Burkhard Moennighoff
Über den Reiz der Lyrik
Rüdiger Zymner, Lyrik. Umriss und Begriff. Paderborn: mentis 2009. 232 S. [Preis: EUR 32,00]. ISBN: 978-3897856899.
1. Probleme der neueren Lyriktheorie
Die Theorie der Lyrik wird seit geraumer Zeit auf hohem begriffsanalytischem Niveau diskutiert. Im Mittelpunkt steht die Frage nach Bedeutung und Umfang des Ausdrucks ›Lyrik‹. Was ist Lyrik, was fällt unter den Begriff der Lyrik? Diese Diskussion ist bei vielen Beteiligten am Ideal der trennscharfen Begriffsbildung ausgerichtet. Die Vorschläge, die in diesem Zusammenhang gemacht worden sind, wollen nicht allein eine klare Begriffsbestimmung liefern, sondern auch eine deutliche Abgrenzung der Lyrik von anderen Formen der Literatur leisten. Rüdiger Zymners Studie ist eine kritische Auseinandersetzung mit diesen Vorschlägen, ihr Ziel die Überwindung von Schwierigkeiten, die Zymner in der Lyrik-Diskussion entdeckt.
Eines der wiederkehrenden Probleme vieler neuerer Lyrik-Konzepte besteht darin, dass sie entweder Phänomene unter dem Begriff der Lyrik erfassen, die nach Maßgabe des gewöhnlichen Sprachgebrauchs nicht der Lyrik zugezählt werden, oder dass sie Phänomene aus der Lyrik ausschließen, die man ihr wiederum nach Maßgabe des gewöhnlichen Sprachgebrauchs zuzählen möchte. Zwei Beispiele. In Harald Frickes Literaturtheorie ist Lyrik durch Verstöße gegen die Grammatik gekennzeichnet. Der normabweichende Sprachgebrauch in lyrischen Texten richtet sich gegen die Regeln der Phonetik, Phonemik, Graphemik, Morphologie und Syntax. [1] Es ist konsequent, aber kontraintuitiv, dass Fricke denn auch das Typoskriptbuch Abend mit Goldrand von Arno Schmidt wegen seiner vielseitigen grammatischen Abweichungen vom Normdeutsch für Lyrik hält. Dieter Lampings berühmte Bestimmung des Begriffs lyrisches Gedicht als Einzelrede in Versen schließt alle Formen des Dialoggedichts aus. [2] Auf diese und andere Lyrik-Konzepte baut Zymner auf, schränkt sie ein, präzisiert oder erweitert sie. Insofern ist das Buch, ohne darauf angelegt zu sein, auch eine kritische Einführung in den aktuellen Stand der Theoriebildung, die Lyrik betreffend. Zymner ist nicht an einem Lyrik-Begriff gelegen, der zu Definitionsopfern zwingt. Er argumentiert für einen hinreichend allgemeinen und flexiblen Lyrik-Begriff, der den vielfältigen Formen und historisch variablen Erscheinungen der Lyrik gerecht werden soll. Im Einzelnen geht Zymner so vor: Seine Überlegungen gelten zunächst den Merkmalen, die die Gattung Lyrik mit anderen Gattungen teilt; hier geht es um eine Genus-proximum-Bestimmung der Gattung Lyrik. In einem zweiten Schritt werden die differentiae specificae der Lyrik benannt, die sie von anderen Gattungen trennen. Der dritte Schritt integriert die Theorie der Lyrik in die Systematik der Gattungen. In welchem Verhältnis stehen Lyrik, Epik und Drama? Der vierte Schritt fragt nach der Bedeutung, die der vorgeschlagene Lyrik-Begriff für die Konstruktion der Lyrikgeschichte hat. Die hier vorgetragenen Überlegungen sind skizzenhaft ausgeführt; sie haben den Rang von Vorüberlegungen.
2. Unsichere Merkmale der Lyrik
Die Studie setzt mit dem Allgemeinurteil ein, demgemäß es sich bei Lyrik um fiktionale literarische Texte handelt. Lyrik, so Zymner, ist nicht per se fiktional. Sie kann auch nicht-fiktional sein. Die Entscheidung, ob ein lyrischer Text als fiktional oder als nicht-fiktional einzustufen ist, führt zu der Frage nach dem Sprecher des Textes bzw. nach dem Status der Rede im lyrischen Text. Der Sprecher kann der empirische Autor sein, ebenso gut kann es eine erfundene Figur sein, die der Autor sprechen lässt. In beiden Fällen ist es möglich, dass über Erfundenes oder Tatsächliches gesprochen wird. Zymner lässt also authentische Rede des Autors als Möglichkeitsform lyrischer Rede gelten (was nichts über tatsächliche Gefühle oder die persönliche Beteiligung des Autors an der Rede aussagt). Damit schließt er an Ergebnisse von neueren literaturwissenschaftlichen Fiktions- und Fiktionalitätsstudien an [3] und wendet sich gegen die Annahme, der empirische Autor habe sich grundsätzlich von der Rede im lyrischen Text gelöst und die lyrische Rede sei stets eine Form von Rollenrede. [4] Viele Tagebuch- und Briefgedichte geben Zymner Recht. Das Ich, das in ihnen spricht, ist ihr Autor. Während seiner Reise durch die Schweiz im Sommer 1775 hat Goethe ein kleines Gedicht in sein Tagebuch eingetragen (Wenn ich liebe Lili dich nicht liebte). In ihm wird seine Verlobte Lili Schönemann angesprochen. Und zwar durch den Autor selbst.
Bei Lyrik handelt es sich dem common sense gemäß um Texte. Das ist aber, Zymner zufolge, nicht uneingeschränkt der Fall. Auch Schriftzeichen (vgl. Kurt Schwitters i-Gedicht) oder Schriftzeichengebilde (vgl. die Einwortgedichte von Klaus Sinowatz) gehören zur Lyrik, ohne doch Texte in dem Sinn zu sein, wie ihn die Textlinguistik expliziert. Ebenso zählt Zymner phonisch verwirklichte Sprachgebilde zur Lyrik; und zwar nicht nur gesprochene und gesungene Lyrik (Kirchenlied, Poetry Slam), sondern auch orale Poesie wie sie dadaistische Lautgedichte darstellen oder surrealistische Performances von Sprach- und Körperlauten darbieten. Ich unterstützte Zymners Urteil, dass Lyrik graphisch oder phonisch realisiert werden kann, hingegen nicht die weite Umfangsbestimmung des Lyrikbegriffs. Vieles von dem, was Zymner in diesem Begriff enthalten sieht, ist graphische Kunst oder Laut-Experiment, aber nicht Lyrik. Sicherlich gibt es Sprachphänomene, die am Übergang von Lyrik und graphischer Kunst bzw. Lautdichtung stehen. Viele Texte der Konkreten Poesie (die Zymner als Konkrete Lyrik bezeichnet) oder solche aus dem Umkreis von Ernst Jandls Lautdichtung wären hier zu nennen. Und Gebilde wie Christian Morgensterns Fisches Nachtgesang können aufgrund der Werkeinbettung (hier im Rahmen der Galgenlieder) als Lyrik aufgefasst werden. Doch Sprachgebilde wie beispielsweise Franz Mons i-punkt stehen jenseits der Lyrik.
Es ist ein Vorurteil, so Zymner, dass Lyrik stets Teil der Literatur bzw. Kunst ist. Es gibt auch lyrische Texte, die nicht-literarischer Natur bzw. Nicht-Kunst sind: Kinderlyrik, moderne Gebetslyrik, Alltagsreime. Mit dieser These wendet sich Zymner gegen normative und begrifflich enge Konzepte von Literatur bzw. Kunst, die nur solche Erscheinungen berücksichtigen, die aufgrund bestimmter sprachlicher Merkmale oder wegen der Zugehörigkeit zu einem Kanon den Anspruch einlösen, Literatur bzw. Kunst zu sein. Demgegenüber steht ein anti-essentialistischer, relationaler Literaturbegriff, der Literatur nicht durch ein Bündel von Merkmalen bestimmt, sondern sie als eine historisch wandelbare Institution ansieht. Was als Literatur erkannt wird, hängt von kulturellen Mustern der Wahrnehmung und Überzeugung ab, die nicht überzeitlich gelten und starr sind, sondern veränderlich. Was noch gestern als literarisch galt, kann schon morgen als nicht-literarisch gelten und umgekehrt. Mit dieser keineswegs neuartigen, aber sicherlich triftigen Argumentation will Zymner verdeutlichen, dass das Literarischsein kein Definiens des Begriffs Lyrik ist.
Was bestimmt den Begriff der Lyrik, wenn es nicht die Fiktionalität ist, nicht die Textualität und auch nicht die Literarizität? In der herkömmlichen Lyriktheorie ist es vor allem der Vers, der als Kriterium bei der Begriffsbildung herangezogen wird, und auch die Kürze. Beide Kriterien hält Zymner für unzureichend: Sie sind zu eng. Das erste schließt z.B. das Prosagedicht und die Reimprosa aus. In dieser Aussage ist die vielfach umstrittene Voraussetzung enthalten, dass es sich bei beiden Formen um Lyrik handelt. Das zweite Kriterium erfasst zwar typische, nicht aber charakteristische Züge der Lyrik. Lyrische Texte können in einem quantitativen Sinn kurz sein (d.h. sie können ermittelbare mittlere Umfangswerte unterschreiten), sind es aber nicht in jedem Fall. Ebenso können sie in einem qualitativen Sinn kurz sein (d.h. sie können von stilistischen Formen der Konzentration und Konzision oder von Formen der Informationsaussparung Gebrauch machen), sind es aber nicht in jedem Fall.
3. Lyrik stellt Sprache als Medium zur Schau
All das sind Überlegungen mit hinführendem Charakter; sie dienen zur Vorbereitung von Zymners zentralem Theorem:
Lyrik ist diejenige Gattung, die Sprache als Medium der sprachprozeduralen Sinngenese demonstriert bzw. demonstrativ sichtbar macht, die mithin den Eigensinn von Sprache vorzeigt, Lyrik ist als diejenige Gattung zu bezeichnen, deren generisches Charakteristikum darin besteht, ein Display sprachlicher Medialität zu sein. (96 f.)
Mit anderen Worten: Lyrik ist Zurschaustellung von Sprache als Medium von Sinnhaftigkeit. Bei Lyrik handelt es sich um Sprachgebilde, die die Aufmerksamkeitslenkung des Rezipienten in Richtung auf ihre sprachliche Medialität mit dem Ziel provozieren, Sinn zu generieren. Das ist kognitionswissenschaftlich gedacht. Lyrik enthält Elemente der Stimulation, die den Rezipienten fesseln. Solche Elemente der Auffälligkeit – Zymner nennt sie »Attraktoren« – sind auf der ganzen Breite der Organisationsformen von Lyrik angesiedelt. Es kann sich dabei um Reime, Vers- und Strophenformen, die gewählten Wörter, Satzstrukturen, Tropen, Erscheinungen von Intertextualität usw. handeln. Die Elemente irritieren den Rezipienten und lösen eine Verstehensbemühung aus. Diese Wirkungsweise von Lyrik ist von einer weiteren nicht zu trennen. Zymner sieht sie in der Auslösung einer Sinnerfahrung bzw. einer ästhetischen Evidenz, eines meditativen, nach innen gerichteten Erlebnisses. Damit gibt Zymner zu verstehen, dass die Konstruktion von Sinn, die durch die Wahrnehmung von Lyrik ausgelöst wird, nicht allein im reflexiven Verstehen, sondern auch in sinnlicher Partizipation (im »Mitschwingen«) besteht (vgl. 138).
Das Spezifische der Lyrik besteht Zymner zufolge nicht in der Selbstreferentialität des sprachlichen Zeichens, wie es die linguistische Poetik in der Nachfolge Roman Jakobons lehrt. Die Zeichenverwendung in der Lyrik ist nicht selbstbezüglich, sondern richtet sich auf einen zu generierenden Sinn. Ebenso wenig besteht das Spezifische der Lyrik in der Abweichung von grammatischen Regeln, wie es die Deviationspoetik lehrt, sondern in einer bestimmten Art der Reizausübung auf den Rezipienten. Lyrik ruft einen Einstellungswechsel zu einer ästhetischen Lektüre hervor. In dem längsten Kapitel des Buchs wird dieses gattungstheoretische Argument einer gattungssystematischen Überprüfung ausgesetzt.
4. Lyrik im Gattungssystem
Gattungen sind historisch und kulturell relative Kategorien; Gattungsbegriffe werden anhand von Prototypen (besten Beispielen) erworben. So lehren es Entwicklungspsychologie und Kognitionswissenschaft, und Zymner folgt ihnen in diesem Punkt. Gattungssysteme sind keine aristotelischen Klassifikationen mit wohlunterschiedenen und wohlunterscheidbaren Feldern. Vielmehr sind sie um begriffliche Zentren herum gebildet, an deren Rändern es Übergänge, Ausfransungen und Überschneidungen gibt. Zymner sieht Lyrik denn auch nicht als ein diskretes Feld der Literatur an. Er setzt Lyrik zu anderen Gattungen ins Verhältnis, ohne dabei scharfe Grenzen zu postulieren.
Lyrik kann erzählerischen Charakter haben. Balladen, Romanzen und andere Formen des Erzählgedichts sind die bekannten Beispielfälle. Aber auch ein Gedicht wie Goethes Willkommen und Abschied weist eine narrative Struktur insofern auf, als es serielle, entfaltende Rede über nicht-aktuelle Sachverhalte ist. Dennoch ist der Text als Lyrik identifizierbar. Das konzentrierte Vorkommen einer variantenreichen Vielzahl von metrischen und stilistischen Erscheinungen überlagert den narrativen Modus und lenkt die Aufmerksamkeit auf die Medialität des Gedichts. Es handelt sich um epische Lyrik. In Bürgers Lenore überlagert die narrative Struktur die lyrikindizierenden Sprachelemente. Der Text ist ein Fall von lyrischer Epik.
Ebenso wie zwischen Lyrik und Epik, so besteht zwischen Lyrik und Drama ein Kontinuum von Phänomenen des Übergangs. Zymner spricht von szenischer Lyrik in solchen Fällen, in denen dialogische Konfigurationen ein lyrisches Gebilde mitbestimmen, ohne es strukturell zu dominieren (Maria Luise Kaschnitz: Die Wirklichkeit) und ohne die Inszenierung zu bezwecken. Gedichte mit eingeschaltetem Nebentext sind schon auf dem Weg zum lyrischen Drama, das Zymner wiederum im polymetrischen Drama mustergültig realisiert sieht. Goethes Dialoggedicht Die Weisen und die Leute enthält eine Reihe von Sprecherangaben, die es wie ein Dramolett in Erscheinung treten lässt und außerdem ein Signal für die szenische Darstellung setzt. Goethes Faust ist von einer Vielzahl an metrischen und stilistischen Formen gekennzeichnet, die wie bei prototypischen lyrischen Texten eine ästhetische Lektüre bezwecken.
Die Einsicht, dass es Kontinua zwischen den Gattungen gibt, widerspricht nicht der These, dass sich die Prototypen der Gattungen klar voneinander differenzieren lassen. Anders als die Lyrik demonstrieren Epik und Drama nicht ihre sprachliche Medialität, sondern sie bringen auf je eigene Weise eine story zur Geltung. Anders als bei der Lyrik wird der Rezipient von Epik und Drama nicht zu einem Erlebnis der ästhetischen Evidenz geführt, sondern in die Rolle des Beobachters einer räumlich und zeitlich bestimmten Welt versetzt.
Zymner hat ein bemerkenswertes Buch geschrieben. Sein Ertrag ist die theoretische Fundierung eines typologischen Lyrikbegriffs. Es ist wegen der gewählten Begriffswörter (Display, Attraktor, Katalysator) nicht ganz widerstandsfrei zu lesen, bringt aber viele terminologische Unterscheidungen sowie systematische Klärungen ins Spiel und bezeugt eine souveräne konzeptionelle Kraft.
Apl. Prof. Dr. Burkhard Moennighoff
Universität Hildesheim
Institut für deutsche Sprache und Literatur
Anmerkungen
[1] Harald Fricke, Norm und Abweichung. Eine Philosophie der Literatur, München 1981, 116. [zurück]
[2] Dieter Lamping, Das lyrische Gedicht. Definitionen zu Theorie und Geschichte der Gattung, Göttingen 1989, 66-68. [zurück]
[3] Insbesondere Frank Zipfel, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft, Berlin 2001. [zurück]
[4] Vgl. Dieter Burdorf, Einführung in die Gedichtanalyse [1995], Stuttgart ²1997, 194 f. [zurück]
2010-09-28
JLTonline ISSN 1862-8990
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