Thomas Petraschka
Das Beziehungsfeld Literatur – Wissen – Wissenschaft aus
Interdisziplinär-komparatistischer Perspektive
Thomas Klinkert/Monika Neuhofer (Hg.), Literatur, Wissenschaft und Wissen seit der Epochenschwelle um 1800. Theorie – Epistemologie – komparatistische Fallstudien. (spectrum Literaturwissenschaft/spectrum Literature. Komparatistische Studien/Comparative Studies, Bd. 15 ) Berlin/New York: de Gruyter 2008. VII, 392 S. [Preis: EUR 98,00]. ISBN: 978-3-11-020051-5.
1. Anlass, Aufbau und Gegenstandsbereich des Bandes
Anlässlich eines vom 3. bis zum 5. März 2005 in Mannheim veranstalteten Kolloquiums ist 2008 im Rahmen der Reihe »spectrum Literaturwissenschaft« ein um einige Beiträge ergänzter Sammelband bei de Gruyter erschienen. Dem explizit interdisziplinären Anspruch der Reihe trägt auch dieser von Thomas Klinkert und Monika Neuhofer herausgegebene, mit »Literatur, Wissenschaft und Wissen seit der Epochenschwelle um 1800. Theorie – Epistemologie – komparatistische Fallstudien« selbstbewusst betitelte Band schon insofern Rechnung, als er seinen Untersuchungsgegenstand aus Perspektive mehrerer Disziplinen (Germanistik, Romanistik, Anglistik/Amerikanistik, Slavistik/Komparatistik, Medizin) in Augenschein nimmt.
Für eine Thematisierung des Verhältnisses von Wissen, Wissenschaft und Literatur gerade ab 1800 machen die Herausgeber in ihrem Vorwort plausibel, dass spätestens seit eben jener Epochenschwelle literarische Texte »mit dem Diskurstyp Wissenschaft« wetteiferten »und versuchen sich diesem anzupassen bzw. […] aus ihm entlehnte Verfahren« zu adaptieren (1). Niklas Luhmann, auf den zahlreiche der Aufsätze mindestens einleitend rekurrieren, macht bekanntermaßen ebenfalls für eben jene Phase um 1800 eine funktionale Differenzierung der Gesellschaft aus, in deren Rahmen gerade »die Kunst die Unmittelbarkeit des Bezugs auf das Weltverhältnis der Gesellschaft verloren […] hat. Sie kann immer noch eine Universalkompetenz für alles und jedes in Anspruch nehmen; aber nur noch als Kunst, also nur noch auf der Basis einer spezifischen, eigenen Kriterien folgenden Organisationsweise.« [1]
Das aus diesem neu arrangierten Verhältnis resultierende Problemfeld soll, so die von den Herausgebern ausgegebene Zielsetzung, in insgesamt 17 Beiträgen durch systemtheoretische, darstellungsästhetische bzw. epistemologische Fragestellungen weiter differenziert und in einzelphilologischen Analysen nachvollzogen werden.
Ein durch eine derart weiträumige Zielsetzung aufgespanntes Spektrum von möglichen Spezialthemen resultiert wenig überraschend auch in einer enormen Spannbreite der einzelnen Aufsätze. Sie reichen von Novalis und Hegel über Darwin, Gogol oder Zola bis in die Gegenwart zu Houellebecq und Lodge und widmen sich Untersuchungsgegenständen von der grundsätzlichen erkenntnistheoretischen Frage nach der Möglichkeit der Vermittlung von Wissen durch die Literatur (Christian Kohlroß) bis hin zu hochspezialisierten Einzelaspekten wie der Frage der Zeit im Werk Antonio Tabucchis (Barbara Kuhn). Der Band bietet damit einen recht selektiven Überblick über die weitverzweigte Debatte, leidet gleichzeitig aber an mangelnder Kohärenz.
Aufgrund dieser großen Spannweite einerseits und der hohen Qualität einzelner Beiträge andererseits halte ich es für weder ohne weiteres möglich noch sonderlich sinnvoll, eine Pauschalrezension des gesamten Bandes zu geben – eine differenziertere Sicht auf die Einzeluntersuchungen scheint mir eher lohnend zu sein.
2. Die Themenbereiche im Einzelnen
Die einzelnen Aufsätze sind in sechs thematisch recht klar voneinander getrennte Unterkapitel gruppiert, welche in der Folge auch die Abschnittsüberschriften des Rezensionsartikels bezeichnen werden.
2.1 »Epistemologische Grundlagen«
Der erste, den folgenden primär philologischen Analysen auch theoretisch vorgängige Punkt »Epistemologische Grundlagen« versammelt vier Aufsätze von Christian Kohlroß (»Ist Literatur ein Medium? Heinrich von Kleists Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden und der Monolog des Novalis«), Jochen Hörisch (»Des Lesens Überfluss oder: Warum ist Selbstbewusstsein DAS Thema um 1800?«), Gérard Dessons (»Le désavoir du poème: un mode spécifique de connaisance«) und Thomas Klinkert (»Literatur, Wissenschaft und Wissen – ein Beziehungsdreieck«) und widmet sich der »Frage nach den epistemologischen Grundlagen des Zusammenhangs von Literatur, Wissenschaft und Wissen.« (2)
Speziell Kohlroß und Klinkert liefern unaufgeregt klare, die aktuelle Debatte zu diesem Thema – das in der literaturwissenschaftlichen Landschaft momentan überaus en vogue ist – durchaus bereichernde Analysen, die den Spagat zwischen abstrahierend-philosophischer Distanz und basisphilologischer Textarbeit sicher bewältigen.
Christian Kohlroß ist der einzige Beiträger, der den auf Platon zurückgehenden und bis heute in weiten Teilen der philosophischen Diskussion maßgeblichen Begriff von Wissen als gerechtfertigte, wahre Überzeugung (oft mit dem Kürzel JTB, »justified true belief«, bezeichnet) aufgreift. [2] Den nach seiner Ansicht mit dieser Wissensdefinition verknüpften Platonismus – was in diesem Kontext konkret soviel heißen soll wie »Erkenntnisgegenstände existieren vor und unabhängig von der Sprache« – verwirft er jedoch im unmittelbaren Anschluss recht eindeutig mit dem Vorwurf einer durch ihn entstehenden »Tyrannei des Objektiven« (23). Für fruchtbarer hält er die Idee, dass es im Gegensatz dazu »ein Wissen gibt, das sich im Medium der Sprache einstellt, und nur da.« (23) Literarische Gewährstexte hierfür sind zunächst Kleists Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden und Novalis’ Monolog. Darüber hinaus parallelisiert Kohlroß diese Ansicht auf so innovative wie schlüssige Art und Weise mit aktuellen Wissenstheorien aus der pragmatistischen Philosophie, im Rekurs v. a. auf den Rorty-Schüler Robert Brandom. Grob umrissen ist das wesentliche Moment pragmatistischer Theorien, dass das Wahrheitsmoment einem in sprachlich-subjektiven Kategorien gefassten Wissensbegriff nichts Wesentliches mehr hinzufügen kann – Wahrheit fällt in diesem Sinn zusammen mit einer von Handelnden aus überzeugenden Gründen eingegangenen Festlegung. Da sich Literatur damit von der scheinbar »harte Fakten« vermittelnden Wissenschaft nur noch durch die Art der Festlegung bzw. Begründung – nämlich speziell »über die Darstellung« statt über diskursive Verfahren wie »das Argumentieren« oder das »logische Schließen« (31) – unterscheidet, ist, so Kohlroß’ überzeugende Konklusion, eine epistemologische Abqualifizierung der Literatur aufgrund ihrer Literarizität nicht länger schlüssig. Dennoch ist Literatur für Kohlroß keineswegs eine Art Wissensspeicher, sondern in der Beantwortung der an sie zu richtenden Frage, warum sie »überhaupt bedeuten kann« vielmehr ein »Medium des Wissens« – was sie leisten kann, ist ein »Erschließen der begrifflichen wie nicht-begrifflichen Bedingungen der Möglichkeit unseres sprachlichen Welterschließens« (32).
Jochen Hörisch macht im darauf folgenden Beitrag ausgehend von der Überproduktion literarischer Schriften um 1800 drei prominente Reaktionen auf den damit verbundenen »Datenzuwachs« aus: »die Hermeneutik, die Selbstbewusstseinstheorie und die (so zuerst von Hegel lancierte) Paradoxierung des Wissens und der Großtheorien.« (41) V.a. jener dritten Strategie der Paradoxierung – Hörisch sieht hier die »Weisheit eines Denkens das Widerspruchsstrukturen nicht per se verwirft« (46) am Werk – widmet er sich ausführlicher in einer exemplarischen Hegel-Lektüre und kommt zu einem letztlich wohl skeptisch zu wertenden Schluss: »Es gibt Widersprüche und Paradoxien, die den Anspruch an verlässliches Wissen entschieden begrenzen – aber das kann man wissen.« (52)
Gérard Dessons sieht das Verhältnis von Literatur und Wissen(schaft) seit Platon als grundsätzlich antagonistisch, v. a. aufgrund des Alleinvertretungsanspruchs der Wahrheit, den seiner Ansicht nach die Philosophie für sich beansprucht. Urszene, »scène primitive« (53) dieses Konflikts ist für ihn die Verbannung der Dichter aus dem idealen Staat im dritten Buch der Politeia. Auch Austins bekannter Ausschluss der Bühnensprache aus seiner Analyse der Sprechakte in How to Do Things With Words? wird von Dessons in gleichem Kontext gelesen: »C’est exactement la position de Platon dans le livre III de La République« (54). [3] Durch die Verwendung einer nicht restlos klaren Kategorie von »Erkenntnis als Negativität« (»connaissance comme négativité« (54)), die er an Mallarmés »poème critique« anlehnt, will Dessons sich von dieser Tradition abgrenzen. Er spricht der Literatur eine generell wissenskritische Eigenschaft zu und definiert dieses mit »désavoir« bezeichnete Modell nicht als »Absenz von Wissen, sondern eine Kritik des Wissens« (4). Als Anwendungsbeispiel seines »désavoir«-Konzept für die Literatur dient Dessons abschließend Jules Laforgues Konzept der déculture.
Thomas Klinkert konfrontiert in seinem luziden Beitrag die Luhmann'schen Thesen über die Ausdifferenzierung der Gesellschaftsbereiche Kunst und Wissenschaft mit den Romanpoetiken von Balzac, Flaubert und Zola, die im Gegensatz dazu für eine Annäherung und wechselseitige Bezugnahme eben derselben Gebiete plädieren. Von diesem Konflikt ausgehend schließt Klinkert anhand einer exemplarischen Lektüre der Nobelpreislaudationes in den Bereichen Physik und Literatur aus dem Jahr 2004, dass Literatur aufgrund ihrer dominant ästhetischen Kodierung »niemals völlig darin aufgehen kann, so wie die Wissenschaft neues, unwahrscheinliches Wissen zu generieren, ohne ihre Identität als Literatur zu verlieren.« (77) Trifft dies zu – und an diesem Punkt bietet Klinkerts Beitrag offensichtlich die Möglichkeit zu kontroverser Anschlussdiskussion, etwa mit einem von Kohlroß zuvor aufgerufenen pragmatistischen Wissensbegriff im Hintergrund – ist die Konfrontation mit dem primär epistemologischen Anspruch der Wissenschaft identitätsbedrohend für die Literatur. Eine mögliche Reaktion ist laut Klinkert gerade die Subvertierung wissenschaftlich-epistemologischer Kategorien in der Fiktion, was er in einer Analyse von Borges’ Tlön, Uqbar, Orbis Tertius zu illustrieren versucht.
2.2 »Die Generierung von Wissen durch literarische Texte. Zwei Fallbeispiele aus dem 19. Jahrhundert«
Weertje Willms (»Wissen um Wahn und Schizophrenie bei Nikolaj Gogol und Georg Büchner. Vergleichende Textanalyse von Zapiski summasšdšego (Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen) und Lenz«) und Niels Werber (»Effekte. Das Wissen der Literatur am Beispiel von Gustav Freytags Soll und Haben«) versuchen in ihren beiden Beiträgen nachzuvollziehen, auf welche Art und Weise Literatur ein spezifisches Wissen generieren kann – die absolut strittige Grundfrage ob dies überhaupt möglich sein kann, adressieren sie beide kaum (Willms gar nicht, Werber sehr knapp). Geht man etwa von dem bereits angesprochenen, klassisch platonischen JTB-Wissensbegriff aus, ist offensichtlich, dass die Rechtfertigungsbedingung für Wissen im Fall der Literatur nicht erfüllt sein kann. Autoren fiktionaler literarischer Werke – wie Büchner, Gogol und Freytag in den beiden Aufsätzen von Willms und Werber – sind keineswegs darauf verpflichtet, in ihren Darstellungen aufrichtig zu sein, was dem Leser eben die Rechtfertigung entzieht, Behauptungen aus Lenz, den Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen oder Soll und Haben ohne außerliterarische Zusatzinformationen in den Bestand der eigenen Überzeugungen aufzunehmen. [4]
Zugestanden, in dem bereits angesprochenen Punkt zu den »Epistemologischen Grundlagen« finden sich Versuche, einen alternativen Begriff von literarischem Wissen zu formulieren – und zu klären ist diese Problematik im Rahmen eines zudem anwendungsorientierten Aufsatzes ohnehin keinesfalls. Dennoch hätte man sich als Leser von den Autoren das eine oder andere Wort hierzu gewünscht, da ohne weiteren Kommentar die Rede, dass »die Literatur schon immer auf besondere Weise psychiatrisch relevantes Wissen formuliert« (94) bzw. »in der Literatur als falsch geltendes oder obsoletes Wissen interessant sein könnte« (112) etwas unvermittelt bzw. widersprüchlich daherkommt.
Davon abgesehen liefert Willms eine ausführliche Analyse von Büchners Lenz und Gogols Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen. Sie weist auf das so überraschende wie interessante Faktum hin, dass Büchners Erzählung eine selbst aus heutiger Sicht stimmige Schizophreniedarstellung inklusive aller charakteristischen Symptome darstellt und erläutert, dass der Text gerade durch seine Literarizität ein »besseres Verständnis von der Krankheit ermöglicht als es die wissenschaftlich-psychiatrische Schilderung leisten kann.« (104) Auf die unmittelbare Folgerung daraus, durch »die Literarizität des Textes [sei] die Literatur in der Lage, spezifisches Wissen zu generieren, welches andere Diskurssysteme so nicht hervorbringen können« (104, meine Hervorhebung) fühlt man sich jedoch wiederum angehalten, mit einem freundlichen, aber bestimmten »Nein, das folgt so noch nicht.« zu antworten.
Werber ist für die angesprochene grundsätzliche Problematik eher sensibel, er konstatiert schon zu Beginn vorsichtig: »Was immer man auch so nennen mag: ›Wissen‹ ist im Wissenschaftssystem etwas anderes als im System der Literatur.« (111) Auch im Weiteren spricht er eher von »Evidenz« oder »spezifisch literarische[n] Leistungen« (115) und setzt den Begriff »Wissen« zumeist in Anführungszeichen, sofern er im Kontext Literatur auftaucht. Seine These ist dementsprechend auch nicht direkt auf Wissen gemünzt – obwohl dies der Titel des Beitrags (»Das Wissen der Literatur am Beispiel von Gustav Freytags Soll und Haben«) zu suggerieren scheint – sondern eher darauf, dass im Gegensatz zur systemtheoretischen Auffassung »außerliterarische Effekte […] gewichtiger ausfallen als die innerliterarische Anschlussfähigkeit, die ein Text findet.« (114) Anhand von Freytags »Soll und Haben« zeigt er völlig nachvollziehbar, dass ein fiktionaler literarischer Text zeitgeschichtlich relevantes »Wissen« (von Werber zu Recht in Anführungszeichen gesetzt) hervorbringen kann, das unter Umständen auf außerliterarische Diskurse plausibilisierend wirkt.
2.3 »Zwischen Positivismus, Hypothesenstreit und Utopie. Das Paradigma Zola«
Wie von den Herausgebern in ihrem Vorwort und ihrer Abschnittsüberschrift angesprochen, besitzt das Werk Émile Zolas für das Rahmenthema offensichtlich nahezu paradigmatische Bedeutung. Kaum ein anderer beschäftigt sich so prominent wie intensiv als Theoretiker und Schriftsteller mit der Situierung der Literatur innerhalb der Diskurse von Kunst und Wissenschaft.
Eckhard Höfner nähert sich den Thema Zola in einem 40(!)-seitigen, meist in verbindlichem Plauderton gehaltenen Beitrag (»Zola – und kein Ende? Überlegungen zur Relation von Wissenschaft und Literatur. Der Roman expérimental und der Hypothesen-Streit im 19. Jahrhundert«), der äußerst belesen, aber zuweilen auch recht fabulierend wirkt. Nach ausführlichen Exkursen in die Gebiete Vererbung, Zytologie und Bakteriologie, die die Biologie als Hypothesen bildende »Orientierungs-Wissenschaft« (130) um 1800 ausmachen, sieht Höfner Zola in einer »Skylla-und-Charybdis-Situation: auf der einen Seite die kunst-idealistischen, […] zuweilen auch noch ›moralisierend‹ aufgetürmten Brandungsfelsen; auf der anderen die Klippen populär-positivistischer Annahmen« (157). Zolas Ausweg aus diesem Dilemma mittels seiner »méthode expérimentale« (158) besteht nun, so Höfner im überzeugenden Schlussteil seiner Arbeit, darin, dass die Literatur kreative Hypothesen bilden und sich dadurch »mögliche Welten« einfallen lassen kann, welche dann »Bestandteil eines (wissenschaftlichen) Wissens [wären], solange sie nicht einschlägig falsifiziert« (158) sind.
Robert S. April versucht in seinem Aufsatz (»Zola’s Utopian Novels. The Use of Scientific Knowledge in Literary New World Models«) zu zeigen, »how nineteenth century science was incorporated into literary knowledge for the purpose of validating the fictional utopian society.« (167) Um seine Leser von der potentiellen Realisierbarkeit der entworfenen Utopien zu überzeugen, integriert Zola laut April wissenschaftliche Erkenntnisse, speziell »positivist science, Fourier’s sociology and Marx’s economic theory« (180) in die Literatur. Nachdem er dies anhand des Romans Travail exemplarisch nachvollzieht, schließt April jedoch mit der These, dass Zolas Utopieentwürfe letztlich unbrauchbar seien (»not capable of creating a valid utopian structure« (189)), da einerseits der Weg von der Gesellschaft der Gegenwart hin zum utopischen Endzustand nicht nachvollziehbar wird und darüber hinaus grundlegende Grenzen von »literary knowledge« (182) dies verhinderten: »Because language has its own limits, textual utopian systems do not translate into truly utopian real-life experiments.« (189)
Der dritte Beitrag (»Zola, die Wissenschaft und die deutsche Literaturwissenschaft«) zum Thema Zola von Aurélie Barjonet weist erneut darauf hin, dass Zola »vor allem Wortschatz, Methoden, Hypothesen und Ergebnisse der modernen Wissenschaften« aufgreift, ohne jedoch, wie es seine Intention war, unter epistemologischen Gesichtspunkten mit der Wissenschaft konkurrieren zu können. Von diesem Widerspruch ausgehend liefert Barjonet eine detaillierte Aufarbeitung der Zola-Rezeption im deutschsprachigen Raum, von der marxistischen Literaturwissenschaft bis hin zu neuesten Untersuchungen von Küpper, Gumbrecht oder Warning.
2.4 »Evolutionstheorie und Wissen vom Ding. Das frühe 20. Jahrhundert in den USA und Deutschland
Den vierten Abschnitt des Sammelbandes eröffnet Heike Schäfer mit einem äußerst lesenswerten Beitrag (»Choosing to Evolve: Evolutionary Theory, Pragmatism, and Modernist American Poetry«), der versucht, Ansichten des von Darwins Denken inspirierten Pragmatismus John Deweys für die Lektüre moderner Dichtung nutzbar zu machen. Wie schon Kohlroß versucht auch Schäfer aus der pragmatistischen Philosophie einen Wissensbegriff zu übernehmen, der so gefasst ist, dass er sich möglicherweise weit fruchtbarer an die Literatur herantragen lässt als die platonische JTB-Konzeption. [5] Dewey macht laut Schäfer gerade den provisorischen, prozessoralen und experimentellen Aspekt des Wissens stark und hält eine kategoriale Trennung der Sphären von Kunst und Wissenschaft für verfehlt: »Rather than think of science, philosophy and the arts as generating incompatible kinds of knowledge, Dewey insisted on the convergence of their ways of understanding and describing the world.« (224) Im Sinne einer solchen Synthese kann Literatur die Rolle übernehmen, qua Gedankenexperiment unser Wissen – pragmatistisch verstanden als Fähigkeit, sich in der Welt zurechtzufinden – zu erweitern: »Dewey describes the production and reception of art […] as concentrated forms of experience that help us to continually readjust ourselves to our social and biological environments.« (228) Eben diesen Modus des Experimentierens weist Schäfer exemplarisch in der Dichtung von Robinson Jeffers, Wallace Stevens und William Carlos Williams nach, so dass Literatur ihrer Lesart nach als »medium that allows us to enact, reflect on and experiment with our habitual ways of perception and signification« (234) gesehen werden kann.
Uwe Steiner (»Widerstand im Gegenstand. Das literarische Wissen vom Ding am Beispiel Franz Kafkas«) äußert in seiner Studie, der man deutlich die Sympathie für eine von Heidegger inspirierte Terminologie anmerkt, den Verdacht, dass ein prominent von Freud, Cassirer und Simmel adressiertes »Unbehagen in der Kultur« aktuell »in den Diskursen widerkehrt, wie sie gegenwärtig der Dingwelt, der Sphäre der Objekte gelten.« (237) Der »Dingvergessenheit« (238) von Philosophie, Physik, Ökonomie oder Recht, die nach Steiner seit dem Ende der klassischen Metaphysik nicht mehr recht mit dem »Ding als solchem« (238) zu Rande kommen, habe die Literatur nun ein »literarisches Wissen vom Ding, das (noch) kein wissenschaftliches bzw. literaturwissenschaftliches ist« (245) voraus. Speziell in Texten seines Kronzeugen Kafka macht Steiner eine charakteristische Auflehnung von Objekten wider die eigentlich handelnden Subjekte aus und kommt zum Schluss, dass die Literatur die Rolle jenes von Bruno Latour vermissten Mythos übernehmen kann, der erzählt, »wie das Objekt das Subjekt schafft.« (250)
2.5 »Zwischen Franquismus, Avantgarde und Postmoderne. Literatur und Wissenschaft in Spanien vor und nach der Transición«
Die beiden Beiträge von Werner Helmich (»Der wissenschaftliche Diskurs in Martín-Santos’ Tiempo de silencio«) und Anke Wesser (»Fakten und Fiktion in Eduardo Mendozas Roman La ciudad de los prodigios«) untersuchen die Verarbeitung des Themas Wissenschaft in zwei Romanen aus der Endphase der Franco-Herrschaft (Martín-Santos, 1961) bzw. kurz nach dem Ende der Transición Spaniens (Mendoza, 1986). Helmich stellt heraus, dass die Wissenschaft in Tiempo de silencio sowohl »in wirklichkeitsnachbildender oder mimetischer Funktion« als auch »als Element des Diskurses, insofern er über die mimetische Funktion hinausreicht in die Wirklichkeitsdeformation durch sprachliche Verfremdung« (256) präsent ist. Durch diese Doppelstrategie von naturalistischer Integration wissenschaftlicher Forschung bei gleichzeitiger ironisch-kritischer Brechung nimmt der Roman in der Geschichte literarischer Wissenschaftsthematisierung laut Helmich eine »eigenartige Übergangsposition« (271) zwischen »der naturalistisch-pathetischen und der gelehrt-spielerischen Variante eines Borges oder Calvino ein« (271).
Noch eminenter ist die Strategie der Ironisierung im von Wesser behandelten Roman La ciudad de los prodigios. Ihre nachvollziehbare These lautet, dass Mendoza durch seine spezielle postmoderne Erzählweise »die Geschichtsdarstellung grundlegend in Frage stellt.« (275) Ähnlich Helmich macht auch Wesser eine narratologische Doppelstrategie in dem Werk aus, in deren Rahmen einerseits versucht wird, die Glaubwürdigkeit der Erzählung durch wissenschaftliche Authentizitätssignale zu steigern, andererseits diese wiederum ironisch verzerrt oder fiktionalisiert werden. Was Mendoza nach Wessers Interpretation schließlich damit erreicht, ist »den Konstruktcharakter wissenschaftlicher Diskurse durch Fiktionalisierung zu entlarven und gerade dadurch die Autonomie des Literarischen zu affirmieren.« (289)
2.6 »An der Schwelle des 21. Jahrhunderts in Frankreich, Italien, England und den USA«
Betül Dilmac (»Die Vermischung von literarischem und naturwissenschaftlichem Diskurs bei Michel Huellebecq«), Barbara Kuhn (»Was weiß die Literatur? Die Frage der Zeit in Antonio Tabuccis Si sta facendo sempre più tardi«), Stefan Glomb (»Selbstbewußtsein jenseits der Zwei Kulturen: David Lodges Roman Thinks…«) und Sabine Schielke (»Science into Narrative, or: Novelties of a Cultural Nature«) beschließen den Sammelband mit vier Untersuchungen zu um das Jahr 2000 erschienenen Romanen. Die Analysen machen deutlich, dass gerade in der zeitgenössischen Literatur (v.a. in Romanform) die Frage nach der Beziehung zwischen wissenschaftlichem und literarischem Diskurs ungebrochene Relevanz besitzt. Dilmac zeigt dies anhand von Erkenntnissen der Quantenphysik, die Houellebecqs Les Particules élémentaires sowohl auf thematischer Ebene als auch auf der Ebene der Erzählmethode nachhaltig prägen, Glomb weist nach, wie Lodge in seinem Roman den Streit zwischen Hirnforschung und Geisteswissenschaft um die Willensfreiheit inszeniert und Kuhn und Sielke gehen unter anderem auf die Verarbeitung moderner Zeittheorien in ihren Analysetexten ein. Der wesentliche Punkt, den alle vier Autoren nahezu gleichermaßen stark machen, ist, dass Literatur den wissenschaftlichen Diskurs nicht nur passiv-kopierend aufgreift, sondern ihn durch ihre Literarizität wesentlich abwandeln kann – und nicht nur im Sinne etwa eines trivialen Verfälschens von Daten. Kuhn beispielsweise zeigt, wie der Roman Si sta facendo sempre più tardi speziell die Paradoxien aktueller Zeittheorien inszeniert, da er sich qua Literatur nicht um wissenschaftliche bzw. logische Einschränken wie den Satz vom ausgeschlossenen Dritten kümmern muss und Kontinuität bzw. Diskontinuität der Zeit simultan gelten lassen kann. Glomb weist darauf hin, dass Literatur durch ihre Fähigkeit, rein subjektive Erlebnisse (im Sinne von Nagels bekannter Frage »What is it like to be a bat?«) gleichsam objektiv erzählen zu können, als kognitionspsychologisch ausgesprochen elaborierte theory of mind verstanden werden kann. Da qualitative Aussagen über das Selbstbewusstsein selbst wiederum ohnehin keinen streng objektiven Charakter haben können, wird laut Glomb mindestens für diesen Aspekt die Aussage, »dass die Literatur deshalb kein ernstzunehmendes Erkenntnismedium sein könne, weil ihre Gegenstände fiktiv seien« (347) ungültig.
Das Fazit Glombs subsumiert die verallgemeinerten Erkenntnisse des gesamten Unterkapitels wie ich finde ganz gut – und situiert darüber hinaus selbstreflexiv die Literatur-Wissenschaft zutreffend zwischen antirational gegenaufklärerischem Sprachwirrwarr vergangener Großtheorien und aktuellen überszientistischen Anbiederungen an die Naturwissenschaft:
Nicht nur die Literatur selbst, sondern auch die Literaturwissenschaft als (neben anderen) Metaebene der Reflexion über die Verbindung der Literatur mit anderen Diskursen kann daher einen nicht durch reduktionistische Wirklichkeitsillusionen getrübten Blick auf die Kontingenz der Realitätsentwürfe und die Relativität der Diskurse schärfen und somit Wesentliches zu der […] Verzahnung des Bereichs der Ursachen mit dem der Gründe beitragen. […] Umso wichtiger ist es für die Literaturwissenschaft, sich selbstbewusst zu behaupten – jenseits apologetischer Zerknirschung und liebedienerischer Annäherung an die naturwissenschaftlich-technisch-wirtschaftlichen Rationalitätsformen. (353f.)
3. Fazit
Bei einer Gesamtsicht auf den Sammelband fällt wie schon angedeutet zuallererst die aus der enormen Spannweite der Einzelthemen resultierende Heterogenität der Beiträge auf – die Thematik ist schlicht zu weit gefasst, um einen kohärenten Gesamteindruck vermitteln oder eine vollständige Vermessung des Arbeitsfeldes ermöglichen zu können. Obwohl also nur die wenigsten Leser den kompletten Band gewinnbringend durcharbeiten werden, ist er andererseits in der Lage, durch seine Weitläufigkeit auch Interessen spezialisierterer Forscher zu treffen.
Da sich die Analysen zudem meist vor der Folie eines kontroversen theoretischen Hintergrunds bewegen, wäre unter Umständen ein Vorwort, das nicht nur kurze Inhaltsabrisse liefert, sondern etwas näher in allgemeine Grundlagen und Problemkonstellationen von »Literatur und Wissen(schaft)« einführt, wünschenswert gewesen. Ein ähnlicher Zusatzservice mindestens für Nicht-Romanisten hätte durch den Abdruck deutscher Übersetzungen bereitgestellt werden können. Die Lektüre des Bandes erfordert fundierte Kenntnisse nicht nur in Deutsch und Englisch, sondern darüber hinaus in französischer, spanischer und italienischer Sprache, lediglich die russischen Passagen sind auch in der Übersetzung vorhanden – Sprachbegabung, die die Mehrheit nicht mitbringen kann. Interdisziplinären Anspruch und philologische Sorgfalt in allen Ehren – hier sollte sich jeder Leser selbst befragen, ob er ohne die Hilfestellung einer deutschen Übersetzung nicht eher über die fremdsprachigen Passagen hinwegliest, als in mühsamer Kleinarbeit die Zitatstellen in einer wenig geläufigen Sprache nachzuvollziehen. Wohl nur für die allersorgfältigsten Formalisten von Belang sei dennoch auch auf die unregelmäßige Zitierweise hingewiesen. Einige Beiträge liefern eine abschließende Bibliographie (z.B. Höfner), andere verzichten darauf und weisen ihre Quellen stattdessen ausschließlich in den Fußnoten nach (z.B. Klinkert), wieder andere direkt im Fließtext (z.B. Schäfer).
Größter Vorzug ist letztlich die hohe Qualität einzelner Beiträge (z.B. Kohlroß, Klinkert, Schäfer oder Glomb), die dem Band zusammen mit der Weite des Spektrums seiner Analysen nicht nur hohes Diskussionspotential verleiht, sondern darüber hinaus auch Relevanz in einem ebenso weiten Spektrum der (Literatur)wissenschaft.
Universität Regensburg
Neuere deutsche Literatur
Anmerkungen
[1] Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1995, 269. [zurück]
[2] Seit Edmund Gettiers berühmtem, 1963 erstveröffentlichten Aufsatz »Is Justified True Belief Knowledge?« (Analysis 23 (1963), 121-123.) herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass die JTB-Kriterien für Wissen nicht ausreichen und abgewandelt bzw. um einen vierten Aspekt ergänzt werden müssen – welcher dies sein könnte, ist nach wie vor Gegenstand von Kontroversen unter den Epistemologen. Nichtsdestotrotz ist die Variante JTB + x ein Kandidat für die Definition von Wissen, der, wie Kohlroß völlig richtig betont, keineswegs in der Versenkung verschwunden ist. Vgl. hierzu einführend etwa Robert Nozick, Philosophical Explanations, Oxford 1981, v.a. Kapitel 3.I. [zurück]
[3] Dass Dessons mit seiner Gleichsetzung von Platon und Austin in diesem Punkt unrecht hat zeigt m. E. überzeugend John Searle in seiner Antwort auf Derridas Kritik an Austin: »Austin’s exclusion of these parasitic forms [wie z.B. eben die Sprache auf der Bühne] from consideration in his preliminary discussion is a matter of research strategy; […] it does not imply any moral judgement«. (John R. Searle, Reiterating the differences: A Reply to Derrida, Glyph 1, (1977), 198-208, Zitat 205.) [zurück]
[4] Vgl. grundlegend zu dieser Problematik etwa Tilmann Köppe, Vom Wissen in Literatur, Zeitschrift für Germanistik 17 (2007). 398-410. [zurück]
[5] Vgl. zu diesem Unterfangen ausführlicher Christian Kohlroß, Literaturtheorie und Pragmatismus oder Die Frage nach den Gründen des philologischen Wissens, Tübingen 2007. [zurück]
2009-09-16
JLTonline ISSN 1862-8990
Copyright © by the author. All rights reserved.
This work may be copied for non-profit educational use if proper credit is given to the author and JLTonline.