Sebastian Donat
Bedingungen, Konzeptionen und Probleme kulturübergreifender Literaturgeschichtsschreibung im Zeitalter der Globalisierung
Gunilla Lindberg-Wada (Hg.), Studying Transcultural Literary History. Berlin, New York: Walter de Gruyter 2006 (= spectrum Literaturwissenschaft/spectrum Literature. Komparatistische Studien/Comparative Studies, Bd. 10). 316 S. [Preis: EUR 98,00]. ISBN: 9783110189551.
Den Hintergrund des Sammelbandes bildet das Projekt »Literature and Literary History in Global Contexts«, an dem zwischen 1996 und 2004 rund 25 schwedische WissenschaftlerInnen beteiligt waren. Dieser Forschungsverbund stellte es sich zur Aufgabe, zwei Aspekte der transkulturellen Literaturgeschichte zu untersuchen: »problems of intercultural comparison (centred around the concepts of literature and of genre), and problems of understanding intercultural literary exchanges (discussed in the form of studies of encounters between literary cultures in the nineteenth and twentieth centuries).« (4) Die Forschungsergebnisse sind 2006 in vier Bänden erschienen, die sich den beiden Teilbereichen zuordnen lassen: Band 1 und 2 (Notions of Literature Across Times and Cultures, hg. v. Anders Pettersson, und Literary Genres: An Intercultural Approach, hg. v. Gunilla Lindberg-Wada) enthalten Einzeluntersuchungen zum Verständnis von ›Literatur‹ und diversen Gattungen in unterschiedlichen Kulturen; der eigentliche ›interkulturelle Vergleich‹ bleibt (abgesehen von einführenden Aufsätzen) Aufgabe der Leser. In den letzten beiden Bänden geht es dagegen um konkrete Kontakte zwischen verschiedenen Kulturen (Literary Interactions in the Modern World, 2 Teilbände, hg. v. Margareta Petersson u. Stefan Helgesson).
Im Abschlussjahr des Projekts fand dann in Stockholm das auch für den vorliegenden Band titelgebende Symposium »Studying Transcultural Literary History« statt, an dem neben der Projektgruppe weitere 27 Literaturwissenschaftler aus allen Teilen der Welt teilnahmen. Im Sammelband wird dabei die außergewöhnliche Kohärenz der Tagung deutlich: Unübersehbar eint die Beiträger das intensive Interesse an der Beschreibung kulturübergreifender literarhistorischer Prozesse. Nicht nur die schwedischen Forscher, sondern auch die anderen Autoren argumentieren auf der Grundlage umfangreicher und langjähriger einschlägiger Projekte. Die im Sammelband gewählte Darstellungsform wird dieser Kompetenz in spezifischer Weise gerecht: Die durchwegs kurzen Beiträge (zumeist weniger als zehn Seiten Umfang) stellen zumeist konzeptionelle Fragen ins Zentrum und beziehen dabei klare Positionen. Der Diskussionszusammenhang ist deutlich erkennbar; in einzelnen Abschnitten – insbesondere im Teil »Rethinking World Literature«, der rund um Franco Morettis vieldiskutierte Thesen zur Weltliteratur kreist, – herrscht offene, kontroverse Dialogizität. Trotz der großen Breite des kulturellen Einzugsbereichs der Autoren und der Vielzahl an systematischen Aspekten, die in den einzelnen Beiträgen untersucht werden, wirkt der Sammelband kohärent und lädt auch zu einer zusammenhängenden Lektüre ein – zumal KomparatistInnen, denn zweifellos beschäftigen sich das Projekt und die Publikation mit einem gerade in jüngster Zeit besonders intensiv diskutierten Bereich dieses Fachs.
Die insgesamt 27 Beiträge sind sechs Rubriken zugeordnet, denen jeweils eine kurze Einleitung vorangestellt ist. Schon in den Kapitelüberschriften wird deutlich, dass es sich weniger um klar voneinander getrennte Bereiche, sondern vielmehr um Schwerpunktsetzungen innerhalb eines zusammenhängenden Themenfeldes handelt.
In »Possibilities for Transcultural Literary History« werden (teilweise anhand konkreter – realisierter oder gescheiterter – Projekte) strukturelle Grundfragen und konkrete Realisierungsvarianten transkultureller Literaturgeschichten erörtert. Vera Nünnings Beitrag »A ›Culture-Sensitive Approach‹ to Transcultural Literary History« liefert dabei einen Problemaufriss, der vielleicht besser an den Anfang des Kapitels hätte gestellt werden sollen. Sie arbeitet vier Aspekte der kultursensitiven Literaturgeschichtsschreibung heraus, deren konzeptionelle Reflexion bei Einnahme einer transnationalen Perspektive besonders wichtig erscheint: (1) die Textauswahl (zwischen Originalität und Repräsentativität; eng damit verbunden sind auch Fragen der Periodisierung einschließlich der Benennung der Epochen), (2) die Kontextualisierung (die Funktionen von Literatur in der Gesellschaft sowie das Verhältnis von Literatur und Realität), (3) die Spezifik des literarischen Systems (von der Produktion bis zur Zensur) und (4) die verwendeten Modelle literarhistorischer Transformation (Evolution, Revolution, Fortschritt; verbindliche Mastertheorie oder Gleichberechtigung heterogener Ansätze).
Wie relevant diese Überlegungen sind, zeigt sich beispielsweise in den Aufsätzen von Leon de Kock (»Naming of Parts, or, How Things Shape Up in Transcultural Literary History«) und Harish Trivedi (»The World as India: Some Models of Literary History«). Beide lassen sich im Hinblick auf Vera Nünnings vierten Aspekt als Oppositionspaar beschreiben: De Kock lehnt kohärente Narrationen und insbesondere teleologische Leitideen ab (vgl. sein Plädoyer »to embrace the rhizome as a metaphor rather than the beanstalk that grows in the sky«, 15) und betont den Konstruktcharakter literaturgeschichtlicher Darstellungen (»literary history is transformed from the search for ›true‹ structure and feeling to a search for imagined structure and feeling, which is ›true‹ to one’s mode of perception in the first instance, and to the datum at hand in the second«, 22). Trivedi dagegen formuliert am Ende seines Beitrags (allerdings ohne überzeugenden Zusammenhang mit seiner vorangehenden Argumentation, und zwar weder mit seiner anfänglichen Ablehnung ›westlicher‹ Weltliteraturmodelle als »varieties of American globalization«, 24, noch mit seiner Vorstellung zweier unterschiedlich konzipierter indischer Literaturgeschichten) eine ›Wunschliste‹ für eine transkulturelle Weltliteraturgeschichte, in deren Zentrum gerade ein Plädoyer für eine geschlossene Erzählung steht: »I would like it to be as readable and suspensefully plotted a narrative as possible« (30).
Djelal Kadir (»Iron Square Memoranda [Mutatis Mutandis]: For a World Literary History«) beschäftigt sich mit der Einbettung des Gesamtprojekts in die Rahmenbedingungen des Wechsels vom 20. zum 21. Jahrhundert (vgl. den zweiten Aspekt bei Vera Nünning):
In this New World Order that now straddles the twentieth and twenty-first centuries, the supposedly libratory particularities delivered by postmodernism find themselves interlocked into the homologated clasp of globalization, a world-wide web whose pervasive thrust toward a global monoculture exerts greater hegemonic mastery than any master narrative modernism and the Enlightenment project from which it emanated could have possibly imagined. (37)
Transkulturelle Literaturgeschichtsschreibung droht laut Kadir damit zum Komplizen des »globalizing impetus of a hegemonic New World Order« (ibid.) zu werden. Er plädiert daher für eine bewusste Betonung der Partikularität der einzelnen kulturellen Traditionen und der unhintergehbaren Spezifik und Begrenztheit des jeweiligen historischen Konzepts.
In gewissem Sinne eine Gegenposition dazu baut Zhang Longxi (»Two Questions for Global Literary History«) auf. Denn ausgehend von der Tatsache, dass abgesehen von der jüngsten literarischen Entwicklung weder Langzeit-Kontinuitäten noch bedeutende Übergangsperioden im Weltmaßstab zeitgleich oder auch nur mit erkennbarer Ähnlichkeit auftreten, lehnt er die Alternative einer Partikularisierung als eines »patchwork of disparate historical narratives that cover different cultures and literary traditions« (56) ab. Statt dessen schlägt er vor, auf eine strenge historisch simultane Betrachtung zu verzichten und thematische sowie strukturelle Parallelen in den Blick zu rücken. Als Beispiel führt er das literaturgeschichtliche Prinzip des Wechsels von Automatisierung und Entautomatisierung an, das im Russischen Formalismus mit Blick auf die europäische Literatur entwickelt wurde, sich aber ebenso gewinnbringend auf andere Kulturen, wie beispielsweise die chinesische, anwenden lässt.
Im Kapitel »Delimiting the Objects of Literary History« stehen die Kategorien der Textualität und des Literarischen im Zentrum. Tord Olsson weist in seiner Einleitung auf eine Gefahr hin, die aus der Einnahme einer komparatistischen ›Vogelperspektive‹ resultiert: »A comparative procedure that relies on external structural considerations runs the risk of missing local understandings, which are crucial to any interpretation of the materials and decisive of the identification of units for comparison.« (63)
Die Aufsätze von Karin Barber (»African Histories of Textuality«), Liz Gunner (»Re-Membering the Present: Placing the Praise Poet/imbongi in a Transcultural Literary History«) und Suzuki Sadami (»Historical Change of the Conceptions of ›Literature‹ and Formulation of ›Japanese Literature‹ in the Late Nineteenth-Century Japan«) liefern dafür interessante Fallstudien. Dabei geht es in den ersten beiden, der afrikanischen Literatur gewidmeten Beiträgen um orale Gattungen mit spezifischen, teilweise hochkomplexen Überlieferungstraditionen und einer (trotz teilweise erheblicher struktureller Veränderungen) bis heute großen Bedeutung im literarischen Leben. Sadami zeigt in ihrer Untersuchung auf, dass unter den Bedingungen der ›double-faced culture‹ [1] in Japan die vermeintliche Basiskategorie ›Literatur‹ erst zu einem relativ späten Zeitpunkt die vorangegangenen disparaten, nach ihrer gesellschaftlichen Reputation klar hierarchisierten Einzelkategorien (›Chinesisches‹ bzw. aus dem Chinesischen Übersetztes, traditionelle japanische Lyrik, ›Geschichten‹ usw.) ablösen konnte.
Diese Nahaufnahmen sind unverzichtbar, bergen aber auch eine Gefahr, auf die Tord Olsson hinweist: »if we leave the wide perspective and immerse ourselves in the verbal arts of a group of people, we will often find that our scholary terms have to be thoroughly revised; and we risk becoming mired in a mass of particulars which would jeopardise the comparative project.« (63)
Dieses theoretische Grundproblem der Vermittlung zwischen Einzelnem und Globalem, das sich einerseits in inadäquaten Generalisierungen oder andererseits in der Partikularisierung in letztlich unvergleichbare Einzelfälle äußern kann, bildet auch den Hintergrund für das dritte Kapitel »Rethinking World Literature«. Im Zentrum stehen dabei die Thesen von Franco Moretti zur Weltliteratur, [2] und der Abschnitt wird denn auch passenderweise mit seinem Beitrag »Evolution, World-Systems, Weltliteratur« eröffnet. Moretti gibt hier einen systematischen Aufriss seiner Überlegungen, der gegenüber seinen vieldiskutierten vorausgegangenen Publikationen auf provokante Elemente wie das Plädoyer für ein ›distant reading‹ oder die Funktion der Komparatistik als ›Dorn im Fleisch der Einzelphilologien‹ verzichtet. [3] Er skizziert zwei Ansätze, die zur Beschreibung von literarischen Prozessen im globalen Maßstab geeignet sind. Zum einen die Evolutionstheorie, die mit der auf räumlicher Separation beruhenden Divergenz eine Erklärung für die Vielfalt der existierenden Formen liefert. Ihr stellt er zum anderen das Modell der World-System Analysis gegenüber, das von einem dreigliedrigen räumlichen System mit Zentrum, Semi-Peripherie und Peripherie ausgeht und dabei die Gleichzeitigkeit von Einheit (internationales literarisches System, literarischer ›Weltmarkt‹) und Ungleichheit (asymmetrische Diffusion von Texten und literarischen Modellen vom Kern in die Peripherie, kaum Bewegung in die entgegengesetzte Richtung) konstatiert. Gegenüber dem auf Diversifikation ausgelegten Evolutions-Ansatz steht die Globalisierung gemäß der World-System Analysis zunächst für Reduktion der Vielfalt und Vereinheitlichung. Moretti sieht auf der Basis seiner Untersuchungen zum Roman allerdings auch hier eine Möglichkeit, ja sogar ein durchgehendes strukturelles Muster für Weiterentwicklungen:
As novelistic forms travel through the literary system, their plots are (largely) preserved, while their styles are (partly) lost – and are replaced by ›local‹ ones […]. The result is a hybrid form […]: a struggle between the story that comes from the core, and the viewpoint that ›receives‹ it in the periphery. (119f.)
Moretti ordnet die beiden Entwicklungsmodelle – Evolution und Globalisierung im Sinne der World-System Analysis – zwei verschiedenen Abschnitten der Geschichte der Literaturen der Welt, [4] und zwar vor dem 18. Jahrhundert und seitdem, zu:
The ›first‹ Weltliteratur is a mosaic of separate, ›local‹ cultures; it is characterized by strong internal diversity; it produces new forms mostly by divergence; and is best explained by (some version of) evolutionary theory. The ›second‹ Weltliteratur (which I would prefer to call world literary system) is unified by the international literary market; it shows a growing, and at times stunning amount of sameness; its main mechanism of change is convergence; and is best explained by (some version of) world-system analysis. (120)
Im Kapitel »Rethinking World Literature« werden Morettis Thesen von Eileen Julien (»Arguments and Further Conjectures on World Literature«) und Yoo Hui-sok (»A Little Pact with the Devil?: On Franco Moretti’s Conjectures on World Literature«) kritisch hinterfragt. Die Aufsatztitel machen dabei deutlich, dass (leider!) nicht das im Sammelband präsentierte Modell, sondern die 2000 von Moretti vorgelegte Version den Bezugspunkt darstellt. Die vorgebrachten Einwände behalten dennoch Gültigkeit. Sie betreffen bei Julien vor allem die Grundannahme einer asymmetrischen Diffusion von Texten und literarischen Modellen vom Zentrum in die Peripherie. Als Gegenbeispiel führt Julien die wichtige Rolle afrikanischer Literatur und Kultur in der Entwicklung der französischen Moderne (etwa bei Appollinaire und Tzara) an und bezeichnet auch den europäischen Roman als »a creole form« (127), als ein Produkt der Einbeziehung fremder kultureller Einflüsse. Ein wichtiges weiteres Gegenargument betrifft den Stellenwert des ›europäischen‹ Romans in der Peripherie. Er stellt in Afrika nur eine von verschiedenen Erzählformen dar, die zudem nur ein eher kleines, akademisch-elitäres Publikum hat; weitaus mehr gelesen und viel weniger von Außen (bzw. dem vermeintlichen ›Zentrum‹) beeinflusst sind hingegen typisch lokale Erzählformen. Damit stellt Eileen Julien die von Moretti behauptete Hierarchisierung grundsätzlich in Frage und schlägt vor, bei der Beschreibung transnationaler literarischer Prozesse vom Prinzip des ›Einflusses‹ auf das des ›Kontakts‹ umzustellen.
Auch Yoo Hui-sok bestreitet die unbeschränkte Gültigkeit von Morettis Modell der Ausbreitung einer literarischen Form (hier: des ›modern epic‹) vom Zentrum in die Peripherie. Sie weist einerseits auf die hochgradige Heterogenität der ›Kerntexte‹ in Abhängigkeit von ihrem jeweiligen kulturellen Kontext hin und macht für den Kontakt mit westlicher Literatur in der Peripherie und Semi-Peripherie gegenüber Morettis Transformationsmodell (»foreign form, local material – and local form. Simplifying somewhat: foreign plot; local characters, and then, local narrative voice« [5]) eine untrennbare Verbindung von Form und Inhalt geltend: »transplanting, implanting, or grafting can be applied to lesser works but not to the masterpieces of modern Korean literature« (138).
Unterstützung erhält Moretti von Theo D’haen, der in seinem Beitrag »Glocalizing the Novel« den Roman generell als »agent of globalization« (145) bezeichnet. Dabei sieht er für die klassische Periode (bis zum 2. Weltkrieg) die zentrale Funktion des europäischen Romans darin, »to translate the ›difference‹ of the periphery (national, but also imperial) into terms legitimized by the discourses of the center, thus ›naturalizing‹ that same center’s hegemony« (147). In der Nachkriegszeit konstatiert D’haen für den postmodernen und den postkolonialen/multikulturellen Roman in gewissem Sinne komplementäre Strategien und Funktionen: »The re-construction, from their respective alternative perspectives, of the narratives of modernity in postcolonial and multicultural novels, then stands in sharp contrast with the deconstruction of these same narratives going on in postmodern novels.« (150) Irritierend an D’haens Beitrag ist die Selbstverständlichkeit, mit der er ausschließlich englischsprachige Werke behandelt. So entsteht der Verdacht, dass er weniger Charakteristika des europäischen Romans beschreibt, sondern vielmehr die Spezifik literarischer Prozesse in imperialen Staaten bzw. großen Kolonialreichen, möglicherweise aber auch nur die der englischen bzw. amerikanischen Literatur.
Im Entstehen begriffene oder bereits abgeschlossene Literaturgeschichten mit mehrsprachigem Einzugsgebiet sind der Gegenstand des vierten Kapitels »The Practice of Writing Transnational and Translingual Literary History«.
Am Anfang steht mit Ansgar Nünnings Beitrag »On the Englishness of English Literary Histories« allerdings eine interessante Bestandsaufnahme zur englischen Literaturgeschichtsschreibung. Für den Argumentationszusammenhang des Kapitels relevant sind weniger die (gleichwohl für sich interessanten) konkreten herausgearbeiteten Züge, sondern die daraus zu ziehenden Konsequenzen für das Gesamtprojekt:
It is high time that we became aware of the merits of comparing not just the literatures of different countries but also, and even more so, the various national traditions of literary historiography, and that we move beyond the epistemological limitations both of national boundaries and of institutionally driven conceptual frameworks and historiographic styles. (168)
Die Beiträge von Remo Ceserani (»Drawing a Map of a Literary History of Europe«), Michael Chapman (»Writing Literary History«) und Marcel Cornis-Pope (»Transnational Approaches in post-1989 Comparative Literary History: Writing the History of East-Central European Cultures«) skizzieren jeweils die Anlage konkreter literaturgeschichtlicher Darstellungen und repräsentieren dabei drei sich deutlich voneinander unterscheidende Konzepte. Cesareni und seine Kollegen sehen für ihr auf ca. 300-350 Seiten angelegtes Buch Map of European Literatures die größten Herausforderungen in einer sinnvollen kulturellen Abgrenzung Europas von Asien und Afrika sowie in der sich ständig wandelnden Relation zwischen Zentrum (bzw. verschiedenen Zentren) und den jeweiligen Peripherien. Im Zusammenhang mit diesem Fokus auf Dynamik und Diskontinuität wählen sie ein kartographisches Strukturprinzip:
What we cannot produce in the end is a general and all-inclusive picture of such an ever-transient, ever-changing, ever-unbalanced situation. What we can do, with caution and good sense, is to build a good number of maps, showing some of the most interesting phenomena, with examples of some of the most permanent and some of the most transitional ones, with attention to the relationship between center and periphery, between dominance and dependence, between widespread cases and isolated ones. (178)
Diesem bewussten Verzicht auf einen narrativen literaturgeschichtlichen Zusammenhang zugunsten einer Kompilation thematischer, regionaler und/oder historischer Einzelaufnahmen bzw. ›Karten‹ diametral gegenüber steht das Konzept von Michael Chapmans 1996 erschienenem Buch Southern African Literatures. Ausgehend von der spezifischen Situation Südafrikas nach dem Ende der Apartheid und des Kalten Krieges sieht er als Hauptaufgabe der Literaturgeschichtsschreibung »a theory and practice of reconstruction« (185), und zwar sowohl als kritische Hinterfragung der bisherigen Autoritäten wie auch als humanistisches Zur-Sprache-Bringen unterdrückter Stimmen und Beitragen zur Selbstfindung beschädigter Individualitäten. Mit dieser klaren Funktionsbestimmung setzt sich Chapman dezidiert von westlichen postmodernen Tendenzen und ihrer antinarrativen, programmatisch widersprüchlichen und relativierenden Ausrichtung ab: »What I wished to achieve was not a Babel of contending approaches, but an understanding of the linguistic, racial, cultural, and political Babel that is southern Africa.« (186).
Einen dritten Weg beschreitet die vierbändige, von John Neubauer und Marcel Cornis-Pope herausgegebene History of the Literary Cultures of East-Central Europe. Von entscheidender Bedeutung ist hier die Festlegung auf eine multinationale Region mit intensiven Kulturkontakten. Der gewählte Einzugsbereich mittlerer Größe bietet unübersehbare konzeptionelle Vorteile: »the literatures of East-Central Europe represent an ideal object of study for a regional comparative history, freed from nationalistic agendas but also from a leveling notion of globalism.« (200) Entsprechend besteht das literaturgeschichtliche Konzept weder in einer homogenisierenden Gesamtnarration, noch in der additiven Anreihung von unverbundenen Einzelbetrachtungen, sondern in der Konzentration auf regionale Interaktionen. Sie werden in den einzelnen Bänden mit Blick auf Knotenpunkte der politischen Geschichte, grenzüberschreitende Gattungsentwicklungen, multiethnische Städte und Gebiete, institutionelle Prozesse sowie spezifische literarische Figuren (z.B. Migranten, Roma) untersucht. Dieses Konzept erscheint so vielversprechend, dass sich die Frage stellt, ob nicht generell im Rahmen transkultureller Literaturgeschichtsschreibung der Region als Betrachtungseinheit eine größere Bedeutung zugemessen werden sollte.
Im Kapitel »Literature in Circulation« geht es um spezifische Kriterien, die einen Text für eine weltliterarische Kommunikation geeignet erscheinen lassen. David Damrosch unterstreicht in seinem Beitrag »Where Is World Literature?« zunächst die von ihm schon früher herausgearbeitete Bedingung: »a work only has an effective life as world literature whenever, and wherever, it is actively present within another literary system beyond that of its original culture.« (212) Dieses Verständnis einer Weltliteratur »formed by the interactions of two or more national literatures within a given cultural space« sieht er zugleich als Möglichkeit der Vermittlung zwischen »broad but potentially reductive overviews and intensive but atomistic close readings« (213f.). Denn mit Blick auf die konkreten Umstände kann berücksichtigt werden, inwiefern die Normen und Bedürfnisse einer Kultur beeinflussen, was als Weltliteratur (im Sinne Damroschs) in ihr Einzug halten kann: »To understand what world literature is […], we always need to see where it is.«
In zwei weiteren Beiträgen des Kapitels, As’ad E. Khairallahs »The Story of Majnūn Laylā in Transcultural Perspectives« und Mads Rosendahl Thomsens »Migrant Writers and Cosmopolitan Readers. The Temporalities of World Literature« werden Vorschläge für Kernbereiche transkultureller literaturgeschichtlicher Untersuchungen gemacht. Khairallah macht zunächst auf zwei Verständnismöglichkeiten des Begriffs ›transkulturell‹ aufmerksam: »(1) To qualify the methodological approach itself; (2) To describe the literary material under consideration« (233). Er plädiert dafür, dem Material den entscheidenden Stellenwert beizumessen: »my thesis is that instead of devising a scheme to write a transcultural history of literature, where the approach rather than the material is transcultural, it would be more pragmatic to look at con-crete cases of inherently transcultural works and study the ways they function.« (234) Khairallah nennt drei Parameter, deren kombinierte Anwendung ein geeignetes Textcorpus für eine so verstandene ›History of Transcultural Literature‹ (im Kontrast zur Transcultural History of Literature) zu bestimmen erlaubt: »(1) temporal depth and duration, (2) geographic and cultural expansion, and (3) actual dissemination or visibility« (234). Als Fallbeispiel wird abschließend die Legende von Medschnun und Leila und ihre Verbreitung in den Literaturen der Welt von der klassischen arabischen Version aus dem 9. Jahrhundert bis zu Aragons Poem Le fou d’Elsa (1963), Eric Claptons Song »Layla« (1970) und aktuellen Hypertextprojekten skizziert. As’ad E. Khairallahs bedenkenswerter Vorschlag läuft letztlich auf eine Rehabilitierung der vielerorts als verstaubt geltendenden Stoffgeschichte hinaus.
Nicht in erster Linie die Spezifik der Werke, sondern die Lebenssituation der Autoren möchte Mads Rosendahl Thomsen ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Er sieht »the migrant or two-cultured author« (247) als besonders interessantes Untersuchungsobjekt der transkulturellen Literaturgeschichte. Allerdings erscheint die von ihm skizzierte Unterteilung dieser Autoren in drei Gruppen (›high modernists‹ wie Kafka, Joyce usw., ›contemporaries‹ wie Naipaul, Rushdie usw. sowie ›non-Westerners in the Western canon‹, wie Borges und wiederum Naipaul) wenig überzeugend, da hier offensichtlich ein historisches (Gruppe 1 und 2) mit einem geographischen Kriterium (Gruppe 3) kombiniert wird, was zu mehrfachen Zuordnungen führt. Noch befremdlicher wirkt Rosendahl Thomsens Unterscheidung zweier Epochen der Weltliteratur: einer mehr oder weniger museal verstandenen ›Vergangenheit‹, der eine offene, dynamische, untersuchenswerte ›Gegenwart‹ gegenübergestellt wird (vgl. 245). In dieser unreflektierten Linearität wird kurzerhand die simultane Präsenz und damit Aktualität von Werken ganz unterschiedlicher Entstehungszeit in jeder literarischen Gegenwart unterschlagen; zudem wird eine massive Abwertung des Gesamtprojekts vorgenommen, das bekanntlich auf transkulturelle Literaturgeschichtsschreibung und damit vorwiegend auf museale ›Vergangenheit‹ im Sinne Rosendahl Thomsens ausgerichtet ist.
Das letzte Kapitel des Sammelbandes trägt die Überschrift »Translating Cultures and Literatures«. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Form der Aufnahme fremdkultureller Inhalte, während die literarische Übersetzung nur am Rande eine Rolle spielt.
Am Anfang steht mit Patrick Colm Hogans Beitrag »A Cognitive Model of Cross-Cultural Literary Influence« der Versuch, kongnitionstheoretische Kategorien für die Einflussforschung zu entwickeln. Die von Hogan herausgearbeitete Systematik der Rezeptionstypen (Nicht-Verarbeitung des Fremden, assimilierende Verarbeitung gemäß den zielkulturellen Vorgaben sowie temporäre oder dauerhafte Irritation der Zielkultur) erscheint für transkulturelle Studien ebenso einschlägig wie die Differenzierung zwischen kategorialer, auf häufig äußerlichen Gruppenzugehörigkeiten beruhender, und praktischer, an internalisierte Prototypen sowie Denk‑ und Handlungsprozeduren gekoppelter Identität und die Beschreibung der Funktion dieser beiden Identitätsformen in der Vermittlung zwischen Eigenem und Fremdem.
Nicht Unterschiede, sondern Gemeinsamkeiten zwischen den Kulturen versucht Mineke Schipper in ihrem Beitrag »Intercultural Literary Studies in an Age of Globalization« herauszuarbeiten. Sie wählt dafür die Gattung des Sprichworts und konzentriert sich dabei wiederum auf Texte, die Frauen und ihr Verhältnis zum Wissen thematisieren. Schipper präsentiert ein homogenes Resultat – überall auf der Welt wird Wissen und körperliche Größe von Frauen im Sprichwort als negativ gekennzeichnet. Allerdings bleibt das Profil und die Aussagekraft dieses Ergebnisses sehr eingeschränkt, weil keinerlei Reflexion über den Status der vorgestellten Sprichwörter, über ihr Alter, ihre Verbreitung usw. erfolgt.
Ein großes Spektrum der Umgehensweise mit dem Fremden in der eigenen, tendenziell peripheren Kultur eröffnet sich in der Zusammenschau der Beiträge von Wiebke Dennecke (»Janus Game and Never Left: Writing Literary History in the Face of the Other«), Nadeem Naimy (»The Concrete and the Universal in Renaissance Arabic Thought«) und Stephanos Stephanides (»Translation and Ethnography in Literary Transaction«). Es reicht von der Spezifik der Literaturgeschichtsschreibung in sogenannten double-faced Kulturen, wie der römischen und der japanischen, die in direkter Abhängigkeit von vorgängigen Großkulturen entstanden sind, [6] über die kolonialistische ›Vergiftung‹ der Kontaktaufnahme mit der modernen westlichen Kultur im arabischen Kulturraum seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, die zur Rückversicherung im Islam und zur Priorisierung der traditionell bestimmten Identität gegenüber dem neuen Denken führte, bis zu teils spielerischen, teils auf indigene Traditionen zurückgreifenden Formen der Aneignung der westlichen Kultur in Lateinamerika, wie dem Verfahren der Pseudoübersetzung beim kubanischen Autor Fernando Ortiz und der kannibalistischen Einverleibung und Verdauung des Fremden, wie sie im brasilianischen »Manifesto Antropofagista« von 1928 propagiert wird.
Studying Transcultural Literary History, das ist hoffentlich aus dem Schnelldurchlauf durch die Kapitel deutlich geworden, verfügt aufgrund der Relevanz des behandelten Themas und der Stringenz seiner Behandlung bei der über weite Strecken hohen Qualität seiner Beiträge über ein ganz erhebliches Inspirations- und Diskussionspotential. Gleichwohl kann es kaum dem in der Einleitung von Gunilla Lindberg-Wada formulierten Anspruch einer ›reinvention‹ der Komparatistik (vgl. 3) gerecht werden. Die Bedeutung dieses Projekts für das Fach wird jedoch andererseits gewiss auch dann nicht richtig erfasst, wenn die Herausgeberin irritieren-derweise den zuerst genannten hohen Anspruch auf eine bloß äußerliche Renovierung im Sinne eines »refurbishment of comparative literature« (ibid.) reduziert. Die Wahrheit wird, wie so oft, in der Mitte liegen. In jedem Fall liefern das vorliegende Buch und die in ihm vorgestellten Projekte deutliche Belege dafür, dass die Komparatistik auf einem guten Weg ist, ihre Kompetenzen für die systematische wie historische Beschreibung von kulturellen Kontakten und Austauschprozessen auf höchst fruchtbare Weise in die Auseinandersetzung mit den Herausforderungen der Globalisierung einzubringen.
LMU München
Institut für Allgemeine und
Vergleichende Literaturwissenschaft
Anmerkungen
[1] Diesen Begriff prägt Wiebke Deneke in ihrem Beitrag »Janus Game and Never Left: Writing Literary History in the Face of the Other«, 278, und zwar mit Blick auf die römische und die japanische Literatur, die beide in direkter Abhängigkeit von vorgängigen Großkulturen (Griechenland und China) entstanden sind. [zurück]
[2] Vgl. Franco Moretti, Conjectures on World Literature, New Left Review 1 (2000), 54-68, sowie ders., More Conjectures, New Left Review 20 (2003), 73-81. [zurück]
[3] Vgl. Moretti 2000, 56-58 (zum ›distant reading‹) u. 68 (zum Verhältnis der Komparatistik zu den Einzelphilologien). [zurück]
[4] In »Conjectures on World Literature« hatte Moretti noch eine systematische Zuordnung vorgenommen: »national literature, for people who see trees; world literature, for people who see waves.« (Ibid., 68) Dabei steht der ›Baum‹ für die evolutionstheoretische Perspektive, die ›Welle‹ dagegen für die Betrachtung im Sinne der Globalisierungsprozesse. [zurück]
[5] Ibid., 65. [zurück]
[6] Vgl. dazu auch den oben besprochenen Beitrag von Suzuki Sadami. [zurück]
2009-05-06
JLTonline ISSN 1862-8990
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