Michael Butter
Der deviierende historische Roman
Andreas Martin Widmann, Kontrafaktische Geschichtsdarstellung. Untersuchungen an Romanen von Günter Grass, Thomas Pynchon, Thomas Brussig, Michael Kleeberg, Philip Roth und Christoph Ransmayr. (Studien zur historischen Poetik 4) Heidelberg: Winter 2009. 398 S. [Preis: EUR 42,00]. ISBN 978-3-8253-5610-1.
I. Einleitung
Kontrafaktischen Szenarien erfreuen sich mittlerweile quer durch die Disziplinen großer Beliebtheit. Auch wenn dies insbesondere in Deutschland noch heftig umstritten ist, ist die Konstruktion alternativer Geschehnisse für einige Fächer mittlerweile zu einer Methode geworden. Vor allem anglo-amerikanische Politologen und Historiker entwerfen zunehmend alternative Geschichtsverläufe, um Kausalzusammenhänge und die Handlungsoptionen historischer Akteure besser zu verstehen. Für andere Fächer dagegen sind solche alternativen Geschehensverläufe ein Studienobjekt, d.h. sie erforschen, wie solche Szenarien zustande kommen und welche Funktionen sie erfüllen. So untersucht beispielsweise die Psychologie, wie sich das mentale Durchspielen kontrafaktischer Entscheidungen auf die individuelle Zufriedenheit und auf zukünftige Handlungen auswirkt, während sich die kognitive Linguistik zunehmend mit der Frage beschäftigt, welche Möglichkeiten die Sprache bietet, um Kontrafaktizität auszudrücken und wie sich deren Konstruktion auf unser Denken auswirkt. [1]
Auch die Literaturwissenschaft hat sich in letzter Zeit vermehrt der Erforschung kontrafaktischer Szenarien gewidmet – und zwar denjenigen, die in Erzähltexten entworfen werden, die einen alternativen Geschichtsverlauf und dessen Folgen imaginieren und Welten entwerfen, in denen zum Beispiel die Nazis den Zweiten Weltkrieg gewinnen, die Reformation scheitert und Luther Papst wird oder die Südstaaten im amerikanischen Bürgerkrieg triumphieren. Derzeit kursieren für diese Erzähltexte – meist handelt es sich um Romane, manchmal aber auch um Kurzgeschichten – noch mehrere Termini nebeneinander. Willhelm Füger, der sich als einer der ersten in Deutschland dieser seit den 1950er Jahren weltweit populären Form angenommen hat, spricht wie auch Jörg Helbig vom parahistorischen Roman; der Romanist Christoph Rodiek dagegen verwendet den Terminus Uchronie. Die englischsprachige Forschung zum Thema bevorzugt mittlerweile den Begriff alternate history, nicht zuletzt weil es sich dabei um den Begriff handelt, den die Produzenten und Konsumenten solcher Texte zumeist benutzen. Gleichzeitig werden jedoch Termini wie what-if novels, future-historical novels und alternative history weiter gebraucht. [2]
II. Thesen
Da somit nicht alle Forschung zum Thema unter einem Begriff firmiert, standen Forschende, die sich ins Thema einlesen wollten, bisher vor dem Problem, dass es schwierig war, eine Bibliographie aller einschlägigen Untersuchungen zu erstellen. Es ist ein erstes Verdienst von Martin Widmanns lesenswerter Studie, hier Abhilfe zu schaffen. Sein ausführlicher Forschungsüberblick in Kapitel 3 von Kontrafaktische Geschichtsdarstellung arbeitet die bis 2008 auf Englisch und Deutsch publizierten Studien zum Thema systematisch und nahezu vollständig auf. Einzig Hilary Dannenbergs Coincidence and Counterfactuality (2008) fehlt hier. [3] Zudem liefert Widmann im selben Kapitel überzeugende Argumente dagegen, die zu untersuchenden Texte, wie insbesondere in den USA meist üblich, als ein Subgenre der Science-Fiction-Literatur zu betrachten, und dafür, sie stattdessen als eine spezifische Spielart des historischen Romans zu verstehen.
Schließt Widmann hierbei noch an einige Vorarbeiten an, die dieselbe Klassifizierung vorgeschlagen haben, setzt er sich in anderer Art und Weise dezidiert von sämtlichen bisher zum Thema vorgelegten Studien ab. Alle bisherigen Arbeiten, so Widmann, definieren den Gegenstandsbereich zu eng, da sie sich ausschließlich mit Texten beschäftigen, die alternative Geschichtsverläufe imaginieren:
Als Gemeinsamkeit ist bei aller mangelnden Koordination und Heterogenität der bisherigen Ansätze und des einbezogenen Materials die […] durchscheinende Gleichsetzung (und damit Einschränkung) des Kontrafaktischen auf konjekturalhistorische Entwürfe zu erkennen. (94)
Demgegenüber argumentiert Widmann, dass zum Gegenstandsbereich des kontrafaktischen historischen Romans nicht nur Texte gehören, die tatsächliche Geschehnisse durch alternative ersetzen, sondern auch solche, die alternative Erklärungen für das tatsächlich Geschehene vorschlagen:
Entsprechend muss bei der Betrachtung und Bestimmung des deviierenden historischen Romans [dies ist der Terminus, den Widmann benutzt, um kontrafaktische Geschichtsentwürfe im Bezug zu traditionelleren Formen des historischen Romans zu situieren] das Augenmerk beiden Aspekten gelten, den Ereignissen und ihren kausalen Verknüpfungen. [4]
Kontrafaktische Entwürfe umfassen für ihn somit sowohl die Ersetzung allseits bekannter Fakten als auch die Deutung der bekannten Vorgänge in einer Art und Weise, die dem beim Leser »herrschenden Geschichtsbild« widerspricht (39).
Dementsprechend analysiert Widmann im sechs Kapitel umfassenden Interpretationsteil der Arbeit nicht nur Texte, die alternative Geschichtsverläufe imaginieren – Michael Kleebergs Ein Garten im Norden, Philip Roths The Plot against America und Christoph Ransmayrs Morbus Kitahara –, sondern auch solche, die alternative Deutungen für den tatsächlichen Verlauf der Geschichte vorschlagen – Günter Grass’ Der Butt, Thomas Pynchons Gravity’s Rainbow und Thomas Brussigs Helden wie wir. Auf der Grundlage dieser Interpretationen schlägt er im abschließenden Teil der Arbeit eine »binäre Typologie deviierenden historischen Erzählens« vor (348). In Anlehnung an E.M. Forsters berühmte Unterscheidung von story und plot (derzufolge story die zeitliche Abfolge von Ereignissen betrifft und plot deren kausale Verknüpfung) schlägt Widmann vor, zwischen einem Story-Typus und einem Plot-Typus zu unterscheiden: Bei Texten des Story-Typus wird »ein historisches Ereignis« durch ein anderes ersetzt; bei Texten des Plot-Typus wird »eine historische Ursache ausgetauscht« (348). So wird in Roths The Plot against America (Story-Typus) Lindbergh statt Roosevelt 1940 zum Präsidenten gewählt; in Brussigs Helden wie wir (Plot-Typus) fällt die Mauer wie in der Realität am 9. November 1989, verantwortlich dafür sind aber nicht die Proteste des Volks, sondern der Penis von Brussigs Protagonisten Klaus Uhltzscht. Der Story-Typus weist somit laut Widmann deutliche Parallelen zur Geschichtsschreibung auf, da er wie diese »datierbares Geschehen zur Grundlage hat«; der Plot-Typus ist dagegen von einer »strukturelle[n] Homologie zu Entwürfen der klassischen Geschichtsphilosophie« gekennzeichnet, da er wie diese Kausalzusammenhänge zwischen Ereignissen schafft, aber auch hinterfragt.
Beide Typen des deviierenden historischen Romans entspringen, so Widmanns abschließende These, jedoch derselben Motivation und erfüllen dieselbe kulturelle Funktion:
Gleich welchem speziellen zeitgeschichtlichen oder autobiographisch dimensionierten Impuls sie entspringen, immer scheint sich die kontrafaktische Geschichtsdarstellung einer Kritik prominenter Geschichtsvorstellungen zu verdanken. […] Durch beide Varianten gelangen die Verfasser zu Entwürfen eigener Gegenbilder. Eine Gemeinsamkeit dieser Gegenbilder besteht sichtlich darin, dass sie vorgefundene Interpretationen tatsächlicher historischer Ereignisse im Sinne einer Zwangsläufigkeit derselben in Zweifel ziehen. (350)
III. Kritik
Widmanns Studie ist klar strukturiert, schlüssig argumentiert und äußerst gut lesbar – man merkt dem Buch an, dass sein Autor neben wissenschaftlichen auch literarische Texte schreibt. Die Interpretationen der einzelnen Romane überzeigen durchweg; sie bieten wie im Falle Kleebergs oder Roths Analysen zu bisher noch nicht so häufig behandelten Texten, oder eröffnen wie im Falle Grass’ oder Pynchons neue Perspektiven auf kanonisierte Werke. Wie bereits erwähnt, überzeugt zudem die Situierung des Textkorpus im Kontext des historischen Romans, und der systematische Forschungsüberblick zu konjekturalhistorischen Entwürfen befriedigt ein lange vorhandenes Desiderat. Last but not least treibt Widmann die Forschung zu einem Genre voran, das meines Erachtens noch nicht die kritische Aufmerksamkeit erfahren hat, die es verdient.
Die nun folgenden kritischen Anmerkungen müssen daher vor dem Hintergrund der großen Verdienste des Buchs gesehen werden. Ich möchte mich dabei auf zwei Punkte beschränken, die Ausweitung des Gegenstandsbereichs, die Widmann vornimmt, sowie die Ausklammerung populärliterarischer Texte.
1. Widmanns Entscheidung, nicht nur Texte, die konjekturalhistorische Szenarien entwerfen (Story-Typus), sondern auch solche, die etablierten Deutungen des Geschehen Alternativen entgegensetzen (Plot-Typus), gemeinsam als kontrafaktische historische Romane zu behandeln, ist meines Erachtens problematisch, da sie einen bisher klar umrissenen Gegenstandsbereich aufweicht und die Situierung dieser Texte im Verhältnis zu anderen Typen des historischen Romans erschwert. Widmann kritisiert völlig zu Recht, dass Ansgar Nünning in seiner ansonsten umfassenden Studie zum historischen Roman Texte, die alternative Geschichtsverläufe imaginieren, fast komplett vernachlässigt und sie, ohne dies näher zu begründen, dem Typus des revisionistischen historischen Romans zuordnet (80-81). Laut Nünning zeichnet sich diese Spielart des historischen Romans dadurch aus, dass sie Gegenerzählungen anbietet, bisher als wahr erachtete Erkenntnisse neu perspektiviert und den Erfahrungen traditionell unterdrückter Gruppen wie Frauen oder ethnischer Minderheiten Ausdruck verleiht. [5] Dies scheint mir eine recht adäquate Beschreibung derjenigen deviierenden historischen Romane zu sein, die Widmann dem Plot-Typus zuordnet. Obwohl er Nünnings Studie lobt und dessen Kategorien nicht zurückweist, erörtert Widmann das Verhältnis des revisionistischen Romans im Sinne Nünning zum deviierenden in seinem Sinne leider nicht weiter. Somit bleibt der Eindruck, dass Widmann Nünning lediglich herumdreht: Während Nünning kontrafaktische Texte als eine Ausformung des revisionistischen historischen Romans begreift, kategorisiert Widmann die revisionistische Variante als eine Form des deviierenden Romans. Somit stellt sich die Frage, was mit Widmanns Ausweitung des kontrafaktischen historischen Romans auf den Plot-Typus gewonnen ist und ob es nicht doch sinnvoller wäre, diese Bezeichnung für den Story-Typus zu reservieren und dessen Verhältnis zum revisionistischen historischen Roman Nünnings genauer zu bestimmen.
2. Ist somit einerseits Widmanns Ausweitung des Gegenstandsbereichs problematisch, gilt Ähnliches andererseits für seine Beschränkung auf Werke der »hohen« Literatur. Abgesehen davon, dass eine solche Einengung die problematische und meist rein willkürliche Grenze zwischen »ernsthafter« und »unterhaltender« Literatur zementiert, scheint es kaum möglich, zu einer Poetik des Kontrafaktischen zu gelangen, ohne den Bereich der »populären« Literatur zu berücksichtigen, dem, wenn man die Kategorie für sinnvoll erachtet, die überwältigende Mehrheit der existierenden konjekturalhistorischen Erzähltexte zuzuordnen ist. Berücksichtigt man diese Texte, kann Widmanns These, dass deviierende historische Romane immer vorherrschende Geschichtsbilder kritisieren, nicht mehr uneingeschränkt überzeugen. Die meisten populären kontrafaktischen Romane nämlich stabilisieren durch die Projektion einer (fast immer) dystopischen Gegenwelt, die dem realen Verlauf der Geschichte implizit utopische Züge verleiht, etablierte historische Narrative, indem sie den tatsächlichen Geschichtsverlauf wenn nicht als notwendigen, doch als besten möglichen charakterisieren. [6] Und dies gilt nicht nur für populäre Texte. Auch Roths The Plot against America kann man als Bestätigung des amerikanischen Exzeptionalismus und somit als Affirmation eines weit verbreiteten Geschichtsbilds lesen, da sich im Roman die demokratischen Verfahrensweisen in dem Moment, wo sie wirklich bedroht werden, schließlich doch durchsetzen und die USA anders als Deutschland eben nicht faschistisch werden.
Diese Einwände schmälern jedoch nicht den Wert von Widmanns Studie, die einen wichtigen Beitrag zur Erforschung einer ebenso spannenden wie komplexen Gattung der Erzählliteratur leistet.
Freiburg Institute for Advanced Studies
School of Language and Literature
Anmerkungen
[1] Einen guten Überblick über die Erforschung kontrafaktischer Szenarien in einer Reihe von Disziplinen liefert das von Roland Wenzlhuemer editierte, kürzlich erschienene Sonderheft Counterfactual Thinking as a Scientific Method der Zeitschrift Historical Social Research (34:2 [2009]). [zurück]
[2] Vgl. Wilhelm Füger, Streifzüge durch Allotopia: Zur Topographie eines fiktionalen Gestaltungsraums, Anglia 3/4 (1984), 349-391; Jörg Helbig, Der parahistorische Roman. Ein literarhistorischer und gattungstypologischer Beitrag zur Allotopieforschung, Frankfurt 1988; Christoph Rodiek, Erfundene Vergangenheit. Kontrafaktische Geschichtsdarstellung (Uchronie) in der Literatur, Frankfurt a. M. 1997. Die im englischsprachigen Raum verwendeten Begriffe werden diskutiert in Karen Hellekson, Refiguring Historical Time. The Alternate History, Kent, OH 2001, vor allem 3. [zurück]
[3] Siehe Hilary Dannenberg, Coincidence and Counterfactuality. Plotting Time and Space in Narrative Fiction, Lincoln 2008. [zurück]
[4] Widmann ist sich – wie ich – natürlich vollkommen der Tatsache bewusst, dass Ereignisse und Fakten nicht einfach existieren, sondern bereits das Ergebnisse von Konstruktionsprozessen und Sinngebungen sind. Kontrafaktizität ist daher für ihn der Verstoß »gegen Vorstellungen des Lesers von geschichtlichen Abläufen und gegen Geschichtsbilder mit Objektivitätsanspruch« (36). Aus Gründen der Einfachheit werde ich – wie er – hier jedoch weiter von Fakten und Ereignissen sprechen. [zurück]
[5] Vgl. Ansgar Nünning, Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion. Bd. 1: Theorie, Typologie und Poetik des historischen Romans. Trier 1995, 268-276. [zurück]
[6] Der Psychologe Neal Roese hat dies übrigens bereits vor 15 Jahren erkannt: »Such narratives typically underscore the benefits of living in a liberal-democratic rather than in an authoritarian state, thereby confirming the moral certitude of Western democratic nations. […] By painting a compellingly downward counterfactual portrait of life in a contemporary Nazi state, a convenient cloak is placed over occasionally immoral consequences of American foreign intervention« (Neal J. Roese/James M. Olson, Functions of Counterfactual Thinking, in: N.J.R./J.M.O. [Hg.], What Might Have Been. The Social Psychology of Counterfactual Thinking, NJ 1995, 169-197, hier 190; Hervorhebung im Original). Siehe hierzu ausführlicher aus literaturwissenschaftlicher Perspektive: Michael Butter, The Epitome of Evil. Hitler in American Fiction, 1939-2002, New York 2009, 49-57. [zurück]
2010-08-13
JLTonline ISSN 1862-8990
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