Gabriele Rippl

Ein Standardwerk der modernen Bildtheorie

Lambert Wiesing, Die Sichtbarkeit des Bildes. Geschichte und Perspektiven der formalen Ästhetik. Frankfurt a. M./New York: Campus Verlag 2008. XII, 319 S. [Preis: EUR 19,90]. ISBN: 978-3-593-38636-2.

Warum Bildtheorie?

In der Reihe »rowohlt enzyklopädie« des Rowohlt Taschenbuch Verlags erschien 1997 Lambert Wiesings Band Die Sichtbarkeit des Bildes. Geschichte und Perspektiven der formalen Ästhetik. Unter Rückgriff auf die formale Ästhetik des 19. und 20. Jahrhunderts entwickelt der Philosoph Wiesing grundlegende begriffliche Kategorien für die aktuelle bildtheoretische Debatte. Letztes Jahr, 2008, brachte der Campus Verlag eine Neuauflage von Die Sichtbarkeit des Bildes heraus, die der Verfasser mit einem aktuellen Vorwort versehen hat. Das Buch ist mittlerweile zu einem Standardwerk der Bild- und Kunstwissenschaft geworden und leistet einen wichtigen Beitrag zu den kultur-, literatur- und kunstwissenschaftlichen Debatten der letzten Jahre, die sich um Fragen der visual culture, des pictorial turn und der Intermedialität drehen. Wiesings Name reiht sich damit in eine Liste illustrer Bildtheoretiker wie W. J. T. Mitchell, Hans Belting, Gottfried Boehm und Horst Bredekamp ein, welche die Diskussion um Bilder in den letzten zwei Jahrzehnten nachhaltig geprägt haben.

Mit seiner Aufarbeitung und Fruchtbarmachung der formalen Ästhetik liefert Wiesing das Fundament zu einer philosophischen Bildtheorie, deren Traditionen er aufarbeitet und deren Perspektiven er mit Blick auf die neuen, im 20. Jahrhundert entwickelten Bildformen aufzeigt.

Der Begriff Bildtheorie wird erst seit knapp zehn Jahren vermehrt verwendet. Heute ist er zentral und hebt sich vom inflationär verwendeten Sammelbegriff Bildwissenschaft ab. Während es in der Bildwissenschaft um konkrete Dinge geht – reale Gegenstände werden in ihrer Entstehung, in ihren psychologischen und medialen Voraussetzungen empirisch erforscht – stellt die Bildtheorie die Frage, was alles ein Bild ist. Interessen, Themen und Methoden von Bildwissenschaft und Bildtheorie unterscheiden sich demnach ganz wesentlich, denn die »theoretische Frage nach dem Bild lässt sich nämlich nicht durch empirische Beobachtungen, sondern ausschließlich durch philosophische Arbeit an Begriffen beantworten. [...] In erster Linie geht es der Bildtheorie um den Begriff des Bildes« (IV). Innerhalb der Philosophie entsteht das derzeitige Interesse an der Bildtheorie durch Abgrenzungsversuche gegenüber der Teildisziplin Semiotik, die vom Zeichencharakter der Bilder ausgeht, ein Vorverständnis von Bildern, das die philosophische Bildtheorie nicht teilt, denn: »Die reine Sichtbarkeit eines Bildes kann ein Zeichen sein, muss es aber nicht« (166).

Vom Repräsentationszweck zur Sichtbarkeit des Bildes

Worum geht es Wiesing und was sind seine wichtigsten Thesen? Sein erklärtes Ziel ist es »mit den Mitteln der Philosophie die heutige Welt der Bilder [zu] thematisieren« (11). Dies ist angesichts der Tatsache, dass das Bild zu den ästhetischen Phänomenen gehört, »welche in diesem [dem 20.] Jahrhundert eine radikale und schnelle Entwicklung erfahren haben« (ebd.) – Wiesing nennt als Beispiele das abstrakte und das digitale Bild – eine besonders dringliche Aufgabe. Neue Bildproduktionstechniken erklären die Entstehung neuer Bildformen nicht hinreichend, sie stellen nur die Möglichkeiten bereit, neue Bilder herzustellen. Das heißt, technische Möglichkeiten führen nur dann zur Produktion neuer Bildformen, wenn sich »zuvor ein neues Bildverständnis gebildet hat, das diese in einem logischen Sinn überhaupt erst gestattet. Die philosophische Ästhetik wirkt auf die Produktion von Bildern ein, indem sie die Bildlichkeit schafft, mit denen neue Bilder denkbar werden« (12). Es ist Wiesings Absicht in seiner Studie zur Sichtbarkeit des Bildes die Entstehung eines Bildverständnisses zu rekonstruieren, welches es erlaubt, »Bilder nicht als Zeichen für abwesende Dinge zu verwenden. Was können Bilder – so also Wiesings Leitfrage – über das bloße Abbilden hinaus leisten? Bei der Suche nach Antworten auf diese Frage kommt dem abstrakten Bild aufgrund seiner Vernachlässigung mimetischer Abbildungszwecke eine Schlüsselfunktion zu. Ebenfalls wichtig sind die populären Bildformen wie Videospiele, bei denen ein Bezug des im Bild Sichtbaren zu einer existenten oder fiktiven Wirklichkeit häufig keine Rolle spielt. Wiesings historische Hauptthese ist, dass sich das Bildverständnis, das Bilder ohne gegenständliche Informationsabsichten verwenden lässt, in der formalen Ästhetik entwickelte; sie ist das Fundament, auf dem der Umgang mit Bildern in der jüngeren Kunst und in den neuen Medien aufbaut. Das Bild, welches sich im 20. Jahrhundert von Repräsentationszwecken emanzipiert und nicht mehr als Zeichen von etwas betrachtet wird, ist ein Gegenstand sui generis, d.h. es wird »zunehmend um seiner bloßen Sichtbarkeit willen hergestellt und betrachtet« (14). Formalen Ästhetiken ist es gemeinsam, dass sie ein Bild als einen Gegenstand, ein Artefakt, erachten,

dessen unterschiedliche Leistungen einzig und allein durch das Überziehen einer Oberfläche mit sichtbaren Formen erbracht werden. Das Thema der formalen Ästhetik sind ausschließlich diese sichtbaren Formen auf der Oberfläche des Bildes. Das Bild wird als ein Objekt beschrieben, das sich gleichermaßen von anderen Dingen wie auch von anderen Zeichen durch seine Sichtbarkeit abhebt (5).

Während das Sehen von Objekten in der Welt von deren Anwesenheit abhängig ist, Sichtbarkeit also an die Präsenz von Sachen gebunden ist, wird in Bildern die Sichtbarkeit von der Anwesenheit der Sachen getrennt: Bilder sind Isolationsvorgänge, sie sind »Entmaterialisierungen, welche einen Gegenstand in reine Sichtbarkeit transformieren« (15). In Anlehnung an die formale Ästhetik schlägt Wiesing folgende Definition vor: »Bilder sind Gegenstände, auf denen etwas gesehen werden kann, das an der Stelle, wo sich das Bild als Gegenstand befindet, nicht vorhanden ist« (160). Die formale Bildbetrachtung, an der Wiesing interessiert ist, endet in der ontologischen Einsicht, dass das Bild »allein aufgrund seiner Bildhaftigkeit einen ontologischen Sonderstatus [besitzt]: Man bekommt die Sichtbarkeit selbst zu sehen« (163).

Geschichte und Perspektiven der formalen Ästhetik

Die in der formalen Ästhetik seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in der Schule des Philosophen Johann Friedrich Herbart (1776-1841) entwickelten Ideen haben eine grundlegende Wende in der Geschichte der Ästhetik eingeleitet: sie haben diese aus ihrer Verankerung in metaphysischen Systemen befreit und den Bruch sowohl mit Kants Analyse des ästhetischen Urteils als auch mit Hegels Bindung der Kunst an geistige Ideen vollzogen. Die formale Ästhetik entwickelte Alternativen zu den gängigen philosophischen Ästhetiken,

die in ihren Erklärungen zur Kunst nicht von den Werken, sondern von vorhandenen Philosophien ausgingen. Das gemeinsame Ziel ist die Arbeit an einer positivistisch ausgerichteten ›allgemeinen‹ Kunstwissenschaft. Für diese bedeutet Ästhetik, sich auf die wahrnehmbaren Eigenschaften von ästhetischen Objekten einzulassen und nicht philosophische Theorien in sie hineinzuprojizieren (14).

Die Bedeutung der formalen Ästhetik liegt darin, dass sie die Rückbesinnung auf die Sachen selbst und damit auf das Sichtbare forderte. Dies leitete eine genuin phänomenologische Bild- und Kunstanalysen ein und ermöglichte den Beginn der modernen Kunstwissenschaft.

Neben einer Einleitung umfasst die Untersuchung sechs Kapitel, die Wegbereitern und Vertretern der formalen Ästhetik gewidmet sind. Sie dienen dazu, die Theorie der Sichtbarkeit des Bildes in ihrer Entwicklung aus der nicht-spekulativen Ästhetikbewegung des 19. Jahrhunderts hin zur Phänomenologie des 20. Jahrhunderts zu rekonstruieren.

Kapitel I untersucht im Zusammenhang mit dem Wiener Philosophen Robert Zimmermann (1824-1898) und dessen Schrift Ästhetik als allgemeine Formwissenschaft (1865) die Frage, welches Werkverständnis einer formalen Ästhetik zugrunde liegt. Zimmermanns Verdienst ist es, das von seinem Lehrer Herbart lediglich skizzierte Programm der formalen Ästhetik in geschlossener, systematischer Form entwickelt zu haben, indem er sie analog zur formalen Logik entwickelte. Während Zimmermann mit seiner Absicht, Schönheit formal erklären zu können, mit dem 18. Jahrhundert verbunden ist, betont Wiesing, dass jener mit seinem Werkbegriff das strukturalistische Denken des 20. Jahrhunderts vorweg nahm. Zimmermanns Schüler, der Wiener Kunsttheoretiker Alois Riegl (1858-1905), führte die formal-logischen Ideen seines Lehrers weiter aus und trug mit seiner Stiltheorie zur Gründung der modernen Kunstwissenschaft wesentlich bei.

Im Kapitel II demonstriert Wiesing, dass die formale Ästhetik bei Riegl eine Ergänzung der zeitgleich entstehenden Relationenlogik ist, die ein zur formalen Ästhetik analoges Anliegen verfolgt, nämlich die Bereitstellung eines Instrumentariums zur Beschreibung von Strukturgebilden.

Kapitel III ist dem Kunsttheoretiker Heinrich Wölfflin (1864-1945) und dessen Werk Kunstgeschichtliche Grundbegriffe (1915) gewidmet, welches Riegls strukturtheoretisches Stilverständnis und damit seine Idee einer Relationenlogik der Bildoberfläche diskutiert. Riegl ging davon aus, dass die Gesetzmäßigkeiten der immanenten Bildrelationen den Anschauungsformen des Menschen entsprechen, was dazu führte, dass er die formale Ästhetik und das Bild verwendete um Wahrnehmung zu erforschen. Kapitel III setzt sich nun zum Ziel, das neue Thema der formalen Ästhetik, nämlich die »Relation zwischen dem Sichtbarmachen von Bildern und dem Sichtbarwerden in Anschauungen« (18), herauszustellen.

Angesichts der Entwicklung des Bildes im 20. Jahrhunderts durch Kunst und die Neuen Medien stellt Kapitel IV die Frage, wie sich die Interessen einer formalen Ästhetik ändern, wenn das Paradigma der Sichtweise von dem der Sichtbarkeit abgelöst wird, ein Schritt, den Wiesing an den Schriften des sächsischen Philosophen Konrad Fiedler (1841-1895) rekonstruiert. Letzterer arbeitet zwar früher als Wölfflin, sein Entwurf einer formalen Ästhetik führt jedoch über Wölfflins Orientierung an der Sichtweise hinaus: Erst wenn ein Bild weder aufgrund der abgebildeten Gegenstände noch wegen der Sichtweise betrachtet wird, eröffnet sich die Nutzungsmöglichkeit um seiner bloßen, reinen Sichtbarkeit willen, und diese reine Sichtbarkeit ist die radikalste Form eines formalen Bildverständnisses und am besten geeignet, die neuen Bildformen des 20. Jahrhunderts – vom Suprematismus und der Collage, zum Stummfilm und modernen Videoclip – verständlich zu machen. Während die bildende Kunst Wirklichkeit häufig nicht nur abbildete, sondern auch interpretierte, tritt an die Stelle der Interpretation der sichtbaren Wirklichkeit in den neuen (digitalen) Bildformen des 20. Jahrhunderts die bloße Erzeugung von Sichtbarkeit und damit die Bereicherung der sichtbaren Wirklichkeit um virtuelle Wirklichkeiten.

Kapitel V setzt sich mit der Methode formaler Bildbetrachtung auseinander und diskutiert das Verhältnis zwischen formaler Ästhetik und Phänomenologie unter Einbeziehung der späten Schriften des französischen Phänomenologen Maurice Merleau-Ponty (1908-1961), welche deutlich machen, dass sich die formale Ästhetik schon immer als Phänomenologie avant la lettre verstand.

Kapitel VI wendet sich dem semiotischen Status der Bildoberfläche zu und stellt die Schlüsselfrage, ob ein Bild, das auf keinen Gegenstand verweist, ein Zeichen sein kann. Diskussionsgegenstand sind die Schriften des amerikanischen Semiotikers Charles William Morris (1901-1979), der die Form eines abstrakten Bildes mit der Sprache der Mathematik oder Logik vergleicht. Wiesing zeigt, weshalb die semiotische Ästhetik, zumindest in ihren Anfängen, als eine Variante der formalen Ästhetik aufgefasst werden kann.

Fazit

Wiesing ist wiederholt der Vorwurf gemacht worden, dass eine Bildtheorie, die sich ausschließlich der Sichtbarkeit zuwendet, einen einseitigen Blick auf Bilder werfe, der andere wesentliche Aspekte von Bildern ignoriere. Für Wiesing ist jedoch gerade diese Reduktion auf die Sichtbarkeit des Bildes wesentlich, denn nur sie gibt die Antwort auf die Frage, was ein Bild zu einem Bild macht. Und an dieser Frage ist der philosophische Bildtheoretiker, der sich keineswegs als Kunsttheoretiker versteht, interessiert. PhilosophInnen zeichnet gemeinhin eine systematische Annäherungsweise an Phänomene aus. Und so ist es nur konsequent, dass Wiesing große Argumentationslinien zieht, die aber zuweilen, etwa im Zusammenhang mit seinen Ausführungen zu den digitalen Bildmedien, eine größere Plausibilität erlangt hätten, wären spezifische Beispiele diskutiert worden. Wiesing versteht seine Studien zur Logik der formalen Ästhetik als einen Beitrag zur Phänomenologie der medialen Welten, in denen Bilder das dominante Phänomen sind. Aussagen wie »Für immer mehr Menschen ist immer mehr von dem, was sie für wirklich halten, aus der Betrachtung von Bildern entstanden.« (23) sind in ihrer anthropologischen Allgemeinheit und kulturellen Unspezifiziertheit kaum haltbar und dürften weitere kritische Stimmen auf den Plan rufen, die die These eines pictorial turn hinterfragen. Auch lassen apodiktische Passagen wie »Durch Bilder übermittelte Informationen gehen nicht in diesen Informationen auf. Sie haben immer noch einen Aspekt, der nicht durch gleichwertige Zeichen ersetzt werden kann.« (24) zuweilen Zweifel an Wiesings Thesen zum Bild aufkommen – man muss nur den Begriff ›Bilder‹ durch ›Lyrik‹ ersetzen, um zu sehen, dass das, was hier über Bilder gesagt wird, auch auf andere sekundäre Zeichensysteme und Medien zutrifft.

Positiv ist zu vermerken, dass Wiesings Buch Die Sichtbarkeit des Bildes gut recherchiert und wissenschaftshistorisch relevant ist, da es die Entwicklung der formalen Ästhetik aufarbeitet. Diese hat der Bildtheorie neue Perspektiven eröffnet und erlaubt es, bestimmte Aspekte an Bildphänomenen des 20. Jahrhunderts besser zu verstehen. Die Zweitlektüre über zehn Jahre nach dem Erscheinen der Erstausgabe eröffnet neue Einsichten und bestätigt den früheren Eindruck von einer klaren Argumentationsführung und einer leserfreundlichen Sprache. Wiesings beeindruckende Untersuchung hat bis heute nichts an Aktualität verloren und sei all jenen zur (Re-)Lektüre empfohlen, die in den Bereichen Bildtheorie, Intermedialität und visual culture arbeiten.

Prof. Dr. Gabriele Rippl

Universität Bern

Philosophisch-historische Fakultät

Institut für englische Sprachen und Literaturen

2009-09-25

JLTonline ISSN 1862-8990

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