Gerhard Lüdeker

Ein Standardwerk der Figurenanalyse

Jens Eder, Die Figur im Film. Grundlagen der Figurenanalyse. Marburg: Schüren 2008. 831 S. [Preis: EUR 24,90]. ISBN: 978-3-89472-488-7.

Warum Figurenanalyse?

Die Figur ist die grundlegendste Bezugsgröße von Erzählungen, dementsprechend gibt es nur wenige Erzählungen, die ohne Figur auskommen. Dabei müssen Figuren nicht unbedingt anthropomorph gestaltet sein, wenngleich auch Tiere oder leblose Objekte wie Automaten und Kühlschränke als Figuren in einer Erzählung meistens menschliche Züge tragen. Der Grund für diesen Tatbestand mag – philosophisch-anthropologisch gewendet – darin liegen, dass das Interesse des Menschen hauptsächlich ihm selbst gilt. Und um etwas von sich zu berichten und zu erfahren, macht sich der Mensch zum Objekt seiner Erzählungen.

Die Figur fungiert als Handlungsträger in Erzählungen und als Bezugs- sowie Erkenntnisgröße für den Rezipienten, dementsprechend ist die Figur immer wieder in wissenschaftlichen Einzelstudien aspekthaft untersucht und z.B. typologisiert oder auf ihre emotionale Wirkung hin analysiert worden. Abgesehen von zwei, in den letzten Jahren in der Literaturwissenschaft entstanden Studien, hat es bisher keinen Versuch gegeben, eine grundlegende Systematik zur Figurenanalyse vorzulegen. [1] Diesen Umstand hat sich Jens Eder mit seiner rund 800 Seiten umfassenden Arbeit Die Figur im Film. Grundlagen der Figurenanalyse vorgenommen zu beheben. Er entwickelt in erster Linie für die Figurenanalyse in Spielfilmen eine Heuristik, die einerseits verschiedene Aspekte der Figur, wie sie bisherige Theorien erarbeitet haben, berücksichtigt und andererseits interdisziplinär auf darüber hinaus gehende Erkenntnisse aus der Film- und Literaturwissenschaft aufbaut. [2] Durch diese Interdisziplinarität könnte sein vor der Hand für den Film entwickeltes Modell auch für die Analyse fiktionaler Narrative in anderen Medien interessant sein.

Die Figur im Film

Dem weitläufigen und komplexen Unterfangen, ein Modell anzubieten, mit dessen Hilfe der Gegenstand Figur in all seinen Facetten analysiert werden kann, und trotzdem lesbar und für Seminare geeignet zu sein, begegnet Eder mit einem sehr durchdachten Aufbau seines Buches. Sieben größere Teile sind in kleinere, insgesamt 14 Kapitel unterteilt, von denen einige den theoretischen Grundlagen gewidmet und entsprechend gekennzeichnet sind und andere ausschließlich der praktischen Filmanalyse dienen. In den Analysekapiteln wird das vorher erarbeitete, theoretische Fundament in komprimierter Form wiederholt, so dass kein Praxisseminar ganz ohne Theorie auskommen muss. Um seine Thesen zu veranschaulichen und die Funktionsweise seiner erarbeiteten Kategorien vorzuführen, nutzt Eder, neben vielen anderen Beispielen, vor allem die Filme Casablanca (Michael Curtiz, USA 1943) und The Death and the Maiden (Roman Polanski, USA 1994), wodurch sein Werk einen erfreulichen Grad an Anschaulichkeit erreicht.

In einem ersten theoretischen Teil lässt Eder die bisherigen Forschungsansätze zur Figur Revue passieren, ordnet sich selbst theoretisch ein und legitimiert vor allem sein Unternehmen. Die Wissenschaft hat sich der Figur zunächst auf normative Weise genähert. Zu nennen wäre vor allem Aristoteles Poetik, die den Akzent auf die Figur als Handlungsträger in der Tragödie legt und bestimmte Eigenschaften einfordert, über die ein Held verfügen sollte, um beim Publikum eine kathartische Wirkung zu erzielen und damit eine soziale Funktion auszuüben. Erst im 20. Jhd. wurden normative zugunsten von deskriptiven Ansätzen zurückgestellt. Für die in dieser Zeit entstandenen Theorien gilt allerdings, dass ihr Erkenntnispotential immer schon durch den verwendeten, einem speziellen Interesse geschuldeten, Ansatz limitiert ist. Dementsprechend konzentrieren sich strukturalistische Theorien auf die Figur als Textstruktur und ihre Bedeutung als komplexes Zeichen. Das hat, wie im Falle von Greimas’ Aktantenmodell, zu sehr ausdifferenzierten, aber auch sehr abstrakten Klassifikationen geführt. Abstrakten Reduktionen auf den Text entgehen psychoanalytische Modelle, sie wenden sich dem Produzenten, dem Rezipienten und den Figuren zu und untersuchen z.B., wie sich in früher Kindheit erfahrene sexuelle Prägungen als unterbewusste Wünsche und Begehren realisieren. Dabei wird neben Freud besonders auf Jacques Lacan rekurriert. Die in den letzten 20 Jahren entstandenen kognitiven Theorien reagieren dagegen auf den Umstand, dass die Darstellungsweise, der Charakter und die Handlungen von Figuren den Rezeptionsprozess von Erzählungen auf kognitive und emotionale Weise in entscheidender Weise prägen. Ähnlich wie in der realen Interaktion mit anderen Personen kann die Bewertung der Charaktereigenschaften und fiktiven Aktionen und Interaktionen von Figuren auf der Rezipientenseite Zustimmung finden oder Ablehnung hervorrufen. Besonders im angelsächsischen Raum (z.B. Murray Smith), aber auch verstärkt in Deutschland (z.B. Ralf Schneider) haben Theoretiker, die mit kognitiven Ansätzen arbeiten, mithilfe verschiedener Ansätze und Akzentsetzungen untersucht, wie der dynamische Prozess der Verarbeitung textueller, figurenbezogener Informationen abläuft und unter welchen Bedingungen bestimmte kognitive und emotionale Reaktionen beim Rezipienten ausgelöst werden.

Eder hat den Anspruch, mit seinem Modell alle Aspekte der Figur, von der textuellen Struktur, über das Objekt emotionaler Anteilnahme bis hin zu gesellschaftlichen Bedeutungen, abzudecken und gleichzeitig Anknüpfungs- und Integrationspunkte für andere Theorien anzubieten. Um möglichst unkontroverse Voraussetzungen zu machen, klärt er zunächst in der Tradition der analytischen Philosophie den ontologischen Status von Figuren und legt damit ein Fundament, das festlegt, ob und in welcher Weise Figuren existieren. Er bestimmt sie, anders als Strukturalisten es tun würden, nicht als Zeichen im Text, aber auch nicht als Vorstellungen im Kopf, sondern als abstrakte Gegenstände des kommunikativen Handelns, die als Teil der sozialen Wirklichkeit, in der Art wie Zahlen und Gesetze, existieren (vgl. 68). Dieser Definition, die gewisse ontologische und fiktionstheoretische Implikationen mit sich bringt, würden sich z.B. Vertreter der Possible Worlds Theory nicht anschließen können, falls sie in der Tradition von David Lewis annähmen, dass fiktive Welten und ihre Bewohner tatsächlich existierten. Solche gravierenden ontologischen Voraussetzungen sind jedoch eher Außenseiterpositionen, während Eders plausibel argumentierte Grundlegung weniger problematisch und daher eher konsensfähig ist. [3] Aus dieser Ausgangsbasis heraus entwickelt Eder seine eigene Theorie, die nun allerdings berücksichtigen muss, dass Figuren durch Kommunikation entstehen, genauer, durch fiktionale und durch metafiktionale Kommunikation. Fiktionale Kommunikation bezieht sich auf den Text, seine Produktion und Rezeption, metafiktionale Kommunikation findet in Rezensionen, Zuschauergesprächen, etc., also außerhalb des Textes statt. Dieser pragmatischen Bestimmung der Entstehung von Figuren begegnet Eder mit einem kognitiven Ansatz, der die Produktion, den Text und die Rezeption von Figuren mit einschließt und damit alle bisher beschriebenen Ansätze umfasst.

Ausgehend von einem allgemeinen Modell der Filmwahrnehmung entwickelt er sein Modell der Figurenrezeption. Die Filmwahrnehmung verläuft gemäß einschlägiger kognitiver Theorien in vier Stufen: der basalen Wahrnehmung, die vorbewusst ist, aber bereits affektiv sein kann, darauf aufbauend, der Bildung mentaler Modelle, gegenüber denen man bewusste kognitive und emotionale Reaktionen zeigen kann, der Erschließung indirekter, z.B. metaphorischer Bedeutungen dieser Modelle und am Ende der möglichen Reflexion über kommunikative Kontexte, z.B. über die sozialen Diskurse, die zur Produktion eben der verwendeten narrativen Filmstruktur geführt haben (vgl. 101).

Die Uhr der Figur

Das auf diesen Vorüberlegungen aufbauende, im 2. Teil des Buches entwickelte Modell nennt Eder die Uhr der Figur. Dieses Modell ist notwendigerweise rezeptionsorientiert, weil, laut Eder, das gesamte Feld auf Figuren bezogener Kommunikation auf ihre Rezeption hin angelegt ist und somit „die Eigenschaften von Figuren letztlich nur im Rückgriff auf Formen der Rezeption festgestellt werden“ können (132). Dazu gehören von Filmemachern intendierte, empirisch messbare Formen sowie die Rezeption eines idealen Zuschauers. Dies ist möglicherweise für besonders textimmanent arbeitende, in strukturalistischer Tradition stehende Linguisten oder Narratologen ein weiterer strittiger, aber basaler Punkt in Eders Argumentation. Man muss sich an dieser Stelle zum einen Eders Grundannahme vor Augen führen, der gemäß Figuren kommunikative Artefakte sind und daher erst in der Rezeption vollständig vorhanden sein können. Zum anderen ist jede Form der Figurenanalyse immer zuerst eine Figurenrezeption, egal ob text- oder kontextorientiert.

Die Uhr der Figur ist als heuristisches Modell gedacht, das den Blick auf vier Aspekte der Rezeption und Analyse von Figuren lenken will, dabei aber nicht als statisch, sondern als dynamisch und ausbaufähig konzipiert ist (vgl. 150). Diese vier Aspekte sind die Figur als (1) Artefakt, (2) als fiktives Wesen, (3) als Symbol und (4) als Symptom.

Auf der ersten, der Artefakt-Ebene fragt dieses Modell nach den im Film verwendeten Darstellungsmitteln, die dem Zuschauer Informationen über die Figuren vermitteln und dadurch seine Wahrnehmung und seine kognitiven sowie emotionalen Reaktionen lenken (Bordwell spricht von cueing). Für die Informationsvermittlung zentrale Darstellungsmittel sind Besetzung, Star Image und Performance der Darsteller sowie Mise-en-scène, Kameraführung, Tongestaltung, Musik und Montage. Diese Artefakt-Eigenschaften von Figuren verdichten sich auf der zweiten Ebene im Kopf des Zuschauers zu einem mentalen Modell, das auf dieser Grundlage und mittels interpolierender Ergänzungen eine komplexe fiktive Person, einen Bewohner einer erzählten Welt konstituiert. Um den Status, die Bedeutung und die Wirkung solcher fiktiven Personen analysieren zu können, muss man sie anhand ihrer Eigenschaften beschreiben – in etwa so, wie man einen realen Menschen beschreibt, und zwar anhand der Körperlichkeit (wozu die Gestalt, die Gestik, die Mimik, die Kleidung etc. gehören), der Sozialität (womit u.a. der soziale Status, Beziehungen, Macht etc. gemeint sind) und der Psyche. Die somit gebildeten mentalen Figurenmodelle können auf der dritten Stufe der Uhr der Figur als Symbole verstanden werden und somit möglicherweise Schlüsse auf weitere, indirekte Bedeutungen zulassen. Und schließlich können diese fiktiven Personen auf einer letzten Ebene Symptome sein für eine bestimmte Verfasstheit des Produzenten, z.B. Angst vor Frauen, oder einen bestimmten sozio-kulturellen Kontext bzw. Diskurs, die den kommunikativen Akt oder Text in seiner aktuellen Form geprägt haben. Kurz, auf dieser Ebene werden die Gründe für die Konzeption und Rezeption der Figur (also 1 und 2) verhandelt, die ihr Bedeutungen in einem gesellschaftlichen Kontext verleihen können, z.B. Typus einer Generation oder Ausdruck eines bestimmten Menschenbildes zu sein.

Das zentrale Element dieses Modells ist die Bildung mentaler Modelle, in denen die auf der Darstellung beruhende Wahrnehmung zu einer ganzheitlichen fiktiven Person verbunden wird, die als in bestimmte Kontexte eingebettet vorgestellt wird, wozu der narrative Kontext der Filmerzählung genauso gehört wie ein kommunikativer, eine Botschaft vermittelnder Kontext, der näher an der außerfilmischen Wirklichkeit angesiedelt sein kann. In all diesen Kontexten steht die fiktive Person in Relation mit anderen Figuren, auch mit dem Selbstbild des Zuschauers kann sie in Wechselwirkung treten – wobei dieses Selbstbild natürlich auch ein mentales Modell ist. Diese Auseinandersetzung mit dem Selbstbild des Rezipienten kann verschiedene Formen haben, vollständige Ablehnung, Unverständnis, aber auch Verständnis oder sogar Identifikation. Emotionen für oder gegen eine Figur lassen sich somit auf der Grundlage des Kontextes und der Dispositionen des Rezipienten in Auseinandersetzung mit den durch die Darstellung vermittelten, mentalen Figurenmodellen verstehen.

Fazit

Es dürfte deutlich geworden sein, dass ältere figurenbezogene Theorien im Grunde immer Teile dieser vier Ebenen unter einer entsprechend eingeschränkten Fragestellung alleinstehend analysiert haben. Mit Hilfe von Eders Modell lassen sich solche Herangehensweisen in den dynamischen Prozess der Figurendarstellung und -rezeption integrieren, indem höherstufige Analysen, z.B. die Figur als Symptom für ein bestimmtes Frauenbild, auf den grundlegenderen Stufen der Darstellung und des darauf aufbauenden mentalen Modells fundiert werden. Darüber hinaus ist das Buch klar und verständlich geschrieben, es verfügt über eine ganze Reihe von Abbildungen aus Filmen und über Grafiken und Tabellen, die die Argumentation anschaulich zusammenfassen. Das Register ist äußerst hilfreich, um einzelne Begriffe, z.B. „Affekt“, nachzuschlagen und erfreulicherweise ist nicht nur der Umfang des Buches sehr üppig bemessen, sondern auch die Filmo- und Bibliografie im Anhang. Eders Modell bietet viele Anknüpfungspunkte für die weitere Erforschung des Phänomens Figur, es lässt sich problemlos für die Analyse von anderen fiktionalen, narrativen Medien, wie z.B. der Literatur, verwenden und kann daher ohne Weiteres als bisheriges Standardwerk für die Figurenanalyse bezeichnet werden.

Gerhard Lüdeker

Universität Bremen

Fachbereich 10: Sprach- und Literaturwissenschaften

Institut für kulturwissenschaftliche Deutschlandstudien (ifkud)

Anmerkungen

[1] Einen grundlegenden kognitiven Ansatz liefert Ralf Schneider, Grundriß zur kognitiven Theorie der Figurenrezeption am Beispiel des viktorianischen Romans, Tübingen 2000. Ebenfalls auf einer kognitiven und zugleich narratologischen Basis stehen die Überlegungen von Fotis Jannidis, Figur und Person, Berlin 2004. [zurück]

[2] Eder nennt z.B. Murray Smith, Engaging Characters, Oxford 1995, Schneider 2000 und Jannidis 2004 als Einflüsse. [zurück]

[3] Neben den von Eder genannten Gewährsleuten wird sein Ansatz auch in Maria E. Reicher, Einführung in die philosophische Ästhetik, Darmstadt 2005, vertreten. [zurück]

2009-07-22

JLTonline ISSN 1862-8990

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