorie in die Nähe eines literarischen Textes. Boris Previšić etwa widmet sich Bachtins Rabelais-Lektüre. Er versucht zu zeigen, wie Bachtins Text selbst in ein solches dialogisches Verhältnis zu seinem Gegenstand tritt, wie er es theoretisch entwickelt. Seine Theorie liefere sich bewusst einem »Strudel ständiger Inversion, Transition, Entgrenzung und Transzendenz« aus. Demnach »performiert Bachtin ›die Relativität aller klassifikatorischen Systeme‹« (85f.). Nach Previšić löst Bachtins Theorie in ihrer Praxis also ein, was sie diskursiv behauptet – zu fragen wäre, inwiefern sie gerade damit aber auch an ihren spezifischen Gegenstand Rabelais gebunden, auf ihn beschränkt bleibt (»Rabelais-Bachtin. Offene Körpertexte-Textkörper und ihre Nicht-Theoretisierbarkeit«). Klaus Müller-Wille geht der Theaterkritik in Kierkegaards Entweder – Oder nach. Auch er nimmt die Dynamik von Aussage und Textbewegung in den Blick und kommt zu einem ähnlichen Befund. Kierkegaards Ästhetiker »A« entwickle inhaltlich Momente einer Theorie theatraler Performativität, und sein Text setze diese auch formal ins Werk (»Schattenspiele. Zum Verhältnis von Theorie und Theatralität in Søren Kierkegaards Enten-Eller«).

Eine zweite Gruppe von Beiträgen schlägt eher inhaltliche Brücken von der Theorie zur Literatur. Hubert Thüring (»Die Sprache, das Leben. Giorgio Agamben denkt in der Fluchtlinie der Literatur«) etwa setzt den Gestus von Agambens Lektüren (Melvilles und Kafkas) in Beziehung zum Programm von Homo sacer: Wie die Figur des ›homo sacer‹ entzögen sich die literarischen Figuren, für die sich Agamben interessiere, »dem Zugriff des (dialektischen) Macht-Wissens« (115). Barbara Naumann arbeitet heraus, wie Nietzsche und Grünbein auf analoge Weise Descartes kritisieren. Der eine agiere als Philosoph, dem jeder sprachliche Entwurf zu einem Akt der Gewalt geworden sei, der andere als Dichter, der die ›Erfindung‹ des cogito konterkariere, indem er dessen Entstehungsszene biographisch imaginiere (»Gewalt der Sprache. Nietzsches Descartes-Kritik, Grünbeins Descartes«).

Noch weitere Pointen finden ihren Platz in dem Bezugsfeld von Literatur und Literaturtheorie, ohne dass sie sich jedoch immer klar in die eingangs genannten Fragehorizonte einordnen ließen. Alexander Honold analysiert beispielsweise den Zusammenhang von Zeit und Erzählung in Prousts Recherche (»Die Zeit der Erzählung. Marcel Proust und die Narratologie Gérard Genettes«). Mit und zum Teil gegen Gérard Genette kommt er zu dem Schluss, das »Organon dieses Romans über die Zeit« sei nicht das Gedächtnis einer mächtigen »Subjekt-Instanz« – des Erzählers –, sondern die »Textualität dieses Textes« selbst (41). Christoph Steier widmet sich Clemens Lugowskis Erzähltheorie. Er stellt sie einerseits in einer gut pointierten Darstellung vor; andererseits zeigt er, wie sie sich auch auf andere Texte anwenden lässt, nicht zuletzt auf Kleist, der für Lugowski eigentlich eine neue Ordnung des Erzählens eröffnet (»Von (Un)Ernst des Lesens. Clemens Lugowskis unerhörte Literaturwissenschaft und die ›Schicksals‹-Frage bei Tieck, Novalis und Kleist«). Sabine Schneider skizziert eine dekonstruktivistische Interpretation von späten Texten Adalbert Stifters und bietet ein forschungsgeschichtliches Panorama dieser Deutungsrichtung. Stifters Erzählen, seine ambivalente epische Naivität sei dann auch insbesondere für die neuere österreichische Literatur bedeutend geworden (»Adalbert Stifter, die Literatur des 20. Jahrhunderts und die methodischen Paradigmenwechsel der Literaturwissenschaft«). Csongor Lőrincz schließlich rekonstruiert Heideggers Hölderlin-Lektüre mit der Pointe, dass »die Singularität des dichterischen Textes nicht nur seine Selbstrepräsentation meint oder bestätigt, sondern vor allem das Heissen des Ungesprochenen«. Diesen Befund versucht er anhand von Hölderlins zweitem Brief an Böhlendorff und der Poetik der Nüchternheit seiner späten Hymnen zu bestärken (»Zwischen Heissen und Entzug. Zum Verhältnis von ›Dichten‹ und ›Denken‹ bei Heidegger«).

Die Beiträge des Bandes sind, einzeln genommen, jeweils lesenswert. Dennoch leidet die innere Einheit des Bandes an verschiedenen Stellen und aus unterschiedlichen Gründen. Erstens werden die Beiträge insgesamt nicht so sehr von der disziplinierten Arbeit an den eingangs vorgestellten Fragen des Bandes zusammengehalten. Was sie verbindet, ist eher eine Familienähnlichkeit: Sie sagen jeweils etwas zu einer Theorie in Verbindung mit Literatur, wobei die konkreten Frageinteressen in recht unterschiedliche Richtungen auseinanderlaufen. Zweitens reizen die Beiträge nicht immer die kritischen Möglichkeiten aus, die die Fragestellungen des Bandes einräumen würden. Dies mag auch einen systematischen Grund haben. Denn die Fragen selbst implizieren unterschiedliche Haltungen zu ihren Gegenständen. Die Analyse eines blinden Flecks etwa fordert eine kritische Distanznahme von der jeweiligen Theorie, gälte es hier doch, die Bedingungen der Möglichkeit des jeweiligen theoretischen Blicks und seine Beschränkung herauszuarbeiten. Die Literarizität einer Theorie nachzuweisen, fördert dagegen eher die emphatische Identifikation mit ihr; sie erscheint dann als eine Rede, die das, worüber sie spricht, auch selbst performativ umsetzt, also gerade als gelungener Sprechakt.

3. Die Einleitung

Die innere Geschlossenheit des Bandes könnte also größer sein. Die ambitionierte Einleitung von Nielaba und Previšić steht hierzu in einem gewissen Gegensatz. Neben den genannten Fragestellungen formliert sie das Programm einer »radikale[n] Philologie« (19). Die beiden Autoren scheinen dabei den Begriff der Theorie selbst einzuschränken auf solche Theorien, die auf die Selbstreferentialität des poetischen Zeichens zielen. Wenn sie schreiben, dass nur in einem solchen Fall »das Bewusstsein um den blinden Fleck« der Theorie nicht »unterschlagen« werde (16), so ist das eine starke Positionierung. Der Gedanke fordert aber auch dazu heraus, dass man ihn gegen ihn selbst wendet. Denn auch die Objektwahl einer solchen Position ließe sich auf ihre blinden Flecken hin befragen. Schränkt nicht, was hier als Theorie begriffen wird, die Vielfalt an Theorien und Zugängen selbst ein? Reduziert nicht die Verabsolutierung von Literatur auf ihre irreduzible Poetizität und damit auf ihre Selbstreferentialität die Möglichkeiten des Sprechens über Literatur (und Theorie)? Wird nicht hier letztlich historische (und auch kulturelle) Differenz abgetrennt, der ›adäquate‹ Umgang mit Literatur aber auf ein bestimmtes, überdies genuin modernes bzw. postmodernes Sprachverständnis beschränkt? Das Verdikt der Einleitung über jedes andere Verständnis von Literatur (und Theorie), beispielsweise »alle referenzialisierenden und kontextualisierenden Theorieansätze« (17), will nicht recht überzeugen.

Insbesondere Jens Herlth bietet in seinem Beitrag ein dezidiert anderes methodisches Herangehen (»Tanz mit der Wissenschaft. Viktor Šklovskij zwischen Theorie und Literatur«). Er rekonstruiert die Selbstpositionierungen und Selbststilisierungen der russischen Formalisten, insbesondere Viktor Šklovskijs. Sein Aufsatz, der methodisch den programmatischen Rahmen der Einleitung – nicht aber den Fragehorizont des Bandes! – überschreitet, zeigt, wie produktiv der wissens- und literatursoziologische Blick für die Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Literatur sein kann.

Die pointierte Positionierung der Einleitung ist dennoch fruchtbar. Gerade wenn man ihrer ›radikalen Philologie‹ der Selbstreferentialität skeptisch gegenübersteht, fordert sie zur kritischen Auseinandersetzung heraus. Und es ist kein geringes Verdienst, die Diskussion darüber zu stimulieren, in welchem Verhältnis Literatur und Theorie zueinander stehen und inwieweit sie sich durchdringen.

Dr. Mark-Georg Dehrmann

Leibniz Universität Hannover

Deutsches Seminar

2011-07-08

JLTonline ISSN 1862-8990

This work may be copied for non-profit educational use if proper credit is given to the author and JLTonline.

For other permission, please contact JLTonline.