Carolina Kapraun

Die ausklingende Postmoderne

Thomas Homscheid, Interkontextualität. Ein Beitrag zur Literaturtheorie der Neomoderne. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007. 369 S. (Preis: EUR 49,80). ISBN: 978-3826037719.

Sowohl die Literaturproduktion als auch ihre Rezeption ist stets historisch. Nicht nur der Autor (als historisches Subjekt) greift auf Traditionen der Literaturgeschichte zurück und ist in seiner schöpferischen Leistung von literarischen wie außerliterarischen Bedingungen beeinflusst, auch der Leser hat im Akt des Verstehens bzw. der Textauslegung selbst immer Kontexte im Blick, die ihm bei der Bedeutungszuweisung hilfreich sind. Damit sind Literaturproduktion wie -rezeption situationsbedingt. Thomas Homscheid leuchtet in seiner Studie Interkontextualität. Ein Beitrag zur Literaturtheorie der Neomoderne ebendiese situative Verortung von Literatur aus.

1. Von der Postmoderne zur Neomoderne

Ausgangspunkt seiner literaturtheoretischen Frage ist eine Kritik an der postmodernen These vom Tod des Autors, die sich mit der »Auflösung jeder personalen Kategorie zu Gunsten des amorphen Objekts« (16) aller jenseits des materiellen Textes liegender Kriterien entledigt. Den Autor als Textproduzent aus dem Betrachtungsfokus auszuschließen, zieht aber die Folge nach sich, Fragen nach der Textgenese, dem Einfluss, den Quellen oder der ökonomischen Situation der Textproduktion nicht mehr stellen zu können. Im Begriff der Interkontextualität verbalisiert sich demnach Homscheids zweifaches theoretisches Anliegen: Mit der Einführung des Kontextbegriffs soll in Abgrenzung zum postmodernen textzentrierten Paradigma der außertextuelle Bereich wieder in die Literaturwissenschaft eingeführt werden. Kon-Text ist daher in einem ganz wörtlichen Sinne das, was mit dem Text zu tun hat. Vor allem die Autorinstanz soll so wieder zu ihrem Recht kommen und die Fokussierung eines »Rahmen[s] als soziale[m] Interaktionsraum, innerhalb dessen Literatur produziert, rezipiert und tradiert wird« (23), zulassen.

Gleichzeitig entwickelt der Autor ein dialogisches Modell der Kontexte – und hier wird die deutliche Anlehnung an die Intertextualitätstheorie spürbar. Seine These basiert auf dem Gedanken einer Interrelation und damit »einer interkontextuellen Betrachtung, die Literatur nicht bloß als textuell wahrnehmbares Zeichenphänomen versteht, sondern das Literarische als interagierendes und kommunikatives System, als Wechselbeziehung von dialogfähigen Instanzen« (10) betrachtet. Vor allem die Rolle des Autors hierbei wird betont. Als Bindeglied zwischen Literaturtradition und innovativer Textproduktion ist er zugleich rezeptive und produktive Instanz und markiert damit eine wesentliche Schnittstelle im Literatursystem, die zwischen verschiedenen historischen wie zeitgenössischen Kontexten vermittelt. Der Anspruch, den Homscheid mit seiner Theorie verfolgt, ist demzufolge die Verschränkung von textinternen wie textexternen Parametern der Literaturtheorie, zumal die postmoderne Herangehensweise, die es zu überschreiten gilt, diese ganzheitliche Perspektive auf Literatur nicht zu leisten vermag. Er beruft sich dabei im Rekurs auf Habermas oder Jeffrey Alexander auf die »Emergenz einer erneuerten Moderne« (18), eine »Rückkehr aus der Postmoderne in den erneuten Modernismus« (19), den er mit dem Begriff der »Neomoderne« belegt und mit dem Anspruch einer Literaturtheorie verbindet, die Literatur sowohl im Rahmen eines Kommunikationsmodells und ihrer Aktanten als auch aus einer textgenetisch autorspezifischen Perspektive heraus begreift.

2. Die Kontexte der Literatur

Von dieser These ausgehend wird die Diskrepanz der situativen Verortung von Kunstwerken bei gleichzeitigen autonomieästhetischen Ansprüchen ausgelotet. In seinem zweiten Kapitel fragt Homscheid schließlich nach den Theorien und Beschreibungsformen von Originalität und Reproduktion sowie deren historischen Ausprägungsformen. Dieses Vorgehen trägt dem ›neomodernen‹ Anspruch Rechnung, den Fokus auf die Autorinstanz und deren kontextuelle Verschränkung im Spannungsfeld von Tradition und Originalität zu richten. Eine »Theoriegeschichte [der] reproduktiven Phänomenologie des literarischen Systems« (29) folgt. Dieses Spannungsverhältnis markiert der Autor als ein Kardinalproblem der Literatur, weshalb es sich als Grundidee und Argumentationsrahmen durch das gesamte Buch zieht; seine Frage, wie ein Kunstwerk zugleich dem Anspruch nach autonom, d.h. »ubiquitären Geltungs- und Wirkungsanspruch« besitzen und textgenetisch verortet sein kann, beantwortet Homscheid schließlich mit einem universalen Erklärungsansatz, indem er verschiedene Schlagworte der literarischen Kreativitätsdebatte diskutiert. Begriffe der Originalität und der Reproduktion werden in einer »Theoriegeschichte der reproduktiven Phänomenologie« (31) historisch rekonstruiert. Hierbei stellt er wesentliche Theoriemodelle von der Antike bis zur modernen Intertextualitätstheorie dar und leuchtet Spielarten der Reproduktion wie Mimesis, Imitatio, Imitatio veterum, Aemulatio oder Epigonalität aus – sowohl im literarischen als auch literaturwissenschaftlichen Diskurs.

Die Übertragung des literarisch-poetologischen Gedankens, Literatur entstehe immer im Spannungsverhältnis zwischen genialischer Autonomie und Tradition, auf die Ebene eines literaturtheoretischen Modells erfolgt schließlich im dritten Kapitel. Neben der historischen Darstellung der Frage nach den normativen Aspekten der Epigonalität sowie der Betrachtung der medialen Ausdifferenzierung der Schriftkultur fragt Homscheid daher anschließend nach den möglichen Rahmen- und Entstehungsbedingungen künstlerischen Schaffens. Anthropologische Voraussetzungen der Kulturtechnik Literatur werden ebenso beleuchtet wie die Entstehung des modernen literarischen Feldes und seiner ökonomischen Zwänge, die Rolle der Literatur in Bezug auf nationale Selbstbehauptungsdiskurse, politische und soziopolitische Einflüsse auf die Textgenese, religiöse Rahmenbedingungen oder die Faktoren der Literaturkritik und Kanonbildung.

Und spätestens hier ist der Leser zumindest irritiert. Denn der Anspruch des Autors, eine kontextuelle Großtheorie zu entwerfen, die nicht nur die postmodern entstandenen Versäumnisse nachholt, sondern ferner das zentrale Paradigma der Literaturbetrachtung liefert (die Reproduktivität) und zudem anthropologische bzw. psychologische Motivationserklärungen für die literarische Produktion an sich bereit hält sowie sämtliche Rahmenbedingungen literarischer Produktion erörtert, lässt den Leser fragen, was hier eigentlich nun genau vorliegt, bzw. welche Fragestellung wann auf welcher Ebene erläutert wird. Geht es hier um ein ethnologisches, literarhistorisches, literaturtheoretisches, produktionsästhetisches, rezeptionsästhetisches, psychologisches Anliegen? Dass Literatur in all diese Bereiche eingebunden ist, ist keine Frage. Von jeder Seite kann und wurde sie bereits zu Recht beleuchtet. Eine die Partialtheoreme vereinigende Universaltheorie ist daher ein verständliches Anliegen. Allerdings kann dies angesichts der Komplexität des Vorhabens nur geleistet werden unter Maßgabe starker Vereinfachung. Diese allerdings greift schnell zu kurz und führt allzu leicht zu Allgemeinplätzen. Auch Homscheids Studie unterliegt diesem Problem, wenn er beispielsweise auf nur wenigen Seiten die Rolle des Autorkonzepts innerhalb der Literaturwissenschaft problematisiert oder, ebenso skizzenhaft, zu der Einsicht gelangt, Literatur sei national, religiös oder politisch motiviert, dabei aber die genauen Einflüsse und Wege der Textgenese nicht nachzeichnet. Auffällig sind auch die spärlichen und wenig aktuellen Verweise auf die Forschungsliteratur. Der Autorbegriff beispielsweise wird im deutschen Sprachraum seit 1999, seit den Bänden »Rückkehr des Autors« und »Autorschaft. Revisionen und Positionen« wieder zahlreich – ebenso wie der Werkbegriff auch – kritisch diskutiert. Von einem noch bestehenden, zementierten postmodernen Paradigma für die gegenwärtige Wissenschaft ist hier demnach kaum auszugehen. Statt die Postmoderne als Ausgangspunkt und zentrales Paradigma gegenwärtiger Literaturtheorie zu nehmen, wäre es mithin sicher sinnvoller gewesen an neuere, postmodernekritische Debatten anzuknüpfen und die mittlerweile sehr differenzierte Literaturbetrachtung aufzugreifen, als an einen für die gegenwärtige Literaturwissenschaft nicht mehr gängigen und schon gar nicht paradigmatischen Ansatz anzuknüpfen bzw. dessen nun endlich erfolgende Überwindung zu proklamieren. Die mangelnde Auseinandersetzung mit aktuellen Theoriedebatten spiegelt sich ferner in der Bibliographie wider, die hauptsächlich auf Literatur der 70er und 80er Jahre rekurriert; als Eckpfeiler der Studie sind Namen wie Adorno, Bachtin, Barthes, Foucault, Kristeva, Luhmann oder Lucács zu nennen, aber auch hier erfolgt keine eingehende, kritische Auseinandersetzung. Thesen dieser und anderer Texte werden nicht diskutiert, mögliche Referenzpunkte wie die empirische Literaturwissenschaft bleiben völlig außer Acht, obwohl hier für die kommunikationstheoretische Perspektive sicher anzuknüpfen wäre.

3. Interkontextualität

Im vierten Kapitel schließlich widmet sich Homscheid der Frage nach einer möglichen Taxonomie der verschiedenen Intertextualitätstypen. Dabei versucht er zunächst seine Theorie in die Tradition der Hermeneutik zu stellen:

Die Verbundenheit zum Kontext unter Einbezug der subjektiven Institutionen und Element [sic] des Kontextes stellt den Begriff der Interkontextualität in die Nähe und in die Tradition einer hermeneutischen Theorie, wie sie von Schleiermacher, Dilthey, Heidegger und Gadamer entworfen und weiterentwickelt worden ist. (224)

Ein paar Seiten weiter wird dann auf die Relevanz Pierre Bourdieus hingewiesen, die »bahnbrechend« gewesen sei, da sie »nicht nur eine Abkehr von der partikularistischen Fokussierung entweder auf den Text oder den Autor« impliziere, sondern »eine umfassende Betrachtung des Werks und seiner artistischen Immanenz« intendiere (230). Die Taxonomie selbst allerdings lehnt sich an die klassische Intertextualitätstheorie bzw. ihre Weiterentwicklung, die »Intermedialitätstheorie«, an und basiert auf den Überlegungen postmoderner intertextueller Taxonomieversuche. Auch hier stellt sich erneut die Frage, wie eine solche Globaltheorie, die gleichzeitig hermeneutisch und feldtheoretisch arbeiten will, schließlich funktionieren soll. Welcher Frage sollte so eine Theorie folgen, zumal die ihr zu Grunde liegenden Annahmen auf verschiedenen methodologischen und logischen Ebenen liegen? Soll hier das Kommunikationssystem ›Literatur‹ fokussiert werden, geht es hier um Einzeltexte, um ein Modell von Literatur oder um einen Vorschlag eines hermeneutischen Verfahrens? Die Frage nach der praktischen Umsetzung bleibt Homscheid dem Leser ebenso schuldig wie eine konkrete Klärung dieser Probleme. Stattdessen liest sich das Buch wie eine recht locker geschriebene Einführung zum Thema, was Literatur grundsätzlich und eigentlich alles sein könnte.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, was das Modell der Interkontextualität der Literaturwissenschaft konkret einbringt. Der Theoriegewinn der Einführung eines ›interkontextuellen Systems‹ Literatur indes wird bei der Lektüre des Buches nie ganz klar. Inwiefern sich dieser Betrachtungswinkel im Einzelnen von der klassischen Einflussforschung, der Feldtheorie, der Diskurs- oder Intertextualitätstheorie unterscheidet, kann der Leser aufgrund der methodischen Verwirrung leider nicht mehr nachvollziehen.

Zudem: Methoden sind stets perspektivisch. Der Methodenpluralismus der Literaturwissenschaft trägt dem Rechnung. Der Grund: Jede ›Methode‹ folgt einer bestimmten und spezifischen Fragestellung. Ihre Amalgamierung ist deshalb nicht immer sinnvoll, da die verschiedenen von ihnen in den Blick genommen Teilfragen unter Umständen gar nicht kompatibel sind und Phänomene so eher verwischt als erhellt werden. Bliebe man der begrifflichen Terminologie bereits etablierter Theorie-Modelle treu, so wäre es zumindest möglich gewesen, systematisch zwischen Umständen der Positionierung im literarischen Feld, literarischen Quellen, ideengeschichtlichen Motivkomplexen oder poetologischen Vorstellungen zu unterscheiden: Phänomene, die zunächst einmal auseinander zu halten sind, um sie in ihrer Spezifik zu verstehen. Am Ende stellt sich daher die Frage, ob das theoretische Postulat Homscheids nicht mit bereits bestehenden literaturwissenschaftlichen Vorstellungen der Literaturgeschichte ausgekommen wäre. Eine ›Neomoderne‹ auszurufen wäre vor diesem Hintergrund gar nicht notwendig gewesen.

Homscheids Arbeit ist so vor allem als ein Plädoyer für die ›Überwindung‹ des postmodernen Paradigmas zu lesen, sofern es soziale wie situative Bedingungen des Textes ausschließt. Dies ist vor dem Hintergrund der noch immer kursierenden postmodernen Theorie berechtigt, vor dem der Methoden-pluralen gegenwärtigen Literaturtheorie allerdings gleichzeitig zu kurz greifend, weil es die Entwicklung des germanistischen Faches gänzlich ignoriert.

Carolina Kapraun

Philipps-Universität Marburg

Institut für Neuere Deutsche Literatur

2009-03-11

JLTonline ISSN 1862-8990

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