Per Röcken
›Moderate Optimierung‹ –
›Traditionelle‹ und ›erfahrungswissenschaftliche‹ Interpretationspraxis in einer exemplarischen Einzeluntersuchung
Peter Tepe/Jürgen Rauter/Tanja Semlow, Interpretationskonflikte am Beispiel von E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann. Kognitive Hermeneutik in der praktischen Anwendung. Mit Ergänzungen auf CD. Würzburg: Königshausen & Neumann 2009. 396 S. [Preis: 39,80 EUR]. ISBN: 978-3-8260-4094-8.
1. Vorbemerkung
Ungeachtet einer aus verschiedenen literaturtheoretischen Richtungen und mit recht divergenten, teilweise unvereinbaren Begründungsstrategien vorgetragenen Kritik der Interpretation [1] gehört die Deutung literarischer Werke nach wie vor zum Kernbereich philologischer Praxis. Darüber aber, wie diese »offenbar funktionierende Praxis« (Simone Winko) faktisch betrieben wird, liegt im programmatisch heterogenen, dem eigenen Selbstverständnis nach pluralistischen Feld der Literaturwissenschaft kaum gesichertes Wissen vor. Zwar gibt es seit den 1970er Jahren mehrere sowohl de- wie präskriptive Versuche, das konkrete methodische Vorgehen professioneller Interpreten analytisch und/oder anhand normativer Wissenschaftskonzeptionen kritisch zu rekonstruieren. [2] Dass sich derlei Ansätze aber konstruktiv zugunsten einer ›Verwissenschaftlichung‹ oder auch nur eines höheren Reflexionsniveaus, eines gesteigerten Problembewusstseins ausgewirkt hätten, lässt sich nicht sagen. Vor allem fehlt ein Konsens hinsichtlich des bei der methodologischen Rekonstruktion zu verwendenden analytischen Instrumentariums und der bei der Bewertung mit wissenschaftlichem Anspruch auftretender Interpretationen anzusetzenden Maßstäbe. Grundsätzlich scheint sich hier inhaltlich wie formal ein Pluralismus etabliert zu haben, der auch sich logisch widersprechende Interpretationen ein und desselben – meist programmatisch als ›polyvalent‹ oder ›polysem‹ apostrophierten – Werkes für gleichermaßen legitim und eine Orientierung an den Vorgaben eines normativen Wissenschaftskonzepts für inadäquat hält.
Von diesem Befund gehen auch Peter Tepe, Jürgen Rauter und Tanja Semlow (im Folgenden TRS) in ihrer Studie Interpretationskonflikte aus und beurteilen die beschriebene Situation als Ausdruck einer (bislang kaum erkannten) »Dauerkrise der Textwissenschaft« (24), die weniger als Relevanz- denn als methodologische Grundlagenkrise aufgefasst wird, [3] zu deren Behebung eine »Neuorientierung« (36) und »Umstrukturierung der Textwissenschaft« (18) nach ›erfahrungswissenschaftlichen‹ Prinzipien erforderlich sei; nur so könne »die Textwissenschaft in ein sicheres Fahrwasser gebracht werden« (16). Interpretationskonflikte steht hierbei in engem forschungsprogrammatischen Zusammenhang mit Tepes Buch Kognitive Hermeneutik. Textinterpretation ist als Erfahrungswissenschaft möglich (2007) und setzt – daher auch der Untertitel »Kognitive Hermeneutik in der praktischen Anwendung« – theoretisch, terminologisch und hinsichtlich des kritisch-analytischen Instrumentariums dessen Thesen und Ergebnisse voraus, weshalb TRS der eigentlichen Untersuchung eine »Kurze Einführung in die kognitive Hermeneutik« (20-49) voranstellen. Auf eine ausführliche, systematische Rekapitulation auch nur der Grundzüge der von Tepe vertretenen, »den konkurrierenden Theorieangeboten überlegen[en]« (37), »neuartige[n] literaturwissenschaftliche[n] Interpretationstheorie« (10) und der »neue[n] Methode der Basis-Interpretation« (12) möchte ich im Rahmen dieser Besprechung allerdings verzichten und verweise auf meine ebenfalls in JLT-Online (25.3.2009) erschienene Rezension. [4]
2. Anliegen und Anspruch
Mit dem Titel des Buches Interpretationskonflikte ist die spezifische Konstellation eines »Sekundärliteraturkomplexe[s]« bezeichnet, in dem »mehrere nicht miteinander vereinbare Deutungen konkurrieren« (9). Die kritische Auswertung der zu E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann vorgelegten Interpretationen kann hier als »exemplarisch« gelten, sofern eine hinreichend große Menge an Sekundärtexten vorliegt (untersucht werden gut 80) und diese einen verallgemeinerbaren Eindruck der – zumal in diachronischer Perspektivierung – heterogenen literaturwissenschaftlichen Alltagspraxis vermitteln. Allerdings belassen es TRS nicht bei einer deskriptiven Rekonstruktion, sondern erheben ausdrücklich den Anspruch, »eine Fülle von Sekundärtexten zu einem ausgewählten literarischen Text auf ihre konkreten wissenschaftlichen Leistungen hin zu sichten und dabei auch alle wichtigeren kognitiven Defizite zu identifizieren« (11), und d.h. vor allem auf die – ungeachtet einer gewissen »Anfangsplausibilität« vorliegenden – »gravierenden kognitiven Mängel […] aufmerksam zu machen« (12). Es handelt sich demnach um »eine methodenkritische Studie mit eingegrenztem Gegenstandsbereich« (15). Das bei den ausführlichen kritischen Kommentaren der Sekundärtexte angewandte »Analysemodell« (14), das analytische Instrumentarium (im Wesentlichen handelt es sich um recht allgemeine kritische Fragen [vgl. 192]), die normativen Beurteilungsmaßstäbe (»kognitive Standards« [12]) sowie das leitende Wissenschaftsverständnis (›Erfahrungswissenschaft‹) werden aus Kognitive Hermeneutik übernommen. TRS zufolge gibt es in der Literaturwissenschaft »kein Modell für die kritische Analyse von Sekundärliteratur, das vergleichbar umfassend und leistungsfähig« (17) wäre. Zentral ist hierbei vor allem die Gegenüberstellung wissenschaftlicher (›kognitiver‹) und un- oder pseudowissenschaftlicher (›aneignender‹ bzw. ›projektiv-aneignender‹) Verfahrensweisen. Während erstere Perspektive ausschließlich an empirisch-explanatorischen Leitfragen orientiert ist (»Was ist der Fall?« bzw. »Warum ist etwas der Fall?«), bemüht sich letztere um eine lebenspraktische Bewertung, Anwendung, Anpassung, Aneignung oder Aktualisierung literarischer Werke, indem sie fragt: »Was sagt mir oder uns dieser Text?« bzw. »Welchen Nutzen bringt mir oder uns dieser Text?«. TRS erkennen zwar durchaus das persönliche Orientierungsbedürfnis auch professioneller Leser und die philologischen Aufgaben von Traditionsbewahrung und Relevanzerweis an, fordern aber ein »Diskursbewusstsein« (22), eine klare Sonderung des im eigentlichen Sinne wissenschaftlichen und des weltanschaulichen bzw. normativ-ästhetischen Diskurses sowie eine Auslagerung ›projektiv-aneignender‹ Elemente aus der Textinterpretation.
Zur Behebung der von ihnen postulierten »Dauerkrise« fordern TRS den Übergang von einer als ›traditionell‹ apostrophierten zu einer ›erfahrungswissenschaftlich‹ fundierten Textwissenschaft. Dieser Übergang soll sukzessive erfolgen und sich am »Programm der moderaten Optimierung« (191) orientieren; damit ist gemeint, dass die ›traditionellen‹ Textwissenschaftler »dort abgeholt« werden sollen, »wo sie sich befinden«, um sie dann – ohne sie vorschnell mit abschreckenden »Maximalforderungen« zu konfrontieren – »auf einen Verbesserungsweg zu lenken, auf dem sie Schritt für Schritt vorankommen können« (193). Letztlich ist damit eine »Modifikation der Grundhaltung« angesprochen, ein »spezifisches Ethos« (217), das nach TRS »einen wissenschaftlichen Fortschritt von entscheidender Bedeutung« (195) darstellt. Man sieht bereits hier, dass Bescheidenheit kein zentraler Charakterzug der Autoren ist: Sie sind sich ihrer Sache – im Feldzug gegen die »Untugenden« der in einem »Selbstmissverständnis befangen[en]« (283 f.) ›traditionellen‹ Interpreten – mehr als sicher und haben Sendungsbewusstsein.
Da sie es übrigens bei der kritischen Sichtung der Sekundärtexte und der Belehrung der ›traditionellen‹ Textwissenschaftler – denen TRS »zu einem angemessenen Diskursbewusstsein verhelfen« (367) wollen – nicht belassen wollen, erfolgen diese vor dem Hintergrund einer eigenen »vollständige[n] systematische[n]« Interpretation von Der Sandmann, die – gemessen an den Kriterien »Textkonformität« und »Erklärungskraft« (vgl. zur näheren Explikation 78 f.) – »mit dem Anspruch auftritt, der Konkurrenz überlegen zu sein« (12). Damit wenden sich die Autoren ausdrücklich gegen einen radikalen Interpretationspluralismus, demzufolge nicht nur alle Interpretationen gleichermaßen berechtigt – TRS sprechen auch von einer »Gleichberechtigungsillusion« (304) –, sondern auch logischen Widersprüchen zum Trotz zu einer harmonisierenden Deutungssynthese vereinbar sein sollen.
3. Gehalt und Gestalt
In einem der eigenen Interpretation des Hoffmann-Textes vorangestellten Kapitel (20-49) werden Theorie und Terminologie der Kognitven Hermeneutik (KH) und die Prinzipien der »kognitiven Textarbeit« vorgestellt, wobei – schließlich besteht der Anspruch, eine »lehr- und lernbare Methode der Textinterpretation« (28) zu vermitteln – hier eine Reihe von »Regeln und Empfehlungen« für das »unmittelbare Leseverhalten« (38) ausgesprochen werden. [5] Hierzu gehört z.B. dies: »Regel 3.1: Fertige stets eine (optionsneutrale) pointierte Zusammenfassung des zu untersuchenden Textes an!« (41) oder »Regel 4: Erarbeite stets eine Basis-Interpretation des jeweiligen Textes!« (42) Das Gros der Empfehlungen zielt darauf ab, von einem aufmerksamen close reading des Textes auszugehen, sich zunächst »möglichst ausschließlich auf den jeweiligen Text zu konzentrieren« (40) und auf Basis einer nicht-selektiven Datenerhebung eine Interpretation zu erarbeiten, die »überzeugende und textkonforme Lösungen für alle kognitiven Deutungsprobleme liefert« (43). Sodann ist die »Beschaffenheit des vorliegenden Textes […] durch Bildung von Hypothesen über die Textprägenden Instanzen [scil. Literaturprogramm, Textkonzept und Überzeugungssystem des Autors, P.R.] verstehend zu erklären.« (39)
Ein dem eigenen Anspruch nach mustergültiges Beispiel »kognitiver Textarbeit« legen TRS nun mit ihrer Sandmann-Deutung vor. Zunächst wird im Rahmen der sog. »Basis-Analyse« (50-59) eine Zusammenfassung aller relevanten Textdaten vorgenommen und die Frage nach dem »Textwelttyp« von Der Sandmann aufgeworfen (die Taxonomie umfasst folgende Möglichkeiten: »natürliche Textwelt«, »Textwelt mit übernatürlichen Komponenten« sowie »Textwelt mit unbestimmbarem Status« [58]). Anschließend wird ein »Optionenvergleich« durchgeführt, d.h. es wird eruiert, welche Hypothesen über die allgemeinen künstlerischen Ziele des Autors überhaupt denkbar sind. Anschließend wird in einem »textbezogenen Vergleichstest« geprüft, »welche Option am besten zum festgestellten Textbestand passt und die Textbeschaffenheit am zwanglosesten erklärt.« (43)
Das zentrale Deutungsproblem (vgl. 12-14 u. 60-79) besteht beim Sandmann nach TRS (auch ausweislich der Forschungsliteratur) in der Frage, ob eine psychologische (Clara sieht die Dinge richtig, Nathanael leidet an Wahnvorstellungen – es handelt sich um eine »natürliche Textwelt«), eine dämonologische (Clara täuscht sich, Nathanael sieht die Dinge richtig: Ein Dämon will seine Existenz vernichten – es handelt sich um eine »Textwelt mit übernatürlichen Komponenten«) oder eine Deutung adäquat ist, die davon ausgeht, dass nicht zu entscheiden ist, ob Clara oder Nathanael die Dinge richtig sieht (Unentscheidbarkeitsansatz – es ist nicht entscheidbar, welcher Textwelttyp vorliegt). Während die erstgenannten Ansätze davon ausgehen, dass die verstehend zu erfassenden Texttatsachen nur aus ihrer Warte vollständig zu erklären sind, geht der letztgenannte davon aus, dass beide Deutungsansätze gleichermaßen gut erklären können, was in der Textwelt vor sich geht. Der »Unentscheidbarkeitsansatz« besagt hierbei, dass es keine Daten gibt, die durch eine der anderen Optionen nicht befriedigend erklärt werden könnten. Wenn es aber solche Daten gibt, so sprechen diese auch gegen den »Unentscheidbarkeitsansatz«, der ja besagt, dass alle Daten durch den psychologischen und durch den dämonologischen gleichermaßen gut erklärt werden können. Anders gewendet: Der »Unentscheidbarkeitsansatz« ist nicht vereinbar mit Daten die nur von einem der beiden Ansätze erklärt werden können und also gegen einen der beiden Ansätze sprechen. Oder noch anders: Wenn sich der Nachweis führen lässt, dass Textdaten durch einen der beiden erstgenannten Optionen nicht befriedigend erklärt werden kann, so ist damit auch der »Unentscheidbarkeitsansatz« hinfällig.
Zu kombinieren wären alle drei (sich offensichtlich ausschließenden) Optionen mit der Annahme eines versteckten zusätzlichen Sinns, also mit einer allegorischen Tiefeninterpretation. Als fünfte Deutungsoption wird schließlich die Position des radikalen Interpretationspluralismus ins Spiel gebracht, derzufolge auch sich logisch widersprechende Deutungen gleichermaßen im Text angelegt seien, mithin gleichberechtigt nebeneinander stehen und durchaus in einer Synthese vereinbar wären. TRS lehnen diese Spielart des Pluralismus ab, haben indes nichts gegen eine gemäßigte pluralistische Sichtweise (vgl. 68 f.) einzuwenden, die die Untersuchung unterschiedlicher Textaspekte und Formen der »Aufbauarbeit« (scil. verschiedene Kontextualisierungen des Textes) gleichberechtigt nebeneinander stellt.
Indem sie die fünf (noch weiter – vgl. die tabellarische Übersicht [79] – differenzierten) Deutungsoptionen in einem »Wettkampf«, der »nach kognitiven Kriterien entschieden« wird, auf ihre »Textkonformität und Erklärungskraft für die Texttatsachen« hin prüfen, gelangen TRS zur Präferenz des in der Forschung kaum vertretenen dämonologischen Deutungsansatzes, der im vierten Kapitel des Buches zu einer »systematischen Interpretation ausgebaut« wird, »die auf alle relevanten Textelemente und Deutungsprobleme eingeht« (14). Es ist wichtig zu sehen, dass es hierbei nicht darum geht, stützende Textbelege aufzufinden, die zur induktiven Bestätigung einer Deutungshypothese dienen können (solche Belege werden sich für jede Option finden lassen), sondern darum – leitend ist hier offenbar die Methodologie des Kritischen Rationalismus –, konsequent ein Konzept der Falsifikation anzuwenden: Einem die eigene Deutung gegen Einwände abschottenden Dogmatismus wird die Forderung entgegengestellt, Hypothesen kritikanfällig zu formulieren und einem strengen Test zu unterwerfen. Es geht demnach darum zu zeigen, dass keine Textinformationen mit dem zu prüfenden Deutungsansatz unvereinbar sind.
Während nun Hoffmanns Überarbeitungen des Textes für den Druck (Tilgung bestimmter Charakteristika des Coppelius) eine psychologische Deutung nahezulegen scheinen, die ja überdies mit dem säkularen Weltbild der Interpreten besser vereinbar ist, gewinnt der dämonologische Deutungsansatz eine gewisse »Anfangsplausbilität« aus der Feststellung, dass in anderen Werken des Autors ein »Zweiweltenmodell« (75-77 u. 81) vorliegt, also eine Organisation der Textwelt, die eine Konfrontation natürlicher und übernatürlicher Ebenen inszeniert.
TRS zufolge gibt es Textbestandteile, die nur durch den dämonologischen Ansatz befriedigend erklärt werden können (d.h. zugleich: andere Deutungsoptionen schwächen): (1) Olimpia wird auch von anderen Menschen (den Besuchern der Teegesellschaften) nicht als Automat erkannt, was (gemessen am zeitgenössisch im Automatengewerbe Möglichen) nur dadurch überzeugend erklärt werden kann, dass es hier nicht mit rechten Dingen zugeht. (2) die narrative Beschreibung des zwischen Coppola/Coppelius und Spalanzani entbrannten Streits um Olimpia spricht (denn: der sonst radebrechende Coppola spricht plötzlich tadelloses Deutsch und Spalanzani nennt ihn ausdrücklich »Coppelius«) für die von Nathanael vermutete Identität des für den Tod des Vaters verantwortlich gemachten Advokaten und des angeblich italienischen Wetterglashändlers. Für die anderen Deutungsansätze bleiben diese Gegebenheiten »Fremdkörper« (183). Diese Einsichten werden anhand weiterer textbezogene Beobachtungen ausgebaut und um plausible Thesen zu den drei textprägenden Instanzen erweitert (80-101). In einer umfassenden Interpretation (106-187; in Petitsatz), bei der jeweils Textpassagen aus Hoffmanns Erzählung in kursiver Schrift wiedergegeben und anschließend kommentiert werden, wird der überzeugende Nachweis geführt, dass keine Textinformationen die präferierte Deutungshypothese widerlegen können, dass es keine Textdaten gibt, die sich gegen den Deutungsansatz sperren. Alle Textelemente lassen sich zwanglos in diesen integrieren, d.h.:
Der Sandmann […] ist eine verschleierte Dämonengeschichte, die zwar über weite Strecken, aber eben nicht durchgängig dem Erzählprinzip des Offenhaltens von Deutungsmöglichkeiten folgt; bestimmte Textelemente sind nur von einem dämonologischen Deutungsansatz auf kognitiv befriedigende Weise erschließbar. (183)
Der Typologie von Deutungsoptionen folgt dann auch die »Kritische Analyse der Sekundärliteratur« (Teil II). Die einzelnen Kapitel sind hierbei strukturell folgendermaßen aufgebaut: Während sich auf der beiliegenden CD die ausführlichen Kommentare (vgl. zu deren Struktur 14 f.) der den einzelnen Deutungsoptionen zugeordneten Sekundärtexte als »Ergänzungen« finden, werden im Buch selbst lediglich Zusammenfassungen ausgewählter Kommentare mitgeteilt, aus denen allgemeine methodologische Kritikpunkte und Forderungen hergeleitet werden. Eingangs wird jeweils auf die numerisch dem Kapitel zugeordneten »Ergänzungen« verwiesen, dem schließt sich eine kritische Würdigung ausgewählter Sekundärtexte an. Sodann werden knapp verschiedene Varianten der jeweiligen Deutungsoption unterschieden (z.B. deren Kombination mit Formen der »Aufbauarbeit«), Vertreter benannt und Hinweise zur jeweils angebrachten Kritikstrategie gegeben. Das Hauptaugenmerk der »methodologischen Kommentare« zu den einzelnen Kapiteln liegt deutlich auf dem Nachweis ›kognitiver Defizite‹ der gesichteten Sekundärtexte. Den ›traditionellen‹ Interpreten wird hier unter anderem bescheinigt, dass sie oft »dogmatisch verfahren und die einmal gewählte Interpretationsstrategie gegen Kritik abschotten«, indem sie die vertretene Option als »evident und alternativlos« darstellen und »vorrangig nach Textelementen« suchen, »die geeignet sind oder zu sein scheinen, den gewählten Deutungsansatz zu stützen« (213 u. 215). Besonders aufschlussreich ist das neunte Kapitel (246-285), das sich den Fragen widmet, wie vorliegende allegorische Deutungen zu beurteilen sind und ob eine solche zusätzliche Deutungsdimension nach ›erfahrungswissenschaftlichen‹ Vorgaben überhaupt möglich ist. Das Urteil über diese Sekundärtexte fällt deutlich aus; sie alle »sind der verdeckt aneignenden Form des allegorischen Interpretierens zuzuordnen und somit im Kern pseudowissenschaftlich« (250). Besonders vernichtend fällt die Kritik bei dem zentralen Bezugstext der Sandmann-Philologie aus: bei Sigmund Freuds Das Unheimliche (1919). TRS können zeigen, dass Freuds ganzes Verfahren »auf eine petitio principii« hinausläuft, »d.h. das zu Beweisende […] als gültig voraussetzt« (256), und im Wesentlichen »pure Spekulation« bleibt (254). [6] Ähnliches lässt sich z.B. für die Deutung Friedrich A. Kittlers zeigen, die überdies mit einer unklaren, uneigentlich-aufgeblähten Sprache aufwartet, die – so meine ich [7] – nichts weniger ist als eine ausgemachte Frechheit und natürlich die Interpretation gegen sachliche Kritik immunisiert. Dessen ungeachtet halten TRS bestimmte Formen der allegorischen Interpretation für »erkenntnismäßig legitim« (285), nämlich solche, die »von einer Rekonstruktion des textprägenden Überzeugungssystems« (der Weltanschauung des Autors) ausgehen und mit der Möglichkeit rechnen, »dass ein literarischer Text eine versteckte zusätzliche Sinnebene aufweist, auf der es dem Autor um die Kritik konkurrierender Überzeugungssysteme geht« (250). Plausibel ist demnach eine Deutung von Der Sandmann als »verschleierte Dämonengeschichte, die auf einer versteckten tieferen Sinnebene den areligiösen Materialismus sowie bestimmte gesellschaftliche Entwicklungstendenzen kritisiert« (285).
Wie bereits angedeutet wird auch dem »radikalen Interpretationspluralismus« eine scharfe Absage erteilt (286-306), ehe in den folgenden Kapiteln zur Möglichkeit von (stets im Kontext einer Gesamtinterpretation zu verortenden) »Aspektinterpretationen« (307-313; vgl. 13 f.), zur »überwiegend deskriptiv-feststellende[n] Textarbeit« (314-320) und schließlich zu verschiedenen »Formen der Aufbauarbeit« (321-359) Stellung bezogen wird. Unter die – der »Basis-Interpretation« chronologisch nachgelagerte – »Aufbauarbeit« wird hier die Einordnung des Textes in bestimmte Kontexte bzw. dessen kontextbezogene Erforschung gefasst: (1) der textgenetische Vergleich mehrerer Textfassungen; (2) die Kontextualisierung im Gesamtwerk des Autors; (3) die biographisch-psychologische Forschung; (4) der Vergleich mit Texten anderer Autoren (Intertextualität; Einflussforschung); (5) die Einbettung des Textes in einen historischen Kontext; (6) die Erforschung der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte eines Textes. In den »methodologischen Kommentaren« der Kapitel 13–18 wird jeweils der zu erwartende Ertrag der verschiedenen Formen der »Aufbauarbeit« diskutiert und – wenngleich diese grundsätzlich alle legitim erscheinen – auf mögliche Schwierigkeiten hingewiesen.
Das neunzehnte Kapitel ist eher ein Platzhalter: Auf zwei Seiten wird auf die sehr ausführlichen Ergänzungen (19-1 bis 19-3 auf der CD) hingewiesen, die den »Nutzen der Kommentare für die Weiterentwicklung der Basis-Analyse und Basis-Interpretation« diskutieren; hier geht es also darum, den positiven Ertrag einer Auswertung der Sekundärtexte für den eigenen Deutungsansatz (Differenzierungen, Präzisierungen) vor Augen zu führen. Damit ist der kritischen Analyse zugleich eine konstruktive Wendung gegeben, die allerdings im zwanzigsten Kapitel sogleich wieder relativiert wird. Abermals wird auf die Exemplarizität des untersuchten Sekundärliteraturkomplexes, die Übertragbarkeit und Verallgemeinerbarkeit der gewonnen Ergebnisse aufmerksam gemacht. Diese werden – wie gesagt – als Beleg genommen für eine »Grundlagenkrise«, in der sich die Textwissenschaft »seit langer Zeit« befinde (263). Diese »von den meisten Literaturwissenschaftlern nicht klar erkannt[e]« (364) Krise wird als methodologische gefasst, die auf das Überwiegen ›aneignender‹ und ›projektiv-aneignender‹ Verfahrensweisen ›traditioneller‹ Interpreten zurückzuführen sei. Mit ihrer eigenen Sandmann-Deutung und der kritischen Diskussion der Sekundärliteratur erheben TRS demgegenüber den Anspruch gezeigt zu haben, »wie man es besser als bisher machen kann« (365). Sie plädieren für eine Auslagerung des nicht wissenschaftsfähigen, mit der Bewältigung lebenspraktischer Orientierungsprobleme befassten Diskurses aus der Textwissenschaft.
Den Abschluss des Buches bildet eine informationswissenschaftlich-zitationsanalytische Studie zum untersuchten Sekundärliteraturkomplex: [8] Untersucht wird u.a., welche Texte oder Autoren am meisten zitiert werden, wobei sich in Zusammenschau mit den Ergebnissen der kritischen Diskussion der Forschung ergibt, dass gerade diejenigen Texte, denen gravierende ›kognitive Defizite‹ nachgewiesen wurden (Freud), über ein erstaunliches Renommee verfügen, aus dem also nicht umstandslos auf den »objektiven wissenschaftlichen Wert« der fraglichen Texte (schon eher auf deren Originalität) zu schließen ist. Im Gegenteil ist davon auszugehen, »dass Leser Texten der Fachliteratur« – gerade den vielzitierten ›Autoritäten‹ – »häufig einen viel zu großen Vertrauensvorschuss geben« (305).
4. Fazit
Dass die ›traditionellen‹ Textwissenschaftler sonderlich dankbar auf Nachweise und Kritik ihrer Fehler durch TRS und deren Belehrungs- bzw. Bekehrungsangebot reagieren werden, muss füglich bezweifelt werden. Hierzu dürfte – abgesehen davon, dass sich die Wenigsten selbst über gut begründete Kritik des eigenen Tuns freuen [9] – nicht unwesentlich der schulmeisterlich-anmaßende Ton beitragen, der gerade bei der Charakterisierung herkömmlicher Interpreten und ihrer Praxis vorherrscht. Mit Selbstlob wird demgegenüber nicht gespart, die »Überlegenheit« gegenüber der »Konkurrenz« über Gebühr exponiert. Natürlich ist dies – also der sich nicht nur mir [10] aufdrängende Eindruck eines Mangels an Bescheidenheit – eher eine Frage des Stils, die aber die Aufnahme auch des sachlichen Gehalts nicht unberührt lassen dürfte. Was die formale Gestaltung angeht, fällt überdies der schematisch-holzschnittartige Aufbau der Kapitel in Teil II, die formelhafte Sprache und die redundante Wiederholung bestimmter Formulierungen negativ auf. (Hiermit ist freilich weniger etwas über die Berechtigung des von TRS erhobenen Anspruchs, als vielmehr über dessen Gefälligkeit bzw. seine faktischen Durchsetzungschancen gesagt.)
Was einen für das Anliegen der Autoren zentralen Punkt – die Diagnose einer »Dauerkrise« (17 f., 24, Kap. 20) der Textwissenschaft angeht, so halte ich den etwas alarmistischen Ausdruck ›Krise‹ (egal ob die fragliche Situation nun durch falsche inhaltliche Zielsetzungen oder die fehlende Orientierung an formalen wissenschaftlichen Standards zurückzuführen ist) in diesem Zusammenhang für unangemessen: Es handelt sich vielmehr um einen aus Sicht der KH unhaltbaren Zustand in einem Kernbereich philologischer Praxis, der offenbar – anders als die Relevanzkrise des Faches – von den wenigstens Literaturwissenschaftlern überhaupt als Krise wahrgenommen wird. Die Vermutung liegt nahe, dass gerade in Reaktion auf die gesellschaftliche Relevanzkrise diejenigen Diskurse bunte (›interessante‹, ›originelle‹) Blüten treiben, die TRS zufolge gerade einer »Verwissenschaftlichung der Textarbeit« (45) und damit einer Überwindung der ›Krise‹ im Wege stehen.
Inhaltlich habe ich wenig einzuwenden (und halte Interpretationskonflikte jedenfalls für eine ertragreiche Lektüre). Durch die praktische Anwendung gewinnt auch die von Tepe vertretene Literaturtheorie/Methodologie ein klareres Profil. Das von TRS beschriebene und überzeugend an Der Sandmann vorgeführte Verfahren der »Basis-Analyse«/»Basis-Interpretation« genügt tatsächlich – zuweilen an der Grenze zur Trivialität – »dem wissenschaftstheoretischen Kriterium der Einfachheit in hohem Maß« (37). Gerade die der groben Orientierung der praktischen Interpretationstätigkeit dienenden »Regeln« sind durchaus sinnvoll. Wenn man den Anspruch erhebt, eine gute (textkonforme, erklärungskräftige) Interpretation vorzulegen, sollte man ungefähr so vorgehen (und gute Literaturwissenschaft hat dies auch immer schon getan). Erfreulich ist auch, dass TRS ausdrücklich didaktische Überlegungen zur »Umsetzung des Optimierungsprogramms in der universitären Lehre« anstellen (vgl. Ergänzung 5-3).
Problematisch finde ich allerdings die hinsichtlich der Chronologie von »Basis-Interpretation« und »Aufbauarbeit« getroffene Festlegung, derzufolge der Einbezug biographisch-historischer Kontextinformationen (Wissen über den Autor) »in der ersten Arbeitsphase so weit wie möglich auszuklammern« (40) sei und in jedem Fall erst nach der ausschließlich textbezogenen Interpretation zu erfolgen habe (vgl. auch die »methodologischen Kommentare« zu Kap. 13-18). Diese Regelung ist m.E. nur auf den Begründungs- nicht aber den Entdeckungszusammenhang sinnvoll anzuwenden; es spricht nichts dagegen, bereits bei der Heuristik der Hypothesenbildung auf besagte Kontextinformationen zu rekurrieren, sofern die so gewonnene Deutungsoption kritikanfällig formuliert sowie anschließend mit den Texttatsachen konfrontiert und auf ihre (Un-)Vereinbarkeit mit diesen geprüft wird.
Auch die selbstbewusste Aussage, dass in der Literaturwissenschaft »kein Modell für die kritische Analyse von Sekundärliteratur« existiert, »das vergleichbar umfassend und leistungsfähig« (17) wäre, ist m.E. nur bedingt zutreffend: Natürlich gibt es bislang keine Untersuchung, die eine vergleichbare Menge Sekundärtexte einer ausführlichen, detaillierten Analyse unterzogen hätte. Was aber das hierbei angewandte »Analysemodell« (treffender beschrieben wäre es als ›Checkliste kritischer Nachfragen‹) betrifft, so sind die Ergebnisse der Studie vor allem auf einer konkreten inhaltlichen Ebene angesiedelt. Allgemeine formale Strukturen literaturwissenschaftlicher Argumentation (und deren Defizite) geraten demgegenüber kaum in den Blick; hier ist das »Modell« offenbar weniger »leistungsfähig« und erreicht nicht das Niveau bzw. die mikrologische Präzision der deskriptiven argumentationsanalytischen Arbeiten Grewendorfs, Beetz/Meggles oder Savignys, zumal diese ja auch Bezüge zwischen den untersuchten Interpretationstexten (Stichwort: A-Argumente) berücksichtigen. Immerhin: Auch wenn die diagnostizierten Mängel – hier reformuliert in der Terminologie der KH – spätestens seit entsprechenden Studien der 1970er Jahre bekannt sind (TRS beziehen sich hier zustimmend auf Kindt/Schmidt 1976; vgl. Ergänzung 5-2), bereichern die Autoren durch ihre kritischen Analysen der Sekundärtexte erheblich unser Wissen über die ›offenbar funktionierende Praxis‹ der Textinterpretation und bringen mit der systematischen Unterscheidung von Deutungsoptionen die vorliegenden Interpretationen zu Hoffmanns Erzählung in eine übersichtliche Darstellung. Entsprechendes wäre zweifellos mit Gewinn auf andere Sekundärliteraturkomplexe zu übertragen und jedenfalls bei der Deutung anderer Texte in vergleichbarer Form praktikabel anzuwenden. Eine Bereicherung speziell für die Hoffmann-Philologie ist hier übrigens die umfangreiche (auf der CD enthaltene) Bibliographie der zu Der Sandmann erschienenen Sekundärtexte.
Philipps-Universität Marburg
Promotionskolleg für Geistes- und Sozialwissenschaften
Anmerkungen
[1] Vgl. nur Axel Spree, Kritik der Interpretation. Analytische Untersuchungen zu interpretationskritischen Literaturtheorien, Paderborn 1995 sowie (als Überblick) Ders., Kritik der Interpretation, in: Thomas Eicher/Volker Wiemann (Hg.), Arbeitsbuch Literaturwissenschaft, Paderborn u.a. 1996, 185-215. [zurück]
[2] Für einen Überblick vgl. Lutz Danneberg/Hans-Harald Müller: Verwissenschaftlichung der Literaturwissenschaft. Ansprüche, Strategien, Resultate, in: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie 10 (1979), 162-191; Thomas Anz/Michael Stark, Literaturwissenschaftliches Interpretieren als regelgeleitetes Verhalten. Kritische Anmerkungen zu einem wissenschaftstheoretischen Projekt, in: DVjs 51 (1977), 272-299, sowie Hans-Harald Müller, Tendenzen der westdeutschen Literaturwissenschaft nach 1965. Dargestellt an den Antworten auf die Probleme einer wissenschaftlichen Textinterpretation, in: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 15 (1984), 87-114. – An (eher) präskriptiven Ansätzen sind u.a. zu nennen Heide Göttner, Logik der Interpretation. Analyse einer literaturwissenschaftlichen Methode unter kritischer Betrachtung der Hermeneutik, München 1973; Walter Kindt/Siegfried J. Schmidt (Hg.), Interpretationsanalysen. Argumentationsstrukturen in literaturwissenschaftlichen Interpretationen, München 1976; Harald Fricke, Die Sprache der Literaturwissenschaft. Textanalytische und philosophische Untersuchungen, München 1977. – Zu den (eher) deskriptiven Ansätzen zählen u.a. Günter Grewendorf, Argumentation und Interpretation. Wissenschaftstheoretische Untersuchungen am Beispiel germanistischer Lyrikinterpretationen, Kronberg im Taunus 1975; Manfred Beetz/Georg Meggle, Interpretationstheorie und Interpretationspraxis. Kronberg im Taunus 1976; Eike von Savigny: Argumentation in der Literaturwissenschaft. Wissenschaftstheoretische Untersuchungen zu Lyrikinterpretationen, München 1976; Els Andringa, Wandel der Interpretation. Kafkas »Vor dem Gesetz« im Spiegel der Literaturwissenschaft, Opladen 1994; Simone Winko, Autor-Funktionen. Zur argumentativen Verwendung von Autorkonzepten in der gegenwärtigen literaturwissenschaftlichen Interpretationspraxis, in: Heinrich Detering (Hg.), Autorschaft. Positionen und Revisionen, Stuttgart/Weimar 2002, 334-354; Thomas Zabka, Pragmatik der Literaturinterpretation, Tübingen 2005; Ders., Interpretationsverhältnisse entfalten. Vorschläge zur Analyse und Kritik literaturwissenschaftlicher Bedeutungszuweisungen, in: JLT 2:1 (2008), 51-69, sowie bedingt die ›Beispiel-Konstruktionen‹ bei Werner Strube, Analytische Philosophie der Literaturwissenschaft. Definition, Klassifikation, Interpretation, Bewertung, Paderborn 1993, und Ders., Die literaturwissenschaftliche Textinterpretation, in: Paul Michel/Hans Weder (Hg.), Sinnvermittlung, Zürich 2000, 43-69. [zurück]
[3] Vgl. hierzu auch Axel Bühler/Peter Tepe/Willie van Peer/Tanja Semlow, Zu Köppes Kritik am Manifest, Mythos-Magazin. Online-Magazin für die Forschungsbereiche Mythos, Ideologie und Methoden, http://www.mythos-magazin.de/erklaerendehermeneutik/tk_thesen.htm (27.6.2010), 9 f. [zurück]
[4] Inzwischen hat Tepe auf einige der von mir vorgetragenen Fragen und Einwände, die sich grosso modo auch auf Interpretationskonflikte beziehen lassen, reagiert und nimmt offenbar an, diese gänzlich ›entkräftet‹ zu haben (vgl. Peter Tepe, Zur Diskussion um die Kognitive Hermeneutik, http://www.mythos-magazin.de/erklaerendehermeneutik/pt_diskussion.htm [27.6.2010], 12-19); ob er damit recht hat (oder nicht), möchte ich an dieser Stelle auf sich beruhen und dem Urteil des Lesers überlassen. Nur soviel: Ich beharre weiterhin darauf, dass die Kognitive Hermeneutik (KH) dazu neigt, die quasi-beobachtende Datenerhebung, näherhin das ›einfache Verstehen des im Text Ausgesagten als immer schon geleistet vorauszusetzen – und damit zu trivialisieren‹. Zu wenig bedacht ist hier, dass schon auf dieser Ebene (bei der »Basis-Analyse«) komplexe kognitive Inferenzprozeduren, »interne Texterklärungen« (Wolfgang Detel) und konstruktive Verstehensleistungen ins Spiel kommen, die dazu führen können, dass schon hinsichtlich der Fragen »Wie ist der Text beschaffen?« bzw. »Was ist in der Textwelt der Fall?« ein Dissens entsteht. Was z.B. berechtigt TRS, aus dem Textbefund »Clara und Nathanael faßten eine heftige Zuneigung zueinander.« zu schließen: »Dass ›eine heftige Zuneigung‹ vorliegt, ist ja nur eine andere Ausdrucksweise dafür, dass eine erotische Beziehung besteht.« (342) Stützt sich diese Inferenz auf die Intuition, das Wissen der Interpreten oder haben sie systematisch zeitgenössische Kontexte (Wörterbücher, Enzyklopädie) bemüht? Ist diese Deutung der Textpassage intersubjektiv zwingend? Texttatsachen als induktive Basis eines Hypothesentests zu verwenden, setzt ja voraus, dass die Datenbasis nicht selbst Gegenstand kontroverser Auslegung ist; genau hier liegt der Hund begraben. [zurück]
[5] Eine ausführlichere Version dieses Abschnitts findet sich auch hier: Peter Tepe/Jürgen Rauter/Tanja Semlow, Regeln und Empfehlungen für die kognitive Textarbeit, http://www.mythos-magazin.de/erklaerendehermeneutik/pt-jr-ts_empfehlungen.htm (27.6.2010). [zurück]
[6] Vgl. für eine wissenschaftstheoretische Kritik der psychoanalytischen Interpretationspraxis auch die Hinweise bei Tilmann Köppe/Simone Winko, Neuere Literaturtheorien. Eine Einführung, Stuttgart/Weimar 2008, 70 f. [zurück]
[7] Erinnert sei in diesem Zusammenhang an Karl Poppers treffsicheres Verdikt über wissenschaftlichen Obskurantismus (zitiert nach Claus Grossner, Verfall der Philosophie. Politik deutscher Philosophen, Reinbek bei Hamburg 1971, 278): »Jeder Intellektuelle hat eine ganz besondere Verantwortung. Er hatte das Privileg und die Gelegenheit, zu studieren; dafür schuldet er es seinen Mitmenschen (oder ›der Gesellschaft‹), die Ergebnisse seiner Studien in der einfachsten und klarsten und verständlichsten Form darzustellen. Das Schlimmste – die Sünde gegen den heiligen Geist – ist, wenn die Intellektuellen versuchen, sich ihren Mitmenschen gegenüber als große Propheten aufzuspielen und sie mit orakelnden Philosophien zu beeindrucken. Wer’s nicht einfach und klar sagen kann, der soll schweigen und weiterarbeiten, bis er’s klar sagen kann. […] Was ich oben (Punkt 1) die Sünde gegen den heiligen Geist genannt habe – die Anmaßung des dreiviertel Gebildeten –, das ist das Phrasendreschen, das Vorgeben einer Weisheit, die wir nicht besitzen. Das Kochrezept ist: Tautologien und Trivialitäten gewürzt mit paradoxem Unsinn. Ein anderes Kochrezept ist: Schreibe schwer verständlichen Schwulst und füge von Zeit zu Zeit Trivialitäten hinzu. Das schmeckt dem Leser, der geschmeichelt ist, in einem so ›tiefen‹ Buch Gedanken zu finden, die er selbst schon mal gedacht hat.« [zurück]
[8] Vgl. hierzu auch Jürgen Rauter, Textvernetzungen und Zitationsnetzwerke, in: Heiner Fangerau/Thorsten Halling (Hg.), Netzwerke. Allgemeine Theorie oder Universalmetapher in den Wissenschaften? Ein transdisziplinärer Überblick, Bielefeld 2009, 247-265. [zurück]
[9] Auch ist mehr als zweifelhaft, ob sich derjenige, der in einem Atemzug von den Defiziten der anderen und den eigenen Vorzügen spricht, sonderlich viele Freunde machen wird; unübertroffen hierzu Dale Carnegie, Wie man Freunde gewinnt. Die Kunst, beliebt und einflussreich zu werden [1936], Frankfurt a. M. 2008. [zurück]
[10] Vgl. auch die in Germanistik 50 (2009), S. 295, publizierte Kurz-Rezension zu Interpretationskonflikte von Christian Sinn, dessen Abneigung sich offenbar einem ähnlichen Lektüre-Eindruck verdankt. [zurück]
2010-07-06
JLTonline ISSN 1862-8990
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