Benjamin Gittel

Zur Beziehung von außer-poetologischem Autorwissen und Arten der literarischen Darstellung

Olav Krämer, Denken erzählen. Repräsentationen des Intellekts bei Robert Musil und Paul Valéry. (spectrum Literaturwissenschaft/spectrum Literature. Komparatistische Studien/Comparative Studies, Bd. 20) Berlin/New York: de Gruyter 2009. XI, 591 S. [Preis: EUR 109,95]. ISBN: 978-3-11-021095-8.

Das unter der Formel »Wissen und Literatur« firmierende Untersuchungsfeld erfreut sich in jüngerer Zeit wachsender Aufmerksamkeit. Untersucht wurden bisher vor allem die modifizierende »Aufnahme« bestimmter Wissensbestände durch literarische Texte und ihre Rolle für deren Interpretation, [1] die Rolle literarischer Darstellungsformen bei der Genese und Rechtfertigung von Expertenwissen, die Beeinflussung literarischer Schreibweisen durch Beobachtungsmethoden und Praktiken von Expertenkulturen sowie die Möglichkeit spezifisch-ästhetischer bzw. genuin literarischer, nicht-propositionaler Erkenntnisformen.

Mit dem primären Ziel zu zeigen, dass die theoretischen Konzeptionen Robert Musils und Paul Valérys über das Denken ihre jeweiligen literarischen Darstellungen von Denkprozessen geprägt haben, verhandelt die von Olav Krämer vorgelegte Untersuchung einen bisher wenig beachteten Teilaspekt dieses Untersuchungsfeldes, nämlich den Zusammenhang von genuin außer-poetologischem Autorwissen mit Arten der literarischen Darstellung bzw. Schreibweisen. [2] Im Folgenden wird vor allem dieser Aspekt der inspirierenden Untersuchung Krämers, die sich zudem am Schnittpunkt zweier bereits existierender Untersuchungsfelder – der narratologischen Erforschung der Darstellung von Bewusstseinsprozessen in literarischen Texten und der Untersuchung der Entstehung neuer Textgattungen und Schreibweisen im Rahmen der Moderneforschung – befindet, in den Mittelpunkt gerückt.

1. Aufbau, Vorannahmen und zentrale Thesen der Arbeit

Ziel der Untersuchung Krämers ist ein doppeltes: Erstens Musils und Valérys theoretische Auffassungen über das Denken zu rekonstruieren, in ihrem ideen- und wissenschaftsgeschichtlichen Kontext zu verorten, und zweitens zu zeigen, dass ihre theoretischen Konzeptionen die jeweiligen literarischen Darstellungen geprägt haben. Die Untersuchung hat vier Teile: Eine Darstellung des wissenschaftsgeschichtlichen Kontexts, je einen Teil zu Musil und Valéry, der jeweils Theorierekonstruktion und Analyse ausgewählter literarischer Texte umfasst, und einen komparativ-kontrastierenden Schlussteil. Eine vermittelnde Funktion kommt der Rekonstruktion poetologischer und programmatischer Auffassungen Musils und Valérys über die Darstellung von Denken in der Literatur zu, die jeweils zwischen die Theorierekonstruktion und die Untersuchung der literarischen Gestaltungen von Denkprozessen geschaltet ist.

Die konzise, gut lesbare Darstellung einer »Umbruchphase in der Geschichte philosophischer und wissenschaftlicher Konzeptionen des Denkens« (3) behandelt unter der Leitfrage nach der Funktionsweise des Denkens (»Mechanismen«) die Ablösung assoziationstheoretischer Ansätze durch experimental- und gestaltpsychologische und unter der Leitfrage nach den spezifischen »Leistungen« und dem »Wert« des Denkens populäre akademische und außerakademische philosophische Positionen sowie die Standpunkt Freuds. Während die Kontextualisierung selbst dezidiert keine einflussgeschichtliche sondern eine ideengeschichtliche Ausrichtung hat, spielen für die nicht unproblematische Annahme eines »gemeinsamen Kontext[s]« (10) über die Grenze des deutschen und französischen Kulturraums hinweg die intensiven »Kommunikations- und Transferbeziehungen zwischen diesen Ländern« (10) eine Rolle.

Die Vorentscheidung, sich bei der Rekonstruktion der Positionen Musils und Valérys eines alltagssprachlichen, psychologischen Vokabulars zu bedienen, um sie nicht schon allein durch die Wahl der Rekonstruktionssprache speziellen psychologischen Positionen anzunähern, kann überzeugen. [3] Die Rekonstruktion erfolgt auf breiter Textbasis (Essays, Tagebucheinträge, Briefe und Nachlassaufzeichnungen) und greift im Falle Musils zusätzlich auf Reflexionen des Erzählers und des Protagonisten im Roman Der Mann ohne Eigenschaften zurück (insbes. auf die Kapitel I.11, I.13, I.28, I.72, I.109, I.116 [4]) Diese grundlegende Entscheidung für die Einbeziehung fiktionaler Quellen wird von Krämer explizit benannt und dahingehend reflektiert, dass solche Ausführungen nur dann Musil zuschreibbar sind, wenn sie signifikante Ähnlichkeiten mit Aussagen in Musils Tagebüchern oder Essays aufweisen. Unabhängig von der hier nicht im Einzelnen zu diskutierenden Frage, ob Krämer die eigene methodische Vorgabe immer voll erfüllt, scheint dieses Vorgehen jedoch grundsätzlich problematisch: scheint doch der Mehrwert der Aussagen aus fiktionalen Quellen nur dann zu bestehen, wenn diese sich nicht in Tagebuchaufzeichnungen oder Essays finden. [5] Das Problem der Theoriehomogenität bzw. -kontinuität, die jede Rekonstruktion wenigstens in Teilen unterstellen muss, löst Krämer bei Musil eher synthetisierend, indem er inhaltliche Verbindungen von Dichotomien unterschiedlicher genetischer Provenienz herstellt. Einige der so hergestellten Verbindungen können dabei mehr überzeugen als andere, bspw. die Auffassung »lebender Gedanken« als Subklasse »nicht-ratioïder Gedanken« mehr als die Verbindung von »lebenden Gedanken« und »anderem Zustand«. Bei Valéry verfährt die Studie eher analytisch, indem eine frühe Phase und eine späte Phase unterschieden werden, deren Grenze durch den Text Note et Digression (1919) markiert wird.

Im Ergebnis bestätigt die Kontextualisierung von Musils und Valérys theoretischen Reflexionen ihre bereits zu Anfang herausgestellte »idiosynkratische[] und synkretistische[] Natur« (16). So werden Affinitäten von Musils Konzeption zu phänomenologischen, evolutionsbiologischen, konstitutionspsychologischen und Nietzscheanischen Ansätzen aufgezeigt. Als fruchtbar erweist sich dabei die analytische Trennung von Aussagen zu »Leistungen des Denkens« und dem »Wert des Denkens«, die es erlaubt zu zeigen, wie Musil einerseits an einer Deutung des Denkens im Lichte seiner Selbsterhaltungsfunktion partizipiert, gleichzeitig aber im Zusammenhang mit einer normativ aufgeladenen anthropologischen Konzeption zu Dichotomien verschiedener Denk- bzw. Erkenntnisarten kommt, die den Wert des Denkens nach anderen, nicht-evolutionistischen Maßstäben bemisst. In Bezug auf Valéry stellt Krämer zum einen – trotz der vielfältigen ablehnenden Äußerungen Valérys – seine anfängliche Nähe zur Assoziationslehre, speziell in der Variante Ribots, heraus und zeigt zum anderen, dass Valéry eine pragmatisch-evolutionsbiologische Explikation des Denkens und seine Bewertung nach dem Maßstab des biologischen Nutzens nicht nur ablehnt, sondern im Laufe seines Schaffens mit Idealvorstellungen wie der »puissance intellectuelle« und der Einheit von Selbst- und Welterkenntnis dazu konträre Wertmaßstäbe entwickelt.

Die sehr textnahe, manchmal etwas zu ausgedehnt paraphrasierende Untersuchung literarischer Darstellungen von Denkprozessen, die sich eines konventionellen narratologischen Vokabulars bedient, akzentuiert gegenüber einer klassischen, narratologischen Untersuchung der Darstellung von Bewusstseinsprozessen wie etwa Dorrit Cohns Transparent Minds, aber auch gegenüber den zahlreichen zu Musils Roman existierenden narratologischen und stilistischen Untersuchungen den Prozesscharakter von Denkvorgängen, ihre interne inhaltliche Struktur, ihren Zusammenhang mit der raumzeitlichen Situierung des denkenden Subjekts sowie seinen emotionalen und volitionalen Zuständen. [6] Zur Analyse der Substruktur der Denkprozesse wird die textlinguistische Unterscheidung von Narration, Deskription, Explikation und Argumentation herangezogen. Die Analyse ausgewählter, einschlägiger Kapitel des Mann ohne Eigenschaften ist vor allem mit dem Verhältnis der Darstellung von Gefühlen und Denkvorgängen befasst. Dabei kann Krämer zeigen, dass Gefühle zum einen nicht selten als »Anstoß zu Gedankengängen« (291) fungieren, insofern die Figuren durch ihre reflexive Klärung eine jeweils von verschiedenen Graden der Aufrichtigkeit bzw. Selbstdurchsichtigkeit geprägte Selbstaufklärung betreiben, zum anderen, dass sie für die Figuren selbst eine evaluative Funktion haben können, insbesondere, wenn sie als Endpunkt von Denkprozessen dargestellt werden.

Krämer stellt nun mehrere Bezüge zwischen Musils Konzeption des Denkens und den literarischen Darstellungen von Denkvorgängen her: Er deutet seine Befunde erstens vorsichtig als eine präzisierende Illustration von Musils theoretischer Vorstellung eines nicht-ratioïden Denkens, das wesentlich eine »Interaktion zwischen Gefühl und Gedanken« (293) beschreibe, zweitens als eine Umsetzung von Musils Anfang der zwanziger Jahre im Zusammenhang mit seiner Krisendiagnose entwickelter programmatischer Forderung einer Analyse und Ordnung der »Gefühls- und Ideenwelt«, die eine »zeitgeschichtlich-aktuelle« und eine »anthropologische« Dimension umfasse (164). Unter dem ersten Aspekt subsumiert Krämer die ideologiekritische, entlarvende Darstellung von Figuren durch das Aufdecken des Zusammenhangs ihrer Überzeugungen und der »Aufrechterhaltung des seelischen Gleichgewichts und des Selbstwertgefühls« (294), d.h. eine Konzeption, die zuvor v.a. anhand des Romankapitels I.109 näher entfaltet wurde; unter dem zweiten die Untersuchung der emotional-kognitiven Selbstaufklärung und Selbstdeutung.

Was Valéry angeht, ergibt die Untersuchung der Essays Introduction à la Méthode de Léonard de Vinci (1895) und L’homme et la coquille (1937), der Erzählung La soirée avec Monsieur Teste (1896) und einiger ausgewählter Kurzprosa und Prosagedichte im Hinblick auf die Darstellung von Denkvorgängen ein sehr heterogenes Bild, das sehr vielfältige, unterschiedlich plausible Deutungen ihres Zusammenhangs mit den theoretischen Konzeptionen nach sich zieht. Die Berücksichtigung der beiden Essays für die Untersuchung ist dabei im Hinblick auf die Rede vom »erzählten Denken« aus der Perspektive eines klassischen, aber auch eines strukturalistischen Narrativitätsbegriffs nicht unproblematisch. [7] Krämers Legitimierungsstrategie mit dem Hinweis auf das, was man eine »Personalisierung der Reflexion« [8] nennen kann, kann im Fall der Introduction im Gegensatz zu L’homme et la coquille, wo mehrfach auf die aktuelle Wahrnehmung eines wenn auch raumzeitlich nicht genau lokalisierten Objekts, der Muschel, referiert wird, nur mäßig überzeugen. Während die beiden Essays und die Erzählung Denken in erster Linie als »willensgeleitetes und methodisches Handeln« (501) präsentieren, zeigen die Kurzprosatexte und die Prosagedichte Denken als einen unkontrollierten, erlebnishaften, stark durch Wahrnehmungen und emotionale und körperliche Zustände des denkenden Subjekts beeinflussten Vorgang. Diese fundamentale Differenz in der Darstellung von Denkvorgängen sieht Krämer in Valérys Opposition von »significatif« (die Inhalte der Denkvorgänge) und »fonctionnel« (»Bedingungen, denen alle mentalen Vorgänge unterliegen«, 307) gegründet, da dieser Konzeption zufolge Körper, Gefühl und Außenwelt nur »kontingente Einflüsse« (499) auf das Denken darstellen. Den Unterschied zwischen den durch ihren untersuchend-erklärenden Charakter strukturell ähnlichen Essays führt Krämer auf die unterschiedlichen psychologischen und erkenntnistheoretischen Überzeugungen Valérys zur jeweiligen Schaffenszeit zurück. Die Essays werden als Ausdruck eines Strebens nach »puissance intellectuelle«, einer »Ausbildung und Vervollkommnung der intellektuellen Fähigkeiten« (334), bzw. als »Demonstration und Illustration der pointierten erkenntnistheoretischen These« (473), dass »der menschliche Körper und die menschlichen Fähigkeiten des ›Machens‹ (Faire) das universale Referenzsystem aller Erklärungen« (358) abgeben, gedeutet. Die titelgebende Figur Monsieur Teste verkörpere ebenfalls, so Krämer, das Ideal der »puissance intellectuelle«, welches besonders im zweiten Teil der Erzählung auf seine lebensweltlichen Konsequenzen befragt werde. Dass hierbei die »›Rückwirkungen‹« dieses »›Experiment[s]‹« (460) auf den Erzähler ebenfalls dargestellt werden, verbinde die Erzählung mit L’homme et la coquille, wo das Denken im Einklang mit Valérys theoretischem Modell von »demande« und »response« auf einen äußeren Reiz, die Muschel, antwortet.

Der Schlussteil kontrastiert die sehr disparaten Konzeptionen und literarischen Gestaltungen mit Bezug auf eine gemeinsame historische Situation. Sein Gewinn liegt vor allem in der Neuperspektivierung und Zuspitzung einiger bereits zuvor gewonnener Thesen. Ein wesentlicher Unterschied hinsichtlich der Darstellungen des Denkens bestehe darin, dass Musils Darstelllungen eher einen »synthetischen und holistischen« (530) Charakter hätten, indem sie die Interaktion von Gefühl, Erinnerung, äußerer Wahrnehmung und Denken darstellen, während Valérys unterschiedliche Darstellungen jeweils einzelne dieser Elemente fokussieren. Diesen Unterschied setzt Krämer wiederum zu Musils anthropologischer Konzeption in Beziehung, die es diesem im Gegensatz zu Valéry erst ermögliche, die Wechselwirkungen zwischen einzelnen dieser Elemente zu deuten. Abgerundet wird die Untersuchung durch einen Ausblick zu weiteren »Denkromanen« (Robert Müller) des Untersuchungszeitraums, bei denen sich auch ein »Nexus zwischen Konzepten des Denkens oder Intellekts und literarischen Schreibweisen« (536) finde.

2. Diskussion und Fazit

Zwei systematisch-methodische Aspekte der innovativen wie komplexen Untersuchung Olav Krämers verdienen eine genauere Betrachtung. Der erste betrifft dabei die Natur des Zusammenhangs zwischen theoretischen Auffassungen über das Denken und seinen literarischen Gestaltungen, der zweite die zweifache Dimensionierung von Krämers Zielstellung.

Das Vokabular, in dem Krämers primäre Fragestellung, also ob und inwiefern die theoretischen Auffassungen über das Denken die literarischen Gestaltungen »geprägt oder bedingt« (15) bzw. »beeinflusst« (162) haben, wiederholt formuliert wird, legt es nahe, sie als eine artefaktgenetische aufzufassen. Die Rolle der von Krämer immer wieder hinzugezogenen poetologischen und programmatischen Ausführungen Musils und Valérys ist es dabei u.a. intentionale Erklärungen von Textproduktionshandlungen zu ermöglichen, wobei sich kein eineindeutiger Zusammenhang von theoretischer Konzeption und literarischer Darstellung ergibt:

Vielmehr sind für die erzählten Denkvorgänge eine Reihe von Merkmalen charakteristisch, die mit Musils theoretischer Konzeption kompatibel sind, ohne aber in ihr schon angelegt zu sein oder zwingend aus ihr zu folgen. (292)

Wie man diese Unterdeterminiertheit der Darstellung durch die theoretische Konzeption trotz der Berücksichtigung poetologischer und programmatischer Äußerungen im Hinblick auf Krämers Zielstellung beurteilt, hängt wohl auch wesentlich davon ab, für welchen Erklärungsbegriff man eintritt beziehungsweise welchen Anspruch man an historische, intentionale Erklärungen stellt. [9]

Zu heuristischen Zwecken lassen sich zwei Aspekte von Krämers zentraler These unterscheiden, insofern sie einerseits den Zusammenhang inhaltlicher Aspekte der Darstellungen mit den theoretischen Konzeptionen betrifft, und anderseits den Zusammenhang formaler Darstellungseigenschaften mit den theoretischen Konzeptionen. Was den ersten Fall betrifft, beruht Krämers Untersuchung nicht, wie man zunächst vermuten könnte, auf Analogiebeziehungen zwischen Textsegmenten der theoretischen und literarischen Texte, sondern auf der Annahme, dass die theoretischen Auffassungen über das Denken und die Darstellungen des Denkens sich auf denselben Gegenstand beziehen, d.h. der für manche der untersuchten Texte problematischen, impliziten Prämisse, es handle sich um den Versuch einer realistischen Darstellung des Denkens. Wesentlich ist dabei die Charakterisierung des Darstellungsgegenstands mit dem Beschreibungsvokabular des jeweiligen Autors, so etwa die Feststellung, die im Mann ohne Eigenschaften »erzählten Denkprozesse« seien »fast ausschließlich Beispiele für nicht-ratioïdes Denken in Musils Sinne.« (291)

Für den zweiten Aspekt der These ist der Begriff der »Schreibweise[]« (11) bzw. des »Schreibverfahren[s]« (14) zentral. Die Attraktivität dieses leider nicht näher explizierten Begriffs, besteht offenbar in seinem Potential sehr unterschiedliche Texteigenschaften einzufangen. Dazu gehören für Krämer auch relativ komplexe, ein umfassendes Textverständnis voraussetzende Eigenschaften, wie beispielsweise die Analyse der »Sprecherfiguren, ihre Art des Auftretens und der Selbstpräsentation sowie ihre Vorgehensweise beim Bearbeiten der selbst-gestellten Probleme« (458). Insgesamt aufschlussreich ist, dass der Plausibilitätsgrad der von Krämer hergestellten Zusammenhänge mit dem Grad der inhaltlichen Imprägnierung dessen, was jeweils unter Schreibweise verstanden wird, korreliert. [10] Dieser Befund deutet auf die große begriffliche, möglicherweise kategoriale Diskrepanz zwischen der Beschreibung narratologischer, rhetorischer und stilistischer Texteigenschaften, die der Begriff nach gemeinsprachlichem Verständnis umfasst, einerseits und der theoretischen Beschreibung von Denken, d.h. allgemeiner außer-poetologischer Wissensbestände, andererseits hin. Es steht mithin zu vermuten, dass die Messlatte für Krämers These in Bezug auf den zweiten Aspekt durch eine präzise Fassung des Begriffs Schreibweise sehr hoch läge.

Es ist nicht zuletzt das Verdienst der äußerst klar und sorgfältig argumentierenden Untersuchung Olav Krämers, auch Grenzen ihrer Fragestellung zum Großteil selbst zu markieren und die hier nur angedeutete Befragung seiner Studie auf systematische forschungsrelevante Implikationen zu ermöglichen. Die Studie ist insgesamt trotz einiger kontroverser Grundannahmen und gerade wegen einiger streitbarer Thesen nicht nur in systematischer, sondern auch in historischer Hinsicht gelungen und lesenswert.

Benjamin Gittel

Humboldt Universität zu Berlin

Institut für deutsche Literatur

Anmerkungen

[1] Die hierbei verwendete Beschreibungssprache wurde durch die 2007 von Tilmann Köppe in der Zeitschrift für Germanistik initiierte Debatte mit der Ausgangsfrage, ob fiktionale, literarische Texte Wissen enthalten können, einer Klärung zugeführt. Vgl. Tilmann Köppe, Vom Wissen in Literatur, ZfGerm 17 (2007), 398-410; Roland Borgards, Wissen und Literatur. Eine Replik auf Tilmann Köppe, ibid., 425-528; Andreas Dittrich, Ein Lob der Bescheidenheit. Zum Konflikt zwischen Erkenntnistheorie und Wissensgeschichte, ibid. 631-637; Fotis Jannidis, Zuerst Collegium Logicum. Zu Tilmann Köppes Beitrag ›Vom Wissen in Literatur‹, ZfGerm 18 (2008), 373-377. [zurück]

[2] Affinitäten bestehen hierbei zu jüngeren Versuchen, das Verhältnis von »Wissensformen und Schreibweisen« zu bestimmen. Vgl. v.a. Nicolas Pethes/Sandra Richter (Hg.), Medizinische Schreibweisen. Ausdifferenzierung und Transfer zwischen Medizin und Literatur (1600-1900) (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 117), Tübingen 2008, hier 9, sowie die Sektion zu »Schreibweise[n]« in: Nicolas Pethes, Literatur- und Wissenschaftsgeschichte. Ein Forschungsbericht, IASL 28 (2003), 181-231, hier 223-225 (das Gros der dort angegebenen Forschungsliteratur umfasst ältere, im Licht der Fragestellung neu lesbar werdende Studien). Ganz abgesehen vom anderen historischen Kontext des von Pethes/Richter beschriebenen weiten Forschungsvorhabens unterscheidet es sich von dem Krämers auch dadurch, dass die Autoren das Verhältnis von Wissen und literarischer Gestaltung als »Wechselbeziehung« (ibid., 9) und nicht als unidirektionales untersuchen. – In der Musil-Forschung finden sich streitbare Versuche in diese Richtung vor allem im Zusammenhang mit Ernst Machs Kausalitätskritik bzw. seinem Funktionalismus und Musils unter dem Titel Vereinigungen zusammengefassten Novellen. Vgl. u.a. Tim Mehigan, Robert Musil, Ernst Mach und das Problem der Kausalität, DVjs 71 (1997), 264-287, hier 274-277; Gerhard Meisel, Liebe im Zeitalter der Wissenschaft vom Menschen, Opladen 1991, 21-24, bes. 23. [zurück]

[3] Besonders in der Musilforschung sind in jüngerer Zeit auch unterschiedlich aufgenommene, entgegengesetzte Tendenzen zu verzeichnen. Vgl. v.a. Sabine Döring, Ästhetische Erfahrung als Erkenntnis des Ethischen: Die Kunsttheorie Robert Musils und die analytische Philosophie, Paderborn 1999 und jüngst Catrin Misselhorn, Musils Gefühlstheorie im Kontext der neueren emotionstheoretischen Debatte und die Möglichkeit falscher Gefühle, in: Kevin Mulligan/Armin Westerhoff (Hg.), Robert Musil – Ironie, Satire, falsche Gefühle, Paderborn 2009, 33-54. [zurück]

[4] Die Römische Ziffer bezieht sich hier wie im Folgenden auf das Buch I oder II des Mann ohne Eigenschaften. [zurück]

[5] Die Rechtfertigung einer solchen Zuschreibung besteht in der Praxis in aller Regel darin, dass die Zuschreibung eines ganzen Aussagenkomplexes des fiktionalen Textes durch den Verweis auf einige wenige darin enthaltene, unstrittig dem Autor zuschreibbare Aussagen oder Grundbegrifflichkeiten legitimiert werden soll. Die Rede von »fiktionalen Texten« ist hier und im Folgenden im Sinne eines pragmatischen Fiktionalitätsverständnisses als verkürzte Redeweise für »als fiktional aufgefasste Texte« zu verstehen. [zurück]

[6] Vgl. Dorrit Cohn, Transparent Minds. Narrative Modes for Presenting Consciousness in Fiction, Princeton 1978. Eine ganz andere Akzentuierung, weg von der Fokussierung auf Bewusstseinsberichte und Gedankenzitaten hin zu den Implikationen der Darstellung von Handlungen und sozialer Interaktion für die Bewusstseinsdarstellung, nimmt die synkretistische Studie von Alan Palmer, Fictional Minds, Lincoln, Neb./London 2004 vor. Aus der jüngeren Musil-Forschung einschlägig zur komplexitätssteigernden Funktion von Auktorialität im Mann ohne Eigenschaften: Gunther Martens, Beobachtungen der Moderne in Hermann Brochs ›Die Schlafwandler‹ und Robert Musils ›Der Mann ohne Eigenschaften‹. Rhetorische und narratologische Aspekte von Interdiskursivität (Musil-Studien 35), München 2006. [zurück]

[7] Vgl. dazu: Wolf Schmid, Elemente der Narratologie, Berlin 2005, 1-7. [zurück]

[8] Vgl. Simon Jander, Die Poetisierung des Essays. Rudolf Kassner, Hugo von Hofmannsthal, Gottfried Benn, Heidelberg 2008, 31-35. [zurück]

[9] Diskutabel sind hier u.a. der Stellenwert gesetzesartiger Aussagen einschließlich ihrer Randbedingungen und die Rolle der gewählten Beschreibung des Explanandums. Vgl. u.a. Ansgar Beckermann, Gründe und Ursachen. Zum vermeintlich grundsätzlichen Unterschied zwischen mentalen Handlungserklärungen und wissenschaftlich-kausalen Erklärungen, Kronberg, Ts. 1977, 12-56 u. 100-150; Arthur Danto, Analytical Philosophy of History, Cambridge 1965, 201-232. Zur Debatte in jüngerer Zeit vgl. Nancy Cartwright, From Causation To Explanation and Back, in: Brian Leiter (Hg.), The Future for Philosophy, Oxford 2004, 231-245. – Erklärungen der Art ›S erzeugt die literarische Darstellung D mit den Eigenschaften x, y, z weil S mithilfe von D a darstellen will und die Erzeugung einer Darstellung mit den Eigenschaften x, y, z dafür geeignet hält‹ fallen in der Terminologie Beckermanns grundsätzlich unter das Schema (intentionaler) »Zweck-Mittel-Erklärungen«. (Vgl. ibid. 45-51) Ihre Singularität besteht jedoch darin, dass das Ziel der Handlung wesentlich durch eine nicht-konventionelle, relationale Ausdruckseigenschaft a charakterisiert wird. [zurück]

[10] So scheint es etwa weit plausibler, die o.g. Essays Valérys als »Denk-Modelle« (528) zu bestimmten Idealen bzw. Zielstellungen des Denkens in Beziehung zu setzen, als Deutungen der Art, dass sich der »Anspruch des Sprechers auf Kontrolle auf seinen Denkvorgang und Diskurs […] in der Verbindung von syntaktischem und inhaltlichen Staccato mit Verfahren der rhythmischen und klanglichen Organisation« (459) äußere. [zurück]

2009-11-30

JLTonline ISSN 1862-8990

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