Matthias Beilein

Der Kanon ist immer und überall

Arnulf Knafl/Wendelin Schmidt-Dengler (Hg.), Unter Kanonverdacht. Beispielhaftes zur österreichischen Literatur im 20. Jahrhundert. Wien: Praesens 2009. 154 S. [Preis EUR: € 27,20]. ISBN 978-3-7069-0544-2.

Jürgen Struger (Hg.), Der Kanon – Perspektiven, Erweiterungen und Revisionen. Wien: Praesens 2008. 473 S. [Preis: € 29,20]. ISBN 978-3-7069-0494-0.

Zu rezensieren sind zwei neuere Publikationen zur Kanonforschung. Bedauerlicherweise muss sich die Besprechung des von Arnulf Knafl gemeinsam mit Wendelin Schmidt-Dengler betreuten Sammelwerks Unter Kanonverdacht darauf beschränken, den Band lediglich anzuzeigen. Knafl stellt in seinem knappen Vorwort zwar in Aussicht, dass das Buch »einigen Einblick in die Binnendifferenzierung zur Frage ›Kanon‹ und ›Kanonbildung‹« (8) gebe; tatsächlich handelt es sich aber um eine Sammlung von Fallstudien vorwiegend jüngerer LiteraturwissenschaftlerInnen bulgarischer, rumänischer, russischer, tschechischer, tunesischer, ukrainischer und ungarischer Institute über österreichische Autoren von Hofmannsthal bis Jelinek. An keiner einzigen Stelle im Buch werden ›Kanon‹ oder ›Kanonbildung‹ reflektiert, das Interesse der Beiträger zielt vielmehr auf die behandelten Autoren und ihre Texte. Vom Verdacht, dass sich dieser Band der Kanonforschung widmet, kann man ihn also guten Gewissens freisprechen. Über die Qualität der einzelnen Studien sei damit nichts gesagt. Da sie jedoch nicht in den Gegenstandsbereich einer Zeitschrift fallen, die sich mit Literaturtheorie beschäftigt, muss eine tiefer gehende Beurteilung an dieser Stelle leider ausbleiben.

Dass Kanon tatsächlich immer und in gewisser Weise auch überall ist, belegt der von Jürgen Struger herausgegebene Band. Er geht zurück auf eine Tagung österreichischer und tschechischer Germanisten, die sich mit Perspektiven, Erweiterungen und Revisionen des Kanons beschäftigte. Die Besonderheit dieser Tagung, die sich auch im vorliegenden Tagungsband widerspiegelt, war, dass auf der Tagung vier germanistische Teilfächer beteiligt gewesen sind, mithin ›der Kanon‹ aus mediävistischer, sprachwissenschaftlicher und sprachdidaktischer Perspektive sowie dem Blickwinkel der neueren deutschsprachigen Literatur untersucht wurde. Den größten Anteil an der Publikation umfassen die Beiträge des letztgenannten Faches, die in zwei Sektionen (»Grundsätzliches, Theoretisches, Einleitendes«, 23-118, und »Drinnen, Draußen, Zentren und Peripherien«, 121-297) insgesamt 17 Beiträge versammelt, denen fünf aus der Mediävistik und sieben aus der Sprachwissenschaft und der Sprachdidaktik an die Seite gestellt sind. Diese rund dreißig Beiträge können hier nicht alle einzeln behandelt werden. Ich beschränke mich vor allem auf diejenigen Aufsätze, in denen der Schwerpunkt auf kanontheoretischen Aspekten liegt.

Clemens Ruthner versucht in seinem Beitrag (»›Das Neue ist nicht zu vermeiden‹. Der Literaturkanon zwischen Ästhetik und Kulturökonomie – eine Theorieskizze«, 31-60), die »anwachsende Sekundärliteratur in kulturwissenschaftlicher Zusammenschau konsensfähig« zu machen, um zu einer »zeitgemäßen Definition und Funktionsbestimmung des Kanons zu gelangen« (33). Ergänzt wird diese Harmonisierung verschiedener Ansätze der Kanonforschung um eigene Überlegungen, wobei Ruthner in erster Linie die Kanonkonstitution in Relation zu Bourdieus Kulturökonomie setzt. Ihm gelingt das auf sehr überzeugende und sehr anschauliche Weise: Ob der Kanon dann wirklich »jene Zone der eingeschränkten Produktion« limitiert und damit kanonische Texte »Luxuswaren und Markennamen im Konsumgüterbereich entsprechen«, die »billigen Massenprodukten gegenüberstehen« – Armani versus Jogging-Anzug (55) –, sei dahingestellt: Diese an Bourdieu orientierte Dichotomisierung halte ich, jedenfalls für die Gegenwart, für höchst diskutabel. Gleichwohl ist dieser Beitrag ein sehr hilfreicher Forschungsbericht, der weit über das bloße Referieren der jüngeren deutschsprachigen und angloamerikanischen Kanonforschung hinausgeht.

Mit »›Shakespeare hat alles vorausgewußt‹. Harold Blooms Western Canon aus der Sicht eines österreichischen Germanisten« (61-80) widmet sich Sigurd Paul Scheichl dem wohl prominentesten Beispiel eines dezidiert normativen Kanonverständnisses jüngerer Zeit. Scheichl ist ein wenig erstaunt, dass Blooms Buch nicht übersetzt und im deutschsprachigen Raum kaum zur Kenntnis genommen wurde. Er erklärt dies mit Blooms »anglozentrisch[em] Blick« (64), was mit Sicherheit einer der ausschlaggebenden Gründe gewesen sein dürfte (sein Genius. A mosaic of one hundred exemplary creative minds wurde allerdings ins Deutsche übertragen, obwohl man diesem Band denselben Vorwurf machen kann). Scheichl kann Blooms Polemik »einiges abgewinnen« (65). Dass es sich bei Bloom um einen Formulierungskünstler handelt, steht außer Frage, was freilich die auf der Hand liegenden Schwächen seiner Philippika wider die Revision des Kanons nicht retten kann. Scheichl identifiziert diese vor allem in der Einschränkung seines Korpus auf Texte der Neuzeit und in der Absolutsetzung Shakespeares. Der argumentativen Begründung dieses Korpus dagegen ist er bereit sich anzuschließen. »Es gibt [den Kanon] auf der Basis zeitüberdauernder ästhetischer, intellektueller und humaner Qualität« (70). Worin diese Qualitäten bestehen, darauf können Scheichl und Bloom allerdings nur vage oder metaphorische Antworten geben. »Entscheidendes Kriterium der Kanonizität« sei etwa »die Antwort auf die Frage, wer uns gemacht hat« (71). Der Kanon bestehe aus »Werken jener Autoren und Autorinnen, die alles voraus wissen, deren Werke jederzeit auf uns bezogen werden können, deren Text in unseren Denkprozessen stets präsent ist.« (ibid.) Aber ließe sich so ein Postulat auch nur ansatzweise belegen? Mit Bloom ist Scheichl ferner von der »auschließlichen Gültigkeit ästhetischer Kriterien« überzeugt und geht mit ihm darin konform, dass »allein die Wirkung des Dichters A auf die Dichter B und C [...] A den Weg in den Kanon« ebnen (74). Hier müssen sich beide allerdings fragen lassen, wie sie erstens diese ästhetischen Kriterien (welche?) eigentlich rechtfertigen: Gottsched konnte vielleicht nicht so brillant formulieren wie Bloom, seine Shakespeare-Ablehnung basiert allerdings ebenso auf ästhetischen Kriterien, nur offenbar auf ganz anderen als denen von Bloom und Scheichl. Deswegen sind sie aber nicht falsch. Zweitens halte ich die auf Autoren fokussierte rezeptionsästhetische Kanonbildung in dieser Absolutheit für nicht überzeugend. Wer macht denn die Autoren? Wurde Kafka und Büchner beispielsweise der Weg in den Kanon nicht in erster Linie dadurch geebnet, dass sich Generationen von Philologen um ihr Werk bemüht haben? Ist Shakespeare wirklich deshalb so präsent, weil er auf andere Autoren gewirkt hat oder nicht vielleicht auch deshalb, weil er ständig neu aufgeführt, verfilmt, gedruckt und interpretiert wird? Dass für Scheichl darüber hinaus »die den Kanon konstituierenden Qualitätskriterien« (76) schwer außer Kraft zu setzen seien (»Shakespeare ist ›besser‹ als Grillparzer, Dickens ›besser‹ als Ebner-Eschenbach«, ibid.), klingt für mich so, als sei literarische Qualität objektiv messbar – wenn dem aber so ist, dann hätte ich gerne mehr über diesen Maßstab erfahren. Eigentlich genügt schon ein Blick in die Literaturgeschichte, um die vermeintliche Überzeitlichkeit ästhetischer Maßstäbe in Frage zu stellen: Vor hundert Jahren war Freiligrath ›besser‹ als Heine und Gustav Freytag ›besser‹ als Fontane.

Evelyne Polt-Heinzl sucht in ihrem Beitrag (»Ein steiniger Weg – Wie und warum Literatur von Frauen besonders häufig die Verankerung im Kanon fehlt«, 137-161) nach Gründen, warum Frauen im Kernkanon unterrepräsentiert sind. Zurecht weist sie darauf hin, dass »Fragen der literarischen Qualität bei Autorinnen nicht genauer untersucht bzw. gar nicht gestellt werden« (140), auch wenn die Genderrelevanz bei literarischen Werturteilen hier etwas überpointiert ist. Etikettierungen wie ›Frauenliteratur‹ oder ›Frauenunterhaltungsliteratur‹ behinderten die Kanonisierung, ironische oder satirische Schreibmodi würden nicht erkannt. Polt-Heinzl plausibilisiert ihre Thesen anhand der Rezeption von zahlreichen Autorinnen (u.a Joe Lederer, Elfriede Jelinek und Gisela Elsner). Ihr »Plädoyer für eine andere Lektüre« fällt leider etwas knapp aus – man hätte noch gerne Genaueres über die »feinen Grenzverschiebungen [...], die Autorinnen vornehmen, und die Konstellationen, Szenen und Blickwinkel, die so nur von Autorinnen eingebracht werden« (159) erfahren, besonders inwieweit diese Textmerkmale die Kanonisierung behindern.

Am Beispiel von Reinhard Federmann zeigt Günther Stocker (»Der Fall Federmann oder Wie man außerhalb des Kanons bleibt«, 225-238) Gründe dafür auf, warum ein Autor trotz seiner guten Verbindungen zu Netzwerken wie der Gruppe 47, dem Kreis um Hans Weigel und dem österreichischen P.E.N. heute weitgehend vergessen ist. Stocker erklärt dies in drei Schritten: Erstens seien Federmanns Themen, »die detailreiche und konkrete, nicht allegorische Auseinandersetzung mit der jüngsten österreichischen Geschichte« (227) bei Publikum und Verlagen auf kein Interesse gestoßen; zweitens handele es sich bei ihm in mehrfacher Hinsicht um eine »[p]roblematische Autorschaft« (231): Seine zahlreichen in Koautorschaft entstandenen Werke, seine Vielseitigkeit in der Wahl von Gattungen und Themen und schließlich die Tatsache, dass er neben seiner »ernsthaften literarischen Produktion« (232) zahlreiche Brotarbeiten verfasste, die ihm das Etikett ›Unterhaltungsschriftsteller mit Niveau‹ einbrachten, hätten der Kanonisierung entgegen gestanden. Dass er sich schließlich drittens im Streit zwischen P.E.N. und der neugegründeten GAV auf die ›falsche Seite‹ schlug und Generalsekretär des P.E.N. wurde, hat ihm ferner die teils erbitterte Gegnerschaft der Avantgardisten eingebracht, die sich nach und nach etablierten, während der P.E.N. nach und nach an Einfluss verlor. Aus der Kombination dieser thematischen, gattungstheoretischen und machtgebundenen Faktoren resultiere schließlich die Nichtkanonisierung Federmanns, eine meines Erachtens sehr plausible Fallstudie.

Im Unterschied zu Stockers Beitrag bleibt bedauerlicherweise bei vielen anderen Fallstudien dieses Bandes unklar, was eigentlich gemeint ist, wenn von »Kanon« die Rede ist. Einzelnen Aufsätzen liegt ein allgemeinsprachliches – so es das gibt – Verständnis von Kanon zu Grunde (etwa, wenn in einem Beitrag ›Kanon‹ mit Verweis auf Meyers Großes Taschenlexikon definiert wird), andere Beiträge fassen ihr Kanonkonzept so weit, dass der Begriff fast beliebig auf alle möglichen Arten von Rankings, Listen, Auswahlprozessen oder Konventionen übertragen wird. Maria Winkler etwa versteht unter einem »sprachwissenschaftlichen Kanon« eine »Art Kanon an linguistischem Grundwissen mit einer Terminologie, über die im Wesentlichen Einigkeit herrscht« (411). Hier würde ich einen Begriff wie ›wissenschaftliche Standards‹ eher für angebracht halten. Eva Schörkhuber, die eine sehr interessante Darstellung der Vergabepraxis des Literaturnobelpreises liefert, versteht die von der Schwedischen Akademie ausgezeichneten Autorinnen und Autoren als einen eigenen, nämlich den »Nobel-Kanon[]« (94), ohne genauer zu erläutern, auf welchem Kanon-Konzept diese Begriffsverwendung basiert. Schon allein der Tatsache wegen, dass eine Auszeichnung mit dem Nobelpreis nicht unbedingt die Kanonisierung nach sich zieht, halte ich das für fragwürdig.

Auch die vielfältigen Prozesse, die an der Kanonisierung von Autoren oder Texten beteiligt sind, werden nicht immer angemessen reflektiert, etwa wenn es bei Jürgen Eder [1] heißt, Durs Grünbein werde von der FAZ »kanonisch geschrieben« (118) oder bei Kristýna Slámová, man solle die Kanonisierung wie die Interpretation von Texten »jedem Einzelnen überlassen« (384).

Simone Winko beschloss vor Kurzem eine Tagung mit den Worten: »Kanon ist immer«. [2] Ihr ging es dabei vermutlich eher um das nicht zu steuernde Moment seiner dynamischen Konstituierung und weniger um die Persistenz seiner vermeintlichen Normativität oder seine Allgegenwart, wovon viele der hier versammelten Beiträge ausgehen.

Als Fazit lässt sich festhalten, dass neben manchen für die Kanonforschung interessanten Beiträgen viele Aufsätze stehen, die als Fallstudien konzipiert sind und kanontheoretische Erwägungen weitgehend ausblenden. Vom Kanon ist in der Tat viel die Rede in diesem Band – doch nicht alles, was Kanon genannt wird, verdient auch diese Bezeichnung.

Dr. Matthias Beilein

Georg-August-Universität Göttingen

Seminar für Deutsche Philologie

Anmerkungen

[1] Das in diesem Beitrag erwähnte Göttinger Promotionskolleg Wertung und Kanon wird, dies sei mir erlaubt zu korrigieren, nicht, wie Eder schreibt (114), von Heinz Ludwig Arnold und Gerhard Lauer, sondern von Claudia Stockinger, Simone Winko und Heinz Ludwig Arnold geleitet. [zurück]

[2] Vgl. Katrin Blumenkamp/Sabine Buck/Markus Kessel, Kanon war gestern? Beiträge zur literaturhistorischen und gegenwartsdiagnostischen Aussagekraft der Wertungsanalyse (Conference Proceedings of: Wertung, Kanon und die Vermittlung von Literatur in der Wissensgesellschaft. Tagung des Promotionskollegs VolkswagenStiftung Wertung und Kanon, 5.-7. Februar 2010, Göttingen.), JLTonline (2010), http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0222-001083 (29.04.2010). [zurück]

2010-04-29

JLTonline ISSN 1862-8990

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