Per Röcken

Ein weiterer (vorerst letzter) Beitrag zur Verwissenschaftlichung der Literaturwissenschaft

Peter Tepe, Kognitive Hermeneutik. Textinterpretation ist als Erfahrungswissenschaft möglich. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007. 353 S. [Preis: EUR 29,80]. ISBN: 9783826037092.

1. Vorbemerkung

Nach Jahrzehnte währenden »Theoriedebatten« und »Methodendiskussionen«, nach mehreren deskriptiven, (streng) präskriptiven oder wenigstens implizit normativen (im Wesentlichen jedenfalls gescheiterten) Versuchen, eine ›Verwissenschaftlichung‹ der Literaturforschung herbeizuführen und für das Fach verbindlich durchzusetzen, nach der partiellen Applikation epistemologischer Prämissen psychoanalytischer, marxistischer, formalistischer, strukturalistischer, neo- bzw. poststrukturalistischer, diskurs-, feld- und systemtheoretischer, ethnologischer, medientheoretischer, (radikal) konstruktivistischer, kognitionswissenschaftlicher oder – ein arg diffuses Konzeptschlagwort – ›kulturwissenschaftlicher‹ Provenienz, nach unzähligen ›turns‹ und mehreren, zuletzt seitens der Rezeptionsästhetik und der Empirischen Theorie der Literatur (ETL) programmatisch als ›Paradigmenwechsel‹ inszenierten Versuchen, die Literaturwissenschaft von Grund auf neu zu gestalten, nach Tod und Wiederauferstehung des Autors (und mit ihm seines Werks) sowie nach Krise und Kritik der Interpretation als bislang zentralem philologischen Tätigkeitsbereich gibt es kaum noch Überzeugungen und Aussagen, auf die sich eine dem eigenen Selbstverständnis nach pluralistische, neuerdings zwischen Medienkulturwissenschaft und (Re-)Philologisierung schwankende Literaturwissenschaft einhellig verständigen könnte.

Literaturtheorie, Wissenschaftstheorie und »offenbar funktionierende Praxis« (Simone Winko) bilden ein extrem komplexes, heterogenes und selbst für Experten kaum mehr überschaubares Feld. Im Kampf um die knappen (pekuniären) Ressourcen folgt – der Ökonomie der Aufmerksamkeit entsprechend – eine Innovation auf die nächste, strategisch geschickt werden immer neue (zumeist interdisziplinäre) Forschungsperspektiven eröffnet und verschlagwortet (z.B. als »Poetologien des Wissens« oder »Interkulturalität«), die sich mit einem programmatischen Absetzungsgestus gegen alles verdächtig ›Traditionelle‹ wenden. Zweifellos fördert der additiv und rhizomatisch – möglicherweise sogar chaotisch – vor sich hin wuchernde Tertiär-Diskurs hierbei viel ›irgendwie‹ Interessantes und Geistreiches zutage, während die beteiligten Akteure angesichts der stetig anwachsenden Informationsflut zwischen theoriemüder Melancholie und pragmatisch relativistischer Selbstbeschränkung schwanken. Das Inventar des nicht selten synkretistischen Theorie- oder gar Meta-Theorie-Baukastens des Literaturwissenschaftlers jedenfalls nimmt kontinuierlich zu. Reaktion auf diese Gemengelage und zugleich Teil derselben ist ersichtlich auch Peter Tepes Buch »Kognitive Hermeneutik«.

2. Gehalt und Gestalt

Tepes Buch besteht aus zwei Teilen: (1) Einem mit programmatischem Anspruch vorgetragenen »Plädoyer für ein Umdenken«, in dem das »Konzept der kognitiven Hermeneutik« wissenschaftstheoretisch und methodologisch erörtert, kritisch mit »verwandten Theorien« und möglichen Einwänden konfrontiert sowie schließlich bedeutungstheoretisch fundiert wird. Dieser erste Teil liegt (leider nur) in Buchform vor und umfasst etwa 350 Seiten. Zweitens entwickelt Tepe auf weiteren 200 Seiten eine ausführliche »Kritik konkurrierender Theorien«, wozu neben ›subjektivistischen‹ Spielarten der Hermeneutik (Gadamers philosophische sowie Versionen einer dezidiert literaturwissenschaftlichen Hermeneutik, Rezeptionsästhetik), szientifische (Strukturalismus und ETL) sowie poststrukturalistische (Diskursanalyse und Dekonstruktion) Positionen einer Anti-Hermeneutik gehören. Dieser Teil findet sich auf einer beigefügten CD-Rom, die überdies 193 kleinere, dankenswerter Weise mit einem übersichtlichen Verzeichnis ›verlinkte‹ Texte (im pdf-Format) beinhaltet. Teilweise sind dies Ergänzungen zu einzelnen Abschnitten des Haupttextes, kritische Paraphrasen und Kommentare relevanter Forschungsbeiträge oder bereits an anderer Stelle publizierte, thematisch dem Groß-Projekt zugehörige Texte. Die Gliederung des Haupttextes folgt einerseits klassisch der numerischen nach Kapiteln und Unterpunkten, andererseits werden (jedenfalls im ersten Buch) einzelne (insgesamt 346) Abschnitte, deren Umfang zwischen einigen Zeilen und mehreren Seiten schwankt, (enzyklopädisch) mit einer in Kastenklammern gesetzten Zahl gekennzeichnet, womit zwar die Nachvollziehbarkeit ihrer argumentativen Subordination erschwert wird, zugleich aber die Möglichkeit sich bietet, interne Verweise sehr viel spezifischer und genauer zu gestalten. Die einzelnen Abschnitte sind in sich heterogen: Der in Normalschrift gesetzte Fließtext der Argumentation wird – jeweils in Petitsatz – unterbrochen durch mit Aufzählungszeichen versehene Erläuterungen, Exkurse und (oft unkommentierte) Zitate aus der Forschungsliteratur; überdies wird zuweilen im Anschluss an den jeweiligen Abschnitt auf einen oder mehrere der ergänzenden CD-Rom-Texte hingewiesen, was zwar den Eindruck eines elaborierten, in sich stringenten – wenngleich mitunter stark redundanten – Gedankengebäudes evoziert und verstärkt, zugleich aber den Lesefluss erheblich stört und beim Lesen leicht den Überblick verlieren lässt. Ähnlichen Effekt haben längere (ebenfalls petit gesetzte) Kommentare zu einem oder mehreren Forschungsbeiträgen, bei denen der zitierte Text kursiv, Tepes Anmerkungen mit Einzug recte gesetzt sind. Viele dieser mal kritischen, mal affirmativen Annotationen sind durchaus anregende Lektüre und geben Denkanstöße für die Auseinandersetzung mit bestehenden literatur- oder wissenschaftstheoretischen Konzepten. Tepes Einschätzung, seine Kommentare zu einzelnen Aufsätzen (z.B. zu Werner Strubes »Die literaturwissenschaftliche Textinterpretation« oder Simone Winkos »Autor-Funktionen« [1]) seien mit einer »hochschuldidaktischen« (138) Stoßrichtung verfasst, sofern sie in Seminaren als ergänzende Lektüre für Dozenten wie Studierende dienen könnten, halte ich für durchaus angemessen. Deutlich zeigt sich jedenfalls der Versuch, Vollständigkeit bei der Diskussion möglicher Einwände, Alternativen und Positionen anderer anzustreben, um damit in der Debatte das letzte Wort zu behalten. Positiv ist daran, dass die Stellungnahmen zu Publikationen anderer (zumal diese ausführlich zitiert werden) beiläufig einen ordnenden Überblick zum Stand wissenschaftstheoretisch-methodologischer Forschung zur (primär textbezogenen) Literaturwissenschaft vermitteln. Und zweifellos wären derlei Kommentare noch zu vermehren: Interessant stelle ich mir z.B. eine Auseinandersetzung Tepes mit der ›Objektiven Hermeneutik‹ Ulrich Oevermanns vor.

3. Anspruch und Anliegen

Was nun Anspruch und Anliegen Tepes angeht, so ist zunächst das Vorwort des Buches aufschlussreich: Es geht demnach um die theoretisch-terminologische Fundierung, kritische Reflexion bestehender und (normative) Anleitung künftiger literaturwissenschaftlicher Interpretationspraxis, näherhin darum, eine »Interpretationstheorie« vorzustellen, »zu der auch eine Methodologie der Textarbeit gehört, nämlich das Konzept der Basis-Interpretation« (11). Ohne auf Verwendungsweisen des Ausdrucks ›kognitiv‹ im aktuellen literaturtheoretischen Diskurs Bezug zu nehmen (zu erinnern ist hier an das Konzept der »Cognitive Poetics«; vgl. nur die Beiträge in JLT 1.1 (2007) sowie überblickshaft Julia Mansur: Stärken und Probleme einer kognitiven Literaturwissenschaft. In: KulturPoetik 7.1 (2007). S. 107–116), gebraucht Tepe das Wort zur Bezeichnung einer hermeneutischen Praxis, die »strikt auf Erkenntnisgewinn ausgerichtet« (13) ist. Als Hauptaufgabe der Textwissenschaft erachtet er hierbei die deskriptive Erfassung der empirischen Text-Eigenschaften und die interpretatorische Rekonstruktion der (mentalen) Ursachen für eine bestimmte Textgestalt bzw. deren Erklärung. Formen des in diesem Sinne nicht-kognitiven, ›lebenspraktischen‹, introspektiven oder sonstwie instrumentalistischen Textzugangs (von Tepe »projektiv-aneignend« genannt) werden als intersubjektiv nicht verbindlich und daher un- bzw. pseudowissenschaftlich diskreditiert und verworfen. Fragen nach der ästhetischen oder lebenspraktischen Signifikanz, der ethischen Dignität usw. eines Textes gehören demnach »nicht zum kognitiven Diskurs« (ebd.) und eine Vermengung entsprechender Aussagen mit denjenigen, für die legitimerweise ein Erkenntnisanspruch erhoben werden könne, müsse vermieden werden. Tepe richtet sich damit gegen Interpretationsweisen, die den Text durch identifikatorische Sinn-Projektionen als Bestätigungsinstanz eigener Auffassungen (oder elaborierter Theorien) verwenden und für diese dann wissenschaftlichen Geltungsanspruch erheben. Wer sich einmal aus argumentationsanalytischer Perspektive mit der Rekonstruktion ›traditioneller‹ literaturwissenschaftlicher Praxis befasst hat, wird diesen Kritikpunkt – Tepe spricht sehr treffend von einem »Unbehagen an verbreiteten Argumentationsweisen« (26) – leicht nachvollziehen können: Vor allem mehr oder weniger explizit auf (vulgär-)psychoanalytische und/oder (vulgär-)marxistische Grundannahmen Bezug nehmende Text-Interpretationen der 70er und 80er Jahre, aber eben auch viele aktuelle Publikationen weisen entsprechende Passagen en masse auf und sind dabei in ihrer suggestiven Rhetorik bzw. beim Versuch einer Vereinnahmung ›ihres‹ Autors für die eigene (nunmehr gemeinsame) Sache nicht selten äußerst dogmatisch. Zu bedenken ist allerdings, dass auch einer solchen weltanschaulich gebundenen Praxis ein bestimmtes Wissenschaftsverständnis als Bezugsnorm dient: So ist anzunehmen, dass Vertreter einer ›kritischen Wissenschaft‹ die Beantwortung der Frage, ob z.B. Büchners Dramen eine ›falsche Ideologie‹ exemplifizieren (und welche), durchaus als ›wissenschaftlich‹ bezeichnen würden. Die Frage, anhand welcher Kriterien eine Text-Interpretation als wissenschaftlich bestimmt werden kann, erfordert demnach eine Grundsatzentscheidung. Trotz dieser Einschränkung ist ein differenziertes (scil. nicht bloß polemisches) Instrumentarium zur Analyse und Kritik einer in diesem Sinne »projektiv-aneignenden« Vorgehensweise uneingeschränkt wünschenswert (Tepe kündigt hierzu übrigens noch für 2008 einen Band zu »Interpretationskonflikten am Beispiel von E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann« an).

Neben der Kritik etablierter Verfahren und diese anleitender Theorien geht es Tepe darum, eine »lehr- und lernbare Methode der Textinterpretation« zu vermitteln, womit grundsätzlich »das Projekt einer Verwissenschaftlichung« verbunden ist, oder auch: der Anspruch, zeigen zu können, »dass und wie sich die konkrete Textarbeit nach allgemeinen erfahrungswissenschaftlichen Kriterien optimieren lässt« (19). ›Erfahrungswissenschaftlich‹ ist die vorgestellte Hermeneutik insofern, als sie »das Ziel verfolgt, überzeugende Erklärungen für die feststellbare Beschaffenheit literarischer Texte hervorzubringen« (ebd.), indem der durch adäquate Beschreibung erfasste Textbestand »auf Instanzen zurückgeführt« wird, »die als Ursache bzw. Hauptursache der festgestellten Beschaffenheit angesehen werden« (20f.) können. Zu diesen »textprägenden Instanzen« zählt Tepe (neben anderen) auch den Autor und dessen Absichten, will aber zugleich ›den traditionellen‹ Autorintentionalismus überwinden.

Bedeutungstheoretisch ist er orientiert am Standpunkt des »Sinn-Objektivismus«, der Vorstellung also, der – noch weiter in einen »Textwelt-« und einen »Prägungs-Sinn« differenzierte – Textsinn sei als objektive Gegebenheit im Text selbst enthalten und werde nicht erst von Rezipienten jeweils neu gebildet, weshalb nicht jede Sinnzuschreibung gleichermaßen legitim sei. Trotz seiner moderat pluralistischen Grundhaltung ist Tepe überzeugt (während ich da meine Zweifel habe): »Diese neuartige Kombination wird sich als den konkurrierenden Theorieangeboten überlegen erweisen«, in positiver Aneignung und Modifikation bzw. in negativer Abgrenzung und Widerlegung bestehender Ansätze eine »Neuorientierung« ermöglichen (23) und »einen Ausweg« aus der »desolaten Situation in der Textwissenschaft« (25) aufzeigen.

Bemerkenswert ist der ambitionierte paradigmatische Anspruch – nämlich: eine »neuartige [!] Literaturtheorie« (38) zu entwickeln und damit eine »Umgestaltung der Textwissenschaft« (120) herbeizuführen –, mit dem Tepe auftritt und der streckenweise an die forschungsstrategische Selbstpositionierung Siegfried J. Schmidts (die übrigens eine eingehende wissenschaftssoziologische Untersuchung wert wäre) erinnert. Auffällig sind hier zunächst metonymische Formulierungen wie ›Die kognitive Hermeneutik tut, zeigt, vertritt xy‹, die vergessen machen, dass die Autorität der Ausführungen nicht diejenige einer Institution, sondern die einer einzelnen Person ist. Hinzu kommen kritische Kommentare und Auseinandersetzung mit konkurrierenden Positionen (strategische ›Grabenkämpfe‹ sozusagen), die zumeist auf deren Überwindung oder ›Aufhebung‹ abzielen. Dementsprechend ist auch die Explikation der eigenen Terminologie als eher innovativ (i.e. Abweichungen vom sonstigen Sprachgebrauch werden in Kauf genommen und Ausdrücke explizit als neue Termini eingeführt) und exklusiv (i.e. an den eigenen Theorieansatz gekoppelt) zu bezeichnen. [2]

Anders freilich als die ETL steht die von Tepe propagierte Hermeneutik (verstanden als Theorie des Gegenstandes wie der auf diesen bezogenen Praxis) in einer Tradition, deren wissenschafts- und bedeutungstheoretische Prämissen und Verfahrensweisen im Rahmen einer grundsätzlichen ›Kritik der Interpretation‹ auf nahezu jede erdenkliche Weise problematisiert und in Zweifel gezogen wurden. Tepes Projekt nötigt schon vor diesem Hintergrund (als ein Wieder-Glauben im Sinne Lichtenbergs) einen gewissen Respekt ab und macht en passant deutlich, dass die Verabschiedung des philologisch-hermeneutischen Projekts (und damit seiner wissenschaftshistorischen Wurzeln) in der germanistischen Literaturwissenschaft voreilig stattfand, ohne dass geprüft worden wäre, ob nicht Analyse, konstruktive Kritik und Reform seiner Prämissen und Methoden weit angemessener gewesen wären. Die Auseinandersetzung wurde hier stets dogmatisch, pauschalisierend und auf erstaunlich hohem Abstraktionsniveau geführt. Darüber jedenfalls, dass kaum gesicherte (sozusagen mikrologische) Erkenntnisse darüber vorliegen, was Literaturwissenschaftler eigentlich genau tun, wie sie argumentieren (sollten), wenn sie hermeneutische ›Textarbeit‹ betreiben, kann kein Zweifel bestehen. Gleiches gilt für die Frage, welches Wissenschaftskonzept als normativer Maßstab einer adäquaten Beschreibung und Bewertung dieser Praxis dient bzw. dienen sollte. Immerhin scheint neuerdings das innovative Potential und die Differenzqualität der hermeneutischen Tradition, sozusagen das Neue des Alten in der Forschung auf einem vielversprechenden Reflexionsniveau wiederentdeckt zu werden.

Tepes eigentliche Leistung besteht in diesem Sinne darin, mit ausdrücklich normativem Impetus eine wenngleich nicht in jedem Detail so doch grundsätzlich überzeugende (nämlich explizit begründete, relativ einfache – im Sinne von: voraussetzungsarme –, zweckmäßige sowie klar strukturierte) Auswahl und Anordnung bereits vorliegender Überlegungen (oder besser: deren systematische Integration) vorgeschlagen zu haben. Bedauerlich ist allerdings, dass er hierbei auf eine Einbeziehung der im angelsächsischen Sprachraum – namentlich im Umfeld sprachanalytischer Ästhetik (nachzuvollziehen etwa im Journal of Aesthetics and Art Criticism) – geführten Debatten verzichtet. Gerade hinsichtlich der Diskussion des Autorintentionalismus, den Tepe durch seine explanative »Theorie der textprägenden Instanzen« ersetzen möchte und den er ausgehend von E.D. Hirschs Prinzipien der Interpretation (1972) rekonstruiert, hätten sich hier – dies zeigt neuerdings Carlos Spoerhases Studie Autorschaft und Interpretation (2007) [3] – einige Möglichkeiten (möglicherweise Notwendigkeiten) weiterer Differenzierungen eröffnet.

Primär mit wissenschafts- und gegenstandstheoretischen Fragestellungen befasst, bleiben viele Ausführungen recht allgemein und haben oft den Charakter von (mehrfach wiederholten) projektiven Postulaten. Sieht man von der überzeugend gegen »projektiv-aneignende« Interpretationen und verschiedene Spielarten des »Sinn-Subjektivismus« gerichteten Argumentation ab, so besagt Tepes zentrale (positive) These: »Textinterpretation ist als Erfahrungswissenschaft möglich«. Eine an der stereotypen Verstehen/Erklären-Dichotomie orientierte methodologische Sonderstellungsthese der Geistes- und Sozialwissenschaften wird ausdrücklich zurückgewiesen: Die von der Textinterpretation zu beantwortenden Fragen werden so reformuliert, dass sie grundsätzlich »nach allgemeinen erfahrungswissenschaftlichen Kriterien« (33) mit etablierten Mitteln empirischer Forschung (Beschreibung, Analyse und Erklärung) beantwortet werden können. Sie lauten: (1) »Wie ist der Text beschaffen?« und (2) »Worauf ist es zurückzuführen, dass der Text die festgestellte Beschaffenheit aufweist?«. Als Weg zur adäquaten Beantwortung der zweiten Frage erachtet Tepe [4] die auf bedeutungstragendes Material angewandte hypothetisch-deduktive Methode: Eine Interpretation als Erschließung des objektiv gegebenen Textsinns ist demnach die Erklärung des Textbestands aus bestimmten mentalen Dispositionen des Autors (also nicht nur aus dessen vielfältigen Intentionen), die als »textprägende Instanzen« bezeichnet werden und zu denen (im Einzelfall mehr oder weniger bewusst wirksame) normativ-ästhetische Anschauungen (»Textkonzept« und »Literaturprogramm«) sowie vor allem der weltanschauliche Rahmen (das »Überzeugungssystem«) des Autors gehören. Über die so spezifizierte Position des Autors und die von ihm verfolgten künstlerischen Ziele sollen Hypothesen gebildet und auf ihre (möglichst umfassende) Vereinbarkeit mit dem eruierten empirischen Textbestand (der als Objektivierung ideeller Voraussetzungen des Autors gedacht wird) hin geprüft werden. Man hat den Text verstanden, sobald erklärt wurde, warum und wozu der Autor ihn so und nicht anders gestaltet hat.

Während Beschreibung und Analyse des Textbestands auf das Erfassen des sog. »Textwelt-Sinns« (i.e. bei der Lektüre unmittelbar oder – im Rahmen einer »klärenden Hermeneutik« (215) – inferentiell verstandener Inhalt, sachlicher Informationsgehalt) abzielen, ist das Ergebnis der »erklärenden Interpretation« das Feststellen des sog. »Prägungs-Sinns« (i.e. Tendenz, Stoßrichtung, Aussageabsicht, Positionsgebundenheit): Im Rahmen einer sog. »Basis-Interpretation« ist zu erweisen, dass der Autor mit dem Text (der Einrichtung der »Textwelt«, der spezifischen Funktionalisierung einzelner Textsegmente usw.) ein bestimmtes künstlerisches Ziel verfolgt hat, etwas zeigen oder seine Überzeugungen zum Ausdruck bringen wollte: »Bei jedem einzelnen Textbestandteil oder Textbaustein lässt sich fragen, ob und wie seine konkrete Beschaffenheit mit den als textprägend anzusetzenden Instanzen zusammenhängt. Ziel ist es hier, möglichst viele Bestandteile des literarischen Textes als geprägte, positionsgebundene Elemente zu erkennen.« (175) Hiervon ausgehend sind dann verschiedene (z.B. sozial- oder literarhistorische) Kontextualisierungen des Textes im Rahmen der sogenannten »Aufbau-Arbeit« möglich.

Eine wichtige Eigenschaft des von Tepe postulierten »Prägungs-Sinns« ist nun, dass dieser weniger auf einer semantischen, als vielmehr auf einer pragmatischen Ebene zu verorten ist. (Tatsächlich scheint mir – selbst wenn die Textlinguistik etwa mit dem Konzept der Makro-Proposition versucht hat, satzübergreifende semantische Einheiten zu charakterisieren – grundsätzlich unangemessen, in diesem Sinne von der ›Gesamt-Bedeutung eines Textes oder Werkes‹ zu sprechen.) [5] Textinterpretation ist damit als Sonderfall der Erklärung menschlichen Handelns konzipiert und mit entsprechenden epistemologischen Problemen konfrontiert: Unklar ist u.a., ob und wie (aufgrund welcher theoretischen Annahmen) sich Kausalrelationen zwischen konkrete sprachliche Praxis bezeugenden Artefakten und mental-dispositionellen Zuständen eines Akteurs überhaupt nachweisen lassen. Selbst wenn die Existenz psychischer Instanzen heuristisch unterstellt oder – im Sinne eines intentionalen Realismus [6] – als empirisch fundiert erachtet wird und man dementsprechend zugesteht, dass bestimmte Überzeugungen prägend gewirkt haben, bleibt nach wie vor zu klären, welche Überzeugungen dies jeweils waren. Bei einer solchen Erklärung spielen bekanntlich Rationalitäts-Präsumtionen eine wichtige Rolle. [7] Wie genau der Nachweis geführt werden kann, bestimmte Überzeugungen seien in den Text ›eingeschrieben‹, wäre jedenfalls genauer zu entwickeln. Tepes zutreffender Hinweis, dass es sich hierbei um »eine komplexe konstruktive Leistung« (83) handele, wäre durch eine detaillierte methodologische Rekonstruktion der (qua Objektivierung subjektiver Evidenz) wenigstens partiell zu explizierenden Inferenzprozeduren wie der jeweils aktualisierten Argumentationsstrategien und der beidem zugrunde liegenden allgemeinen Verstehensprinzipien zu konkretisieren. Zu monieren ist, dass Tepe zwar (übrigens mit begrüßenswertem Hinweis auf die hermeneutica universalis der Aufklärung [8]) eine »Methodenlehre« als »Regelhermeneutik« projektiert, in der »Regeln für die erklärende Interpretation« aufgestellt und »technisch-normative Hinweise zur Erreichung von Erkenntniszielen« gegeben werden sollen (81), faktisch aber über recht unspezifische theoretische Aussagen zum »Verhalten des Individuums bei der Textarbeit« (279) kaum hinauskommt. Methodische Regeln werden weder deskriptiv rekonstruiert noch im Sinne einer konkreten Anleitung formuliert.

Was die erfahrungswissenschaftliche Stoßrichtung anbelangt, so scheint mir überdies zu wenig bedacht, dass es um die Erklärung bedeutungstragender (sprachlicher) Gegenstände geht, die nicht (ausschließlich) einfach beobachtet und festgestellt, sondern verstanden werden müssen: Der Modus der sinnlichen Wahrnehmung ist ein anderer, oder genauer: das Komplexitäts-Niveau der ablaufenden Inferenzprozeduren ist ein anderes. Die als empirische Basis der Hypothesenprüfung durch selektive Induktion erhobenen Erfahrungsdaten sind nicht einfach gegeben, sondern das Ergebnis einer Verstehensleistung und einer Relevanzzuschreibung, die jeweils argumentativ zu explizieren (i.e. zu objektivieren) sind. Demgegenüber scheint Tepe das ›einfache Verstehen des im Text Ausgesagten‹ bei der Interpretation als immer schon geleistet vorauszusetzen – und damit zu trivialisieren. Dies hängt ersichtlich mit seiner (nachvollziehbaren) Skepsis gegenüber allen Ausprägungen subjektivistischer Bedeutungstheorien zusammen. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang übrigens auch die dezidierte Ablehnung des (radikalen) Konstruktivismus bzw. jeder idealistischen Erkenntnistheorie – sofern diese ja stets auf den von Tepe attackierten ›Sinn-Subjektivismus‹ hinausläuft – zugunsten eines kritischen Realismus.

4. Fazit

Tepes im Prinzip gut begründetes Plädoyer für den ›Sinn-Objektivismus‹ (wie auch seine Diskreditierung der Gegenposition) steht und fällt mit der Akzeptanz der vorausgesetzten epistemologischen Hintergrundannahmen, der normativen Wissenschaftskonzeption (›Erfahrungswissenschaft‹), der von ihm präferierten Literaturtheorie und seiner eigenwilligen Explikation des Ausdrucks »Sinn«. Von allen Vieren ist – so bedauerlich dies sein mag – zu bezweifeln, dass sie sich im Kanon literaturwissenschaftlicher Glaubenssätze und Grundsatzentscheidungen als verbindlicher Konsens (sofern derlei im faktischen Pluralismus des Faches überhaupt denkbar ist) durchsetzen werden. Mit den genannten Einschränkungen halte ich das Buch dessen ungeachtet für einen in vielerlei Hinsicht anregenden und wichtigen Beitrag zur Debatte um die Möglichkeit einer Verwissenschaftlichung der philologischen Textinterpretation, der in vielen Punkten verdient, eingehender diskutiert und weiter differenziert zu werden. Dies gilt insbesondere für Tepes Konzept der »textprägenden Instanzen«, aber auch für seinen Vorschlag einer Typologie hermeneutischer und anti-hermeneutischer Positionen (276-289).

Per Röcken

Promotionskolleg für Geistes- und Sozialwissenschaften

Philipps-Universität Marburg

Anmerkungen

[1] Gemeint sind: Werner Strube, Die literaturwissenschaftliche Textinterpretation, in: Paul Michel/Hans Weder (Hg.), Sinnvermittlung, Zürich 2000, 43-69, und Simone Winko, Autor-Funktionen. Zur argumentativen Verwendung von Autorkonzepten in der gegenwärtigen literaturwissenschaftlichen Interpretationspraxis, in: Heinrich Detering (Hg.), Autorschaft. Positionen und Revisionen, Stuttgart/Weimar 2002, 334-354. [zurück]

[2] Müsste ich Empfehlungen aussprechen, wie der Theorieansatz der »kognitiven Hermeneutik« forschungsstrategisch noch geschickter zu etablieren wäre, so würde ich zunächst – und zwar ausdrücklich augenzwinkernd – empfehlen, das Adjektiv ›kognitiv‹ mit einem Großbuchstaben zu schreiben bzw. in weiteren programmatischen Veröffentlichungen – und ähnlich wäre bei zentralen Theoriebausteinen zu verfahren – gleich das Kürzel ›KH‹ zu verwenden, ein multiplikatorisches Netzwerk gleichgesinnter Wissenschaftler aufzubauen und mit diesen mehrere Tagungsbände herauszugeben oder noch besser: eine ›Schule‹ zu gründen. [zurück]

[3] Vgl. Carlos Spoerhase, Autorschaft und Interpretation. Methodische Grundlagen einer philologischen Hermeneutik, Berlin/New York 2007, sowie demnächst Paisley Livingston, Authorial Intention and the Varieties of Intentionalism, in: Garry Hagberg (Hg.), Blackwell Companion to Philosophy and Literature, Oxford (im Druck). [zurück]

[4] Vgl. hierzu bereits Dagfinn Føllesdal, Hermeneutik und die hypothetisch-deduktive Methode, in: Axel Bühler (Hg.), Hermeneutik. Basistexte zur Einführung in die wissenschaftstheoretischen Grundlagen von Verstehen und Interpretation, Heidelberg 2003, 157-176, sowie Gerhard Frey, Hermeneutische und hypothetisch-deduktive Methode, Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie 1 (1970), 24-40; vgl. auch Ders., Erklärende Interpretation, in: Roland Simon-Schäfer/Walter Zimmerli (Hg.), Wissenschaftstheorie der Geisteswissenschaften, Hamburg 1975, 71-85. [zurück]

[5] Vgl. hierzu grundlegend Stein Haugom Olsen, The End of Literary Theory, Cambridge 2008, 42-72. [zurück]

[6] Vgl. zum ›intentionalen Realismus‹ auch Axel Bühler, Ein Plädoyer für den hermeneutischen Intentionalismus, in: Maria E. Reicher (Hg.), Fiktion, Wahrheit, Wirklichkeit. Philosophische Grundlagen der Literaturtheorie, Paderborn 2007, 178-198. [zurück]

[7] Vgl. hierzu bereits Axel Bühler, Die Einheit der wissenschaftlichen Methode und Maximen des Verstehens, Zeitschrift für philosophische Forschung 41 (1987), 633-644, sowie vor allem Thomas Bartelborth, Verstehen und Kohärenz, Analyse & Kritik 21 (1999), 97-116; Ders., Coherence and Explanations, Erkenntnis 50 (1999), 209-224; Oliver Robert Scholz, Präsumtionen, Rationalität und Verstehen, in: Julian Nida-Rümelin (Hg.), Rationalität, Realismus, Revision, Berlin/New York 1999, 155-163, sowie natürlich Ders., Verstehen und Rationalität. Untersuchungen zu den Grundlagen von Hermeneutik und Sprachphilosophie, Frankfurt am Main ²2001. [zurück]

[8] Vgl. hierzu grundsätzlich auch Oliver Robert Scholz, Zur systematischen Bedeutung der Aufklärungshermeneutiken, Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 21 (1996), 156-163. [zurück]

2009-04-16

JLTonline ISSN 1862-8990

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