Olav Krämer
Topoi, Doxa, Inferenzen:
Berührungspunkte zwischen Argumentationstheorie und Literaturwissenschaft
Josef Kopperschmidt (Hg.), Die neue Rhetorik. Studien zu Chaim Perelman. Paderborn/München: Wilhelm Fink Verlag 2006. 437 S. [Preis: EUR 56,00]. ISBN 978-3-7705-4225-3.
Günther Kreuzbauer/Norbert Gratzl/Ewald Hiebl (Hg.), Persuasion und Wissenschaft. Aktuelle Fragestellungen von Rhetorik und Argumentationstheorie. (Salzburger Beiträge zu Rhetorik und Argumentationstheorie, Bd. 2) Wien/Berlin/Münster: LIT Verlag 2007. VII, 338 S. [Preis: EUR 28,90]. ISBN 978-3-8258-9578-5.
Legt man die bisherige Forschung zugrunde, so kann man grob zwei Perspektiven unterscheiden, aus denen in der Literaturwissenschaft Argumentationen zum Untersuchungsgegenstand gemacht werden, mithin auch zwei Erkenntnisinteressen, die einen Rekurs auf Ansätze der Argumentationstheorie motivieren können: [1] Zum einen gibt es historisch und textanalytisch ausgerichtete Untersuchungen, die Argumentationen in literarischen Texten analysieren; [2] zum anderen ist ›Argumentation‹ ein zentraler Begriff in literaturtheoretischen Arbeiten, die die Argumentationsweise von literaturwissenschaftlichen Untersuchungen, insbesondere von Interpretationen, rekonstruieren und kritisch diskutieren. [3] Für Arbeiten der ersten Richtung dürften insbesondere die linguistischen und rhetorischen Zweige der Argumentationstheorie [4] von Interesse sein, insofern nämlich diese ein Beschreibungsvokabular und Analyseinstrumentarium zur Verfügung stellen. Für Untersuchungen der zweiten Richtung hingegen erscheinen vor allem philosophische Ansätze der Argumentationsforschung als relevant, denen es nicht nur um die Deskription, sondern auch um die Evaluation von Argumentationen unter erkenntnis- oder wissenschaftstheoretischen Gesichtspunkten geht.
Im Folgenden sollen zwei jüngere Sammelbände besprochen werden, die aktuelle Ansätze und Entwicklungen in der Argumentationstheorie und der primär argumentativ ausgerichteten Rhetorik vorstellen. Dabei konzentriert sich die Darstellung auf solche Beiträge, die auch im Hinblick auf literaturwissenschaftliche Fragestellungen als relevant erscheinen.
1. Chaïm Perelmans ›Neue Rhetorik‹ und ihre Relevanz für die Textanalyse
Der von Josef Kopperschmidt herausgegebene Sammelband Die neue Rhetorik versammelt, wie der Untertitel sagt, »Studien zu Chaim Perelman«. Der belgische Philosoph Chaïm Perelman hat seine unter dem Titel Nouvelle Rhétorique bekannt gewordene Theorie zuerst 1958 in dem gemeinsam mit der Soziologin Lucie Olbrechts-Tyteca verfassten Werk Traité de l’argumentation. La nouvelle rhétorique vorgestellt und sie in den folgenden Jahrzehnten in zahlreichen Publikationen weiter ausgearbeitet und auf Themen etwa der praktischen Philosophie und der Jurisprudenz angewandt. [5] Neben Stephen Toulmins ebenfalls 1958 erschienenem The Uses of Argument gilt das Werk von Perelman und Olbrechts-Tyteca seit langem als einer der einflussreichsten Entwürfe der modernen Argumentationstheorie. [6]
Die Reihe der Beiträge in dem zu besprechenden Sammelband beginnt mit einem einführenden Text des Herausgebers Josef Kopperschmidt, der unter der Überschrift »Was ist neu an der Neuen Rhetorik?« die grundlegenden Ambitionen und Voraussetzungen sowie zentrale Positionen von Perelmans Konzeption der Rhetorik vorstellt. Ein Beitrag von Marc Dominicy informiert über die Beziehungen zwischen dem Werk Perelmans und dem des Philosophen und Soziologen Eugène Dupréel, bei dem Perelman in Brüssel studierte. Der größte Teil der Aufsätze in dem Band verteilt sich auf die Sektionen II und III. Die Texte der zweiten Gruppe erörtern in systematischer Perspektive verschiedene Aspekte der Perelman’schen Argumentationstheorie; so wird in dem Beitrag von Manfred Kienpointner (»Die Argumentationsmuster der Neuen Rhetorik«, 211-225) die umfassende Typologie von Argumentationsschemata, die oft als das Kernstück des Werks von Perelman und Olbrechts-Tyteca betrachtet wird, vorgestellt und einer knappen kritischen Diskussion unterzogen. Ekkehard Eggs bespricht in seinem umfangreichen Aufsatz (»Die Theorie über das Argumentieren von Perelman und Olbrechts-Tyteca«, 135-209) eine Vielzahl weiterer Einzelaspekte der Argumentationstheorie Perelmans und kritisiert dabei unter anderem seine scharfe Abgrenzung der Argumentation von der logischen Beweisführung (bei Perelman »démonstration« genannt), die dazu geführt habe, dass Perelman die logischen Komponenten vieler Argumentationen übersehen habe (vgl. 135, 164, 182 f.). Die dritte Sektion des Bandes ist der »Wirkungsgeschichte der Neuen Rhetorik« gewidmet; behandelt wird hier die Rezeption des Perelman’schen Werks in der linguistischen Textanalyse, in verschiedenen Gebieten der Philosophie und in der Rechtstheorie. Unter den Autoren der Beiträge sind viele bekannte und renommierte Forscherinnen und Forscher aus dem internationalen und interdisziplinären Feld der Argumentationstheorie, die aus dem Blickwinkel ihrer je eigenen Erkenntnisinteressen und theoretischen Ansätze die Perelman’sche Nouvelle Rhétorique ins Auge fassen; so bietet der Sammelband auch zumindest ansatzweise einen Überblick über verschiedene aktuelle Richtungen der Argumentationstheorie.
Direkte Relevanz für die Literaturwissenschaft besitzt in erster Linie der Beitrag von Ruth Amossy, die bereits mehrere Publikationen zur Argumentation in literarischen und nicht-literarischen Texten vorgelegt hat. [7] Ihr Aufsatz in dem hier besprochenen Sammelband trägt den Titel »Publikum und Topik. Der Beitrag der Neuen Rhetorik zur Textanalyse« (307-332); darin legt sie dar, welche Anregungen sich aus der Neuen Rhetorik von Perelman und Olbrechts-Tyteca für die (primär sprach-, aber auch literaturwissenschaftlich ausgerichtete) Textanalyse gewinnen lassen, wobei sie sowohl nicht-literarische als auch fiktionale literarische Texte als Beispiele heranzieht. Obwohl Perelman selbst der konkreten sprachlichen und diskursiven Gestaltung von Argumentationen kein ausgeprägtes Interesse entgegengebracht habe, lasse sich seine Theorie für die linguistische und literaturwissenschaftliche Textanalyse fruchtbar machen; das liege nicht zuletzt daran, dass die Perelman’sche Sicht auf die Argumentation in wesentlichen Punkten mit bedeutenden Tendenzen der Linguistik und der Literaturtheorie der letzten Jahrzehnte konvergiere, [8] nämlich mit der Hinwendung zur Pragmatik und zu Fragen der Rezeption und der Leserrolle.
Die Anregungen, die die Neue Rhetorik Perelmans laut Amossy für die Textanalyse bereithält, folgen vor allem aus ihrer Konzeption der Rolle des Publikums in der Argumentation. Nach Perelman und Olbrechts-Tyteca besteht das Ziel einer Argumentation darin, die Zustimmung eines bestimmten Publikums zu einer These zu gewinnen; um dieses Ziel zu erreichen, muss der Redner sich seinem Publikum anpassen, indem er als Ausgangspunkte seiner Argumentation solche Tatsachen, Annahmen und Werte wählt, die von seiner Zuhörerschaft akzeptiert werden. [9] Textanalysen, denen es um die Freilegung argumentativer Strategien geht, haben daher nach Amossy vor allem herauszuarbeiten, mithilfe welcher expliziten und impliziten Verfahren in dem Text seine Adressaten entworfen und ›angesprochen‹ werden. Indem die Neue Rhetorik diese Frage nach der textinternen Konstruktion einer spezifischen Hörer- oder Leserschaft in den Vordergrund rücke, treffe sie sich mit Konzeptualisierungen der Leserrolle in der Literaturtheorie, etwa mit Umberto Ecos Theorie des Modell-Lesers. Nach Perelman und Olbrechts-Tyteca nun passt sich der Redner dem von ihm anvisierten Publikum vor allem dadurch an, dass er sich in seiner Argumentation auf Meinungen, Werte und Hierarchien stützt, deren Akzeptanz durch dieses Publikum er voraussetzt. Amossy zufolge können diese verschiedenen Elemente, die bei Perelman als ›Ausgangspunkte des Einverständnisses‹ behandelt werden, als »Teil der Gesamtheit von Meinungen und Überzeugungen« aufgefasst werden, »die das alte Griechenland mit dem Wort doxa bezeichnet« und von der episteme als dem wissenschaftlichen und philosophischen Wissen abgegrenzt hat (323 f.). Zum Bereich der Doxa können nach Amossy neben den von Perelman behandelten Ausgangspunkten der Argumentation auch Stereotype und Klischees gerechnet werden. Um die argumentativen Strategien eines Textes zu erfassen, hat die Analyse demnach auch und vor allem die Instrumentalisierung dieser verschiedenen Arten von Doxa zu untersuchen.
Indem Amossy darlegt, wie die Neue Rhetorik von Perelman für die Textanalyse fruchtbar gemacht werden kann, will sie, wie sie zu Beginn erklärt, zugleich Elemente einer ›Theorie der Argumentation im Diskurs‹ präsentieren. [10] Dabei setzt Amossy offenbar einen besonderen Begriff von Argumentation voraus, den sie in dem Sammelbandbeitrag selbst freilich nur am Rande und eher andeutungsweise einführt, aber in ihrem Buch L’argumentation dans le discours ausführlich vorgestellt hat. [11] Amossy unterscheidet dort zwischen der ›argumentativen Zielsetzung‹ und der ›argumentativen Dimension‹ von Texten. Eine argumentative Zielsetzung besitzen Texte, wenn sie offen und ausdrücklich persuasiven Absichten dienen, also die Zustimmung der Rezipienten zu einer strittigen These erreichen sollen. Über eine argumentative Dimension dagegen verfügt ein Text schon insofern, als mit ihm irgendwie auf die Ansichten oder Einstellungen des Rezipienten eingewirkt werden soll; sie kann sich etwa auch darin manifestieren, dass der Text die Aufmerksamkeit des Lesers auf ein bestimmtes Problem oder eine Frage lenkt, ohne selbst eine Lösung des Problems oder eine Position zu der Frage anzubieten. Eine argumentative Dimension in diesem Sinne weisen nach Amossy alle in einem Kommunikationszusammenhang situierten Texte auf. Mit diesem Verständnis von Argumentation will Amossy eine mittlere Position beziehen zwischen einer traditionellen, engeren Auffassung von Argumentation, wie sie auch noch Perelman voraussetzt, und der Position des ›radikalen Argumentativismus‹ von Jean-Claude Anscombre und Oswald Ducrot, denen zufolge jeder Sprachgebrauch argumentative Züge aufweist. [12] Amossys erweiterter Argumentationsbegriff bzw. ihr Interesse an der ›argumentativen Dimension‹ von Texten liefert auch eine Erklärung dafür, dass viele der Beispieltexte, die sie in ihrem Beitrag heranzieht, keine argumentativen Texte im geläufigen Sinne sind, also nicht auf die Stützung oder Widerlegung einer strittigen These zielen. [13]
Amossys Theorie der ›Argumentation im Diskus‹ ist somit weniger eine Theorie einer speziellen – eben argumentativen – sprachlichen Tätigkeit als vielmehr eine umfassende, pragmatisch ausgerichtete Textlinguistik. Als solche ist sie für die Literaturwissenschaft prinzipiell ebenso von Interesse wie Ansätze der Textlinguistik und Pragmatik im Allgemeinen. Wo die Vorzüge oder Schwächen von Amossys Entwurf im Vergleich mit anderen Ansätzen der Textlinguistik liegen mögen, kann hier nicht diskutiert werden; zu den originellen Zügen ihres Ansatzes dürfte jedenfalls unter anderem die gesteigerte Aufmerksamkeit für die Rolle der ›Doxa‹ gehören. [14] Dagegen spielt die etwa aus narratologischer Sicht interessante Frage, wie (im engen Sinne) argumentative Textpartien in erzählende Texte integriert sein und mit narrativen oder deskriptiven Strukturen verknüpft sein können, [15] bei Amossy kaum eine Rolle.
2. Argumentationstheorie und Inferenzforschung
Der von Günther Kreuzbauer, Norbert Gratzl und Ewald Hiebl herausgegebene Sammelband Persuasion und Wissenschaft ist der zweite Band der Reihe »Salzburger Beiträge zu Rhetorik und Argumentationstheorie«. Der Band soll, so die Herausgeber im Vorwort, einen bestimmten Aspekt der gegenwärtigen Situation der Rhetorik abbilden, nämlich das Spannungsverhältnis zwischen den verschiedenen Ausprägungen von Rhetorik, die heute nebeneinander existieren: Dazu gehören neben einer wissenschaftlich betriebenen ›klassischen Rhetorik‹ etwa universitäre Angebote wie »Public Speaking Training« und die so genannte ›angewandte Rhetorik‹ oder auch ›Ratgeber-Rhetorik‹. Zugleich soll der Sammelband »die Idee der Rhetorik als der Persuasionswissenschaft schlechthin wieder ins Bewusstsein der wissenschaftlichen Öffentlichkeit [...] rücken«. Diese Idee der Rhetorik als einer umfassenden Wissenschaft von allen Arten und Aspekten der Persuasion wird in der Einleitung etwas näher erläutert, wo die Herausgeber angeben, welche Teildisziplinen diese angewandte und umfassende ›Beeinflussungswissenschaft‹ zu umfassen hätte (vgl. 1 f.).
Den so umrissenen Anspruch löst der Band insofern ein, als seine Beiträge tatsächlich sehr vielfältige Aspekte und Ausformungen von Rhetorik und Argumentation behandeln. Man kann dies allerdings auch kritischer ausdrücken und feststellen, dass die Aufsätze in thematischer Hinsicht ein sehr heterogenes Ensemble ergeben und dass zwischen den verschiedenen Abteilungen teilweise kaum Querverbindungen oder Berührungspunkte erkennbar sind. Am Anfang steht ein Beitrag von Christoph Lumer mit dem Titel »Überreden ist gut, überzeugen ist besser! Argumentativer Ethos in der Rhetorik« (7-33), der mithin tatsächlich das Thema »Persuasion« ins Zentrum stellt und Überreden und Überzeugen als zwei mögliche Ziele von Argumentationen miteinander kontrastiert: Auf Überredung ziele eine Argumentation, wenn sie die Akzeptanz einer These durch den Adressaten erhöhen soll, wobei freilich die These auch falsch sein oder die Akzeptanz mit wenig rationalen Mitteln erzeugt werden könne (vgl. 17); ein rationales Überzeugen liege hingegen vor, wenn jemand mit seiner Argumentation dem Adressaten »Material« zu liefern sucht, »mit dem der Adressat sich selbst von der Wahrheit oder Akzeptabilität der These überzeugen kann.« (18). Lumer vertritt im Folgenden die These, dass sowohl in prudentieller als auch in moralischer Hinsicht rationales Überzeugen zwar nicht in allen, aber in den meisten Fällen höher zu bewerten sei als bloßes Überreden. Es folgt eine Sektion mit der Überschrift »Rhetorik in Theorie und Praxis«, in der unter anderem aktuelle Ansätze des Rhetoriktrainings vorgestellt, Ziele und Verfahren moderner Unternehmenskommunikation erläutert und Analysen zur Effizienz rhetorischer Strategien in politischen Fernsehduellen präsentiert werden. Der zweite Teil des Bandes, überschrieben mit »Argumentation allgemein«, bietet in thematischer Hinsicht ein besonders vielfältiges Bild; Aufsätze zur Argumentation in der Werbung und zum Argumentationstraining in der Juristenausbildung stehen neben einer historischen Untersuchung zu »Argumentationsformen bei Platon und Aristoteles« und eher theoretischen Beiträgen über den Zusammenhang von Argumentationsmustern und Inferenzprozessen, über die Bedeutung der Topik sowie über verschiedene Arten der Klassifikation von Argumentationstypen. Die dritte Sektion des Bandes mit dem Titel »Präskriptive Argumentation« schließlich enthält vor allem Aufsätze zu Fragen der moralischen Argumentation und der deontischen Logik.
Die Beiträge in dem Band erscheinen nicht nur in thematischer Hinsicht, sondern auch im Hinblick auf ihren Anspruch und ihr Verhältnis zum Forschungsstand als recht heterogen: Einige Aufsätze stellen in skizzenhafter Weise Forschungsrichtungen oder -themen vor, ohne den Anspruch zu erheben, die Diskussion zu einem spezifischen Problem weiterzuführen; so präsentiert Gregor Kalivoda in seinem Beitrag »Typologie der Topik« (129-142) die Topik als einen in historischer wie systematischer, fachspezifischer wie bereichsübergreifender Perspektive zu analysierenden Gegenstand, indem er einen knappen Überblick über Systematik und historische Entwicklung der Topik-Theorie gibt und eine Reihe von Disziplinen aufzählt, die zu verschiedenen Zeiten Verfahren der Topik genutzt und eigene Fachtopiken ausgebildet haben. Andere Aufsätze hingegen, vor allem die Beiträge zu Fragen der deontischen Logik und der moralischen Argumentation, situieren sich innerhalb hochspezialisierter Forschungsdiskussionen und präsentieren Lösungsvorschläge zu meist eng begrenzten Problemen. – Es sei betont, dass diese Bemerkungen über die Disparatheit der in dem Band versammelten Beiträge kein Urteil über ihre Qualität implizieren sollen; bei diesen handelt es sich durchgehend um instruktive Aufsätze, die meist sorgfältig und auf einem anspruchsvollen Niveau argumentieren. Angemerkt sei nur, dass der Titel des Bandes eine thematische Fokussierung erwarten lassen könnte, die die Zusammenstellung der Texte insgesamt nicht aufweist.
Von Interesse für literaturwissenschaftliche Fragestellungen ist insbesondere der Beitrag von Walther Kindt (»Muster der Alltagsargumentation als Grundlage für Inferenzen«, 111-128), der sich mit theoretischen Grundsatzfragen der Inferenzforschung befasst; Kindt möchte seinen Aufsatz auch als Anregung verstanden wissen, »eine Kooperation von Linguistik und Rhetorik zu beginnen, die dem Ziel dient, den verschiedenen Text- und Kommunikationswissenschaften fundierte Interpretationsmethoden zur Verfügung zu stellen und damit dem Intersubjektivitätsanspruch näher zu kommen« (127). [16] Kindt zufolge leidet ein Großteil der bisherigen Inferenzforschung in Psycholinguistik und Pragmatik an einer mangelnden logischen und kommunikationstheoretischen Fundierung, die sich unter anderem darin manifestiere, dass die Schlussmuster, die komplexen Inferenzen zugrunde liegen, bislang nicht befriedigend innerhalb eines umfassenderen theoretischen Rahmens modelliert worden seien. [17] Bei diesem Projekt einer Modellierung von Inferenzprozessen sei, so Kindt, entgegen einer verbreiteten Ansicht ein Rekurs auf Logik und Argumentationstheorie durchaus sinnvoll. [18] Die speziellere These seines Beitrags zu dem Sammelband besagt, dass viele Inferenzen auf Schlussmustern beruhen, die Mustern der Alltagsargumentation entsprechen und von denen viele bereits im Topoikatalog der Rhetorik von Aristoteles enthalten seien. Zur Unterstützung dieser These zeigt Kindt an einigen Textbeispielen, dass die zu ihrem Verständnis erforderlichen Inferenzen teilweise auf Abduktionsschlüssen beruhen, teilweise auf dem Konsequenztopos oder dem Mehr-Minder-Topos (vgl. 123-126).
Kindts Plädoyer für eine Verbindung von Topos- und Inferenzforschung bleibt in dem beschränkten Rahmen des Aufsatzes notwendig etwas skizzenhaft, und die Diskussionen seiner Beispiele erscheinen nicht alle gleichermaßen einleuchtend; gleichwohl kann er die generelle Ansicht plausibel machen, der zufolge die Modellierung von Inferenzmechanismen gewinnbringend auf die Forschung zu Mustern der Alltagsargumentation zurückgreifen könne. Folgt man dieser Auffassung, so kann man neben den zwei zu Beginn dieser Rezension genannten Bereichen die Analyse von Inferenzprozessen als ein drittes Feld betrachten, in dem literaturwissenschaftliche Untersuchungen die Argumentationstheorie heranziehen können.
3. Schlussbemerkung
Die Aufsätze von Ruth Amossy und Walther Kindt sind aus einer primär linguistischen Sicht verfasst und umreißen jeweils textanalytische Fragestellungen und Vorgehensweisen, die auch für die Analyse literarischer Texte relevant bzw. auf sie anwendbar sind. Solche Perspektiven wären zu ergänzen durch Überlegungen von literaturwissenschaftlicher Seite, die von spezifischen Diskussionen und Desideraten in der Literaturtheorie ausgehen und die Angebote der Argumentationsforschung auf sie zu beziehen suchen. So wird etwa in der Narratologie seit einiger Zeit verstärkt darüber diskutiert, wie verschiedene ›Texttypen‹ oder ›Diskursmodi‹ innerhalb narrativer Texte voneinander abgegrenzt werden können und wie ihr Zusammenspiel analysiert werden kann. [19] Zu den Texttypen oder Diskursmodi, die dabei angeführt werden, gehört in der Regel auch die Argumentation. Was in diesen narratologischen Erörterungen vergleichsweise wenig Beachtung zu finden scheint, ist die Frage nach der internen Struktur von argumentativen Texten oder Textteilen, also etwa nach den verwendeten Schlussregeln, der Explizitheit von Prämissen und Konklusionen, der argumentativen Funktion bestimmter Wortarten und syntaktischer Formen; Gesichtspunkte dieser Art sind aber in der linguistischen Argumentationsforschung ausführlich untersucht worden. [20] Welche der diversen linguistischen Ansätze freilich für literarische Textanalysen besonders gut nutzbar gemacht werden können, muss sich erst noch erweisen.
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Neuere Deutsche Literatur
Anmerkungen
[1] Die folgende Unterscheidung wird in ähnlicher Weise auch vorgenommen bei: Franz Günter Sieveke, Argumentation als literaturwissenschaftliches Problem, in: Josef Kopperschmidt/Helmut Schanze (Hg.), Argumente – Argumentation. Interdisziplinäre Problemzugänge, München 1985, 137-152, hier 137. [zurück]
[2] Vgl. etwa: Manfred Beetz, Disputatorik und Argumentation in Andreas Gryphius’ Trauerspiel ›Leo Armenius‹, Zeitschrift für Linguistik und Literaturwissenschaft 38/39 (1980), 178–203; Walther Kindt, Argumentationstheoretische Analyse literarischer Dialoge, in: Jean-Marie Valentin (Hg.), Akten des XI. Internationalen Germanistenkongresses Paris 2005 ›Germanistik im Konflikt der Kulturen‹. Bd. 10, Bern u.a. 2007, 253-258. [zurück]
[3] Vgl. etwa die Beiträge in der ersten Sektion des Sammelbandes: Lutz Danneberg/Friedrich Vollhardt (Hg., in Zusammenarbeit mit Hartmut Böhme), Vom Umgang mit Literatur und Literaturgeschichte. Positionen und Perspektiven nach der ›Theoriedebatte‹, Stuttgart 1992; insbesondere: Lutz Danneberg, Einleitung. Interpretation und Argumentation: Fragestellungen der Interpretationstheorie, 13-23. Unter den einschlägigen älteren Untersuchungen vgl. etwa: Günther Grewendorf, Argumentation und Interpretation. Wissenschaftstheoretische Untersuchungen am Beispiel germanistischer Lyrikinterpretationen, Kronberg, Ts. 1975; Walther Kindt/Siegfried J. Schmidt (Hg.), Interpretationsanalysen. Argumentationsstrukturen in literaturwissenschaftlichen Interpretationen, München 1976. [zurück]
[4] Für einen umfassenden Überblick über ›klassische‹ Entwürfe und jüngere Tendenzen in der Argumentationstheorie vgl.: Frans H. van Eemeren/Rob Grootendorst/Francisca Snoeck Henkemans, Fundamentals of Argumentation Theory. A Handbook of Historical Backgrounds and Contemporary Developments, Mahwah, N.J. 1996. [zurück]
[5] Vgl. Ch[aïm] Perelman/L[ucie] Olbrechts-Tyteca, Traité de l’argumentation. La nouvelle rhétorique [1958], Bruxelles ³1976. – Eine deutsche Übersetzung liegt erst seit wenigen Jahren vor; vgl. dies., Die neue Rhetorik. Eine Abhandlung über das Argumentieren, hg. von Josef Kopperschmidt, übersetzt von Freyr R. Varwig in Zusammenarbeit mit dem Hg., 2 Bände, Stuttgart-Bad Cannstatt 2004. [zurück]
[6] Für eine konzise Darstellung dieses Ansatzes vgl.: M[anfred] Kienpointner, [Art.] Nouvelle Rhétorique, in: Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Band 6: Must–Pop, Darmstadt 2003, Sp. 344-352. Vgl. auch: van Eemeren/Grootendorst/Snoeck Henkemans, Fundamentals of Argumentation Theory, 93-128. [zurück]
[7] Vgl. vor allem: Ruth Amossy, L’argumentation dans le discours. Discours politique, littérature d’idées, fiction, Paris 2000; dies., La mise en scène de l’argumentation dans la fiction. Le tract pacifiste de Jacques Thibault, Recherches & Travaux 57 (2000) (Themenheft »De l’argumentation à la fiction. Passages«), 49-62. [zurück]
[8] Diese These hat Amossy bereits ausführlicher in dem folgenden Aufsatz entwickelt, der sich inhaltlich mit ihrem Beitrag zu dem vorliegenden Sammelband überschneidet: Ruth Amossy, Nouvelle rhétorique et linguistique du discours, in: Roselyne Koren/Ruth Amossy (Hg.), Après Perelman. Quelles politiques pour les nouvelles rhétoriques? L’argumentation dans les sciences du langage, Paris 2002, 153-171. [zurück]
[9] Vgl. den Teil »Le point de départ de l’argumentation« in: Perelman/Olbrechts-Tyteca, Traité de l’argumentation. La nouvelle rhétorique, 85–248, vor allem 89-132. [zurück]
[10] Im Text heißt es: »Elemente einer Argumentationstheorie im Diskurs« (308). Im Original dürfte hier – ähnlich wie im Titel einer Monographie von Amossy – »une théorie de l’argumentation dans le discours« gestanden haben. Dies ist eine der nicht wenigen Stellen innerhalb des Beitrags, wo man den Verdacht bekommen kann, dass die Übersetzung ins Deutsche dem Text nicht gut bekommen ist. [zurück]
[11] Vgl. zum Folgenden: Amossy, L’argumentation dans le discours, 24-29. [zurück]
[12] Vgl.: Amossy, L’argumentation dans le discours, 25. – Zu der Theorie von Anscombre und Oswald vgl. etwa: van Eemeren/Grootendorst/Snoeck Henkemans, Fundamentals of Argumentation Theory, 315-322. [zurück]
[13] Eine solche Definition von ›Argumentation‹ (mit geringfügig verschiedenen Akzentsetzungen) findet sich etwa bei: van Eemeren/Grootendorst/Snoeck Henkemans, Fundamentals of Argumentation Theory, 1-5; Ekkehard Eggs, Vertextungsmuster Argumentation: Logische Grundlagen, in: Klaus Brinker/Gerd Antos/Wolfgang Heinemann/Sven F. Sager (Hg.), Text- und Gesprächslinguistik. Linguistics of Text and Conversation, 1. Halbband, (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, Bd. 16.1) Berlin, New York 2000, 397-414, hier 398-400; Clemens Ottmers, Rhetorik [1996], überarb. von Fabian Klotz, Stuttgart, Weimar ²2007, 66-69. [zurück]
[14] Vgl. hierzu auch das von Amossy mitherausgegebene Themenheft »Doxa and Discourse: How Common Knowledge Works« der Zeitschrift Poetics Today 23:3 (2002); darin: Ruth Amossy, Introduction to the Study of Doxa, 369-394; dies., How to Do Things with Doxa: Toward an Analysis of Argumentation in Discourse, 465-487. [zurück]
[15] Vgl. dazu die Schlussbemerkung dieser Rezension. [zurück]
[16] An anderer Stelle hat Kindt ausdrücklich dafür plädiert, die Erträge der text- und gesprächslinguistischen Forschung der letzten Jahrzehnte zu nutzen, um literaturwissenschaftliche Interpretationen mit einer besseren methodischen Fundierung auszustatten; insbesondere die linguistische Argumentationsforschung könne dabei wertvolle Dienste leisten. Vgl.: Kindt, Argumentationstheoretische Analyse literarischer Dialoge, v.a. 253 f. Vgl. auch die modifizierte und erweiterte Fassung dieses Aufsatzes: ders., Konfliktdarstellung und Argumentation in literarischen Texten. Linguistische Analysen an Texten von Sophokles, Goethe, Schiller, Weerth, Kafka, Borchert und Fried, Sprache und Literatur 38:2 (2007), 19-41. [zurück]
[17] Diese Auffassung hat Kindt bereits ausführlicher entwickelt und begründet in: Walther Kindt, Neue Wege der Inferenzforschung, in: Lorenz Sichelschmidt/Hans Strohner (Hg.), Sprache, Sinn und Situation. Festschrift für Gert Rickheit zum 60. Geburtstag, Wiesbaden 2001, 109-124; ders., Zu Theorie und Empirie der Inferenzforschung, in: Inge Pohl (Hg.), Methodologische Aspekte der Semantikforschung. Beiträge der Konferenz ›Methodologische Aspekte der Semantikforschung‹ an der Universität Koblenz-Landau/Abteilung Landau (1996), Frankfurt a. M. u.a. 1997, 35-55. [zurück]
[18] In einem anderen Aufsatz hat Kindt präzisierend hinzugefügt, dass mit dieser Auffassung nicht behauptet werden solle, dass die tatsächlichen Inferenzmechanismen von Rezipienten nach dem Muster von logischen Schlussfolgerungen ablaufen; die These laute vielmehr, dass sich die Inferenzmechanismen mithilfe von logischen Schlussfolgerungen modellieren lassen (vgl. Kindt, Neue Wege der Inferenzforschung, 111, 121). Zu berücksichtigen sei hierbei ferner, dass »es sich bei Inferenzen häufig um nicht-monotone Schlüsse« handle und man demnach »einen für solche Schlüsse geeigneten logischen Apparat verwenden« müsse (ibid., 111). [zurück]
[19] Vgl. vor allem: Monika Fludernik, Genres, Text Types, or Discourse Modes? Narrative Modalities and Genre Categorization, Style 34:1 (2000), 274-292. Fludernik diskutiert einige frühere textlinguistische und narratologische Ansätze zur Unterscheidung zwischen verschiedenen Text- und Diskurstypen und präsentiert dann einen eigenen Ansatz, der zwischen drei klassifikatorischen Ebenen differenziert (›macro-genres‹, ›genres / text types‹, ›discourse modes‹). Unter den ›macro-genres‹ sind zwei, die als ›argumentative‹ und ›reflective‹ bezeichnet werden, als ein ›discourse mode‹ werden ›argumentative passages› genannt (vgl. ibid., 282). – Für eine etwas ältere und grobkörnigere Typologie, auf die auch Fludernik verweist, vgl.: Seymour Chatman, Coming to Terms. The Rhetoric of Narrative in Fiction and Film, Ithaca/London 1990, 6-21. Chatman unterscheidet zwischen ›Narrative‹, ›Argument‹ und ›Description‹ als drei ›text-types‹. [zurück]
[20] Vgl. etwa: Ekkehard Eggs, Grammaire du discours argumentatif, Paris 1994. [zurück]
2010-02-03
JLTonline ISSN 1862-8990
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