Jens Bonnemann

Ein Anti-Lessing oder Die fragwürdige Ehe

von Bild und Sprache – W. J. T. Mitchells Bildtheorie

W. J. T. Mitchell, Bildtheorie. Hrsg. und mit einem Nachwort von Gustav Frank. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008. 497 S. [Preis: EUR 29,80]. ISBN: 978-3-518-58494-1.

1. Überblick

W. J. T. Mitchell, von dem nun erstmals in deutscher Sprache ein Sammelband mit Aufsätzen unter dem Titel Bildtheorie vorliegt, gilt als der amerikanische Wegbereiter eines interdisziplinären Forschungszusammenhangs, der sich unter dem Titel ›visual studies‹ mit der weltweit wachsenden Relevanz von Bildern beschäftigt. Ohne Übertreibung kann Mitchell wohl als einer der entscheidenden Pioniere dessen bezeichnet werden, was heute in der internationalen Wissenschaftslandschaft als pictorial turn (Mitchell) etikettiert wird. Damit stellt er sozusagen das amerikanische Pendant des deutschen Kunsthistorikers Gottfried Boehm dar, der seinerseits unter dem Motto des iconic turn nicht nur in Deutschland von kaum zu überschätzendem Einfluss für die Hinwendung zum Bild gewesen ist. In den Aufsätzen des Sammelbands Bildtheorie, die in den Jahren 1984 bis 2004 in englischer Sprache erschienen sind, legt Mitchell sein Verständnis von Bildtheorie dar und reflektiert das Aufgabenfeld vor allem der Disziplinen Kunstgeschichte, Ästhetik, Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaft vor dem Hintergrund einer weltweiten Neuorientierung an visuellen Phänomenen. [1]

Mitchell lehrt an der University of Chicago Englisch und Kunstgeschichte und gibt seit 1978 die Vierteljahresschrift Critical Inquiry heraus, welche – nicht zuletzt auch für ihr Design – mit einer Reihe von Preisen ausgezeichnet worden ist. Ein Schlüssel für sein Bildverständnis und seine eigene Position innerhalb der visual studies findet sich bereits in der frühen Dissertation über das Verhältnis von Sprache und Bild in den Werken des englischen Frühromantikers William Blake (Blake’s Composite Art: A Study of The Illuminated Poetry, 1977). Wegweisend ist diese frühe Arbeit, insofern die Besonderheit von Blakes Gemälden, die in der Dissertation erläutert wird, in den Texten der Bildtheorie schließlich für alle Bilder geltend gemacht wird: Die Erfahrungen mit den Bildern aus The Marriage of Heaven and Hell (1790-1793) machen Mitchell zu einem Grenzgänger, der die Trennung von Sprache und Bild innerhalb und außerhalb der Kunst bezweifelt. Nicht nur die Bilder von Blake sind vermischte Medien, vielmehr gebe es überhaupt keine reinen Bilder, keine reine Sprache, keine reinen Medien, sondern ausschließlich mixed media. Seine Hauptthese einer Untrennbarkeit von Logos und Eikon versteht sich als dezidierte Abgrenzung von Lessings Position in der Laokoon-Schrift, die in Mitchells Arbeiten als Gegenpol seiner eigenen Auffassung allgegenwärtig ist. Da der amerikanische Bildtheoretiker weder das Sensorische auf das Semiotische noch das Semiotische auf das Sensorische zurückführen will, lässt er sich nicht eindeutig der zeichen- oder der wahrnehmungstheoretischen Strömung innerhalb der Bildtheorie zuordnen.

2. Familienähnlichkeit statt Wesensbestimmung

Auf eine neuartige Definition oder Wesensbestimmung des Bildes wartet der geduldige Leser im gesamten Buch allerdings vergeblich. Es geht Mitchell nicht um die Frage, was ein Bild ist, sondern was darüber gesagt wird. Von der ersten Seite an rückt er eine metatheoretische Fragestellung in den Vordergrund: »Dieses Buch handelt davon, was die Leute über Bilder sagen« (9). Anders als der deutsche Titel des Sammelbands verspricht, wird dem Leser weniger »eine handfeste Theorie des Bildes«, als vielmehr eine Theorie über »die Furcht vor Bildern« (12) geboten. Hinter jeder Bildtheorie, so meint Mitchell, lauert eine Bilderfurcht – und genau diese versucht er zu verstehen (vgl. 320). Sein großzügig-weites Verständnis von ›Bilderfurcht‹ führt dabei zu solchen Stilblüten, dass selbst noch Wittgensteins Kritik am Repräsentationalismus als eine moderne Variante des Ikonoklasmus beschrieben wird (vgl. 103, 330).

Zwar stellt die Sprache für Mitchell einen »rivalisierenden Repräsentationsmodus« (13) des Bildes dar, aber jeder Versuch, trennscharfe Unterscheidungen zwischen Sprache und Bild vorzunehmen oder die Frage nach dem Wesen des Bildes zu beantworten, trägt unweigerlich das Stigma kultureller »Machtsysteme und Wertekanons« (9). Hiervor glaubt er sich durch die Einnahme einer metatheoretischen Position geschützt: »Der Begriff der Ideologie als falsches Bewußtsein involviert eine heilsame Skepsis gegenüber expliziten Motiven, Rationalisierungen und diversen Ansprüchen auf Natürlichkeit, Reinheit oder Notwendigkeit« (14). Während Wesensbestimmungen und Definitionen also immer ideologisch und machtförmig sind, besteht diese Gefahr bei einer Orientierung an Wittgensteins Idee der Familienähnlichkeit anscheinend nicht: Es gibt eine Familie der Bilder, und Mitchell sucht ganz im Sinne des späten Wittgensteins der Philosophischen Untersuchungen nach den Sprachspielen, in denen der Begriff des Bildes vorkommt, sowie nach den historischen Lebensformen, die jene Sprachspiele spielen.

Wenn wir von Bildern sprechen, so sprechen wir in verschiedenen Sprachspielen von: »Gemälden, Statuen, optischen Halluzinationen, Karten, Diagrammen, Träumen, Halluzinationen, Schauspielen, Projektionen, Gedichten, Mustern, Erinnerungen und sogar von Ideen als Bildern, und allein schon die Buntheit dieser Liste läßt jedes systematische, einheitliche Verständnis unmöglich erscheinen« (20). Die Unterschiedlichkeit der Verwendungsweisen des Bildbegriffs ist wiederum das Resultat institutioneller Diskursabgrenzungen:

Geistige Bildlichkeit gehört zur Psychologie und zur Erkenntnistheorie; optische Bildlichkeit zur Physik; graphische, plastische und architektonische Bildlichkeit zur Kunstgeschichte; sprachliche Bildlichkeit zur Literaturwissenschaft; perzeptuelle Bilder gehören zu einem Grenzgebiet, auf dem Physiologen, Neurologen, Psychologen, Kunsthistoriker und solche, die sich mit der Optik befassen, mit Philosophen und Literaturwissenschaftlern gemeinsam arbeiten. (21)

Es sei dann unmöglich zu entscheiden, welcher Disziplin die Definitionshoheit für den Bildbegriff zukommt. Die Frage nach der Eigenart oder der Sonderstellung des Bildes verliert bei Mitchell schließlich sogar ihren Sinn, weil man gar nicht mehr weiß, wovon sich das Bild noch unterscheidet.

3. Untrennbarkeit von Bild und Sprache

Trotz aller Variabilität der Sprachspiele soll jedoch die Dialektik von Sprache und Bild »eine Konstante« sein, und nicht nur einige, sondern grundsätzlich alle Bilder sind »von der Sprache infiziert« (72). Mitchell gibt hier offenbar die angekündigte rein metatheoretische Haltung auf, die lediglich eine ideologiekritische Untersuchung bereits vorliegender Bildtheorien vornehmen will, und entwickelt eine eigene bildtheoretische Position, indem er generalisierende Aussagen über das Verhältnis von Sprache und Bild macht. So erklärt er ganz dezidiert: »Es gibt kein visuelles Medium« (323). Ohne eine solche Inkonsequenz gegenüber dem Postulat einer irreduziblen Vielfalt der Sprachspiele wäre kaum verständlich, von wo aus er dem Sprachspiel einer historischen Lebensform widersprechen könnte, das – wie etwa Lessing es tut - die Trennbarkeit von Sprache und Bild behauptet.

Im Gegensatz zu Lessing in Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie geht Mitchell also von einer »Schwesternschaft der Künste« (72) aus. Innerhalb und außerhalb der Kunst gilt, dass wir weder Texte ohne Bilder noch Bilder ohne Texte verstehen können. Eine komplizierte sprachliche Aussage verstehen wir, wie Mitchell fortfährt, indem wir geistige Bilder zur Veranschaulichung der abstrakten Zusammenhänge hervorrufen. Umgekehrt versuchen wir rätselhafte Bilder durch die Sprache verständlich zu machen, wenn wir Kommentare zu Kunstbildern lesen oder eine psychoanalytische Deutung unserer Träume vornehmen lassen.

Ein Bild hat nach Mitchell nur Sinn innerhalb einer Sprache, innerhalb eines diskursiven Rahmens (vgl. 214). Wie ist das jedoch gemeint? Kommt die Sprache erst ins Spiel, wenn wir anfangen, den Inhalt eines Bildes zu interpretieren, oder ist sie auch notwendig, um ein Bild zu sehen, also um zu erkennen, dass etwas ein Bild ist? Wenn nur der erste Fall gilt, dann wäre ein Bild ohne Sprache zwar unverständlich, aber immer noch ein Bild. Wenn Bild und Sprache wirklich auf eine grundlegende Weise untrennbar sein sollen, dann müsste Mitchell zeigen, dass nicht erst die Bildexegese, sondern bereits die Bildwahrnehmung notwendig sprachlich vermittelt ist. Nach der Auffassung von Rudolf Arnheim (Film als Kunst, 1932) wäre ein Film ohne Sprache immer noch ein Film, während ein Film ohne Bilder aufhören würde, ein Film zu sein. Mitchells Ausführungen bleiben so vage, dass man nicht weiß, ob seiner Ansicht nach das Bild Sprache benötigt, um ein verständliches Bild zu sein oder um überhaupt ein Bild zu sein. Ersteres scheint selbstverständlich, letzteres wenig plausibel.

Wenn man Freges Gegenüberstellung von Sinn und Bedeutung ins Spiel bringt, so ließe sich Mitchells Gedankengang auf folgende Weise hinterfragen: Selbst wenn man zugestehen würde, daß die Bedeutung des Bildbegriffs, also der reale Gegenstand, auf den er verweist, immer auch sprachliche Elemente enthält, folgt daraus nicht, dass auch der Sinn des Bildbegriffs, der angibt, was wir meinen, wenn wir von Bildern sprechen, sprachliche Elemente notwendig enthalten muss. Obwohl Farbe und Raum immer zusammen auftauchen, lassen sich doch beide voneinander unterscheiden. Wie für Farbe und Raum gilt auch für Bild und Sprache, daß die faktische Untrennbarkeit (die im Übrigen im letzteren Fall erst einmal belegt werden müsste) nicht von der Aufgabe der begrifflichen Unterscheidbarkeit entbindet. Wenn es sich bei Sprache und Bild, wie Mitchell selbst zugibt, um »zwei radikal verschiedene Repräsentationsweisen« (74) handelt, so könnte doch angegeben werden, worin denn diese radikale Verschiedenheit besteht, ohne dass man hierdurch gleich der klassischen Trennung von Sprache und Bild das Wort reden würde.

Obwohl Mitchell seinem Selbstverständnis zufolge nichts weiter als eine Analyse von kulturellen Sprachspielen vornehmen will, wird er doch nicht müde, auf »das Ineinandergreifen von visueller und verbaler Erfahrung« (135) hinzuweisen. An diesen Stellen entwickelt er offenbar eine eigene bildtheoretische Position. Sobald sich diese jedoch mit den Argumenten einer Gegenposition konfrontiert sieht, verlässt Mitchell wieder den Bereich der diskursiven Auseinandersetzung und kehrt zurück zur Metatheorie. Dies wird besonders in seiner Kritik an einer bestimmten zeitgenössischen Variante der Kunstkomparatistik deutlich, die mehr oder weniger willkürliche Vergleiche etwa zwischen kubistischer Malerei und expressionistischer Lyrik anstellt. Mitchell empfiehlt dagegen, das Bild-Text-Problem nicht ins Blaue hinein zu konstruieren, sondern in jeder einzelnen Kunstform aufzuspüren: »Alle Künste sind, kurz gesagt, ›komposit‹ (bestehen aus Text und Bild); alle Medien sind Mixed Media, die verschiedene Codes, diskursive Konventionen, Kanäle und sensorische und kognitive Modi kombinieren« (152). Wenn jeder Text – also auch der gesprochene? – visuell ist, und jedes Bild einen verbalen Diskurs einschließt, dann ist die Rede von der Reinheit des Bildes für Mitchell bestenfalls ein »moralischer Imperativ« (155).

Mitchells Strategie besteht nun darin, die Gegenstimmen, die für eine Trennung oder auch einfach nur für eine begriffliche Differenzierung der Künste eintreten, nicht argumentativ zu widerlegen, sondern in einer Art ad-hominem-Demonstration jene Ideologie zu entlarven, die hinter der gegnerischen Auffassung stehen soll:

Dem Puristen, der Bilder will, die nur Bilder, und Texte, die nur Texte sind, antwortet man vielleicht am besten, indem man den Spieß umdreht und die Rhetorik der Reinheit selbst untersucht […]. Diese Art Reinheit, die oft mit Modernismus oder abstrakter Malerei assoziiert wird, ist ebenso unmöglich wie utopisch, womit sie zwar nicht erledigt, aber als eine Ideologie identifiziert ist, als ein Komplex aus Begehren und Angst, Macht und Interesse. (154 f.)

Zugespitzt könnte man sagen: Mitchell gibt keine argumentative Begründung seiner eigenen Position, sondern unternimmt den Nachweis, wie wissenssoziologisch naiv, ideologisch verblendet oder schlichtweg psychisch verkorkst doch jemand sein muss, der eine andere Meinung vertritt als Mitchell selbst. Wer Zweifel an seiner These hegt, wird gebeten, auf der psychoanalytisch-ideologiekritischen Couch Platz zu nehmen.

Solche metatheoretischen Ausweichmanöver können allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Detailanalysen von bewegten wie auch unbewegten Bildern sich zumeist durch eine ungewöhnliche Überzeugungskraft auszeichnen und deutlich machen, worin die eigentliche Stärke des amerikanischen Bildtheoretikers liegt. Dies gilt vor allem für seine ebenso tiefgründige wie nuancierte Interpretation von Billy Wilders Film Sunset Boulevard, die plausibel vorführt, wie Wilders Film sozusagen eine ›verbildlichte Filmtheorie‹ entwickelt, in der die Spannung zwischen Sprache und Bild bzw. Tonfilm und Stummfilm verhandelt wird. Dennoch rennt Mitchell mit seiner glänzenden Filminterpretation offene Türen ein, denn niemand würde wohl ernsthaft bezweifeln, dass ein Tonfilm wie Sunset Boulevard ein mixed medium ist. Damit ist überhaupt nichts für die Zentralthese gewonnen, derzufolge eben jedes Medium ein mixed medium sei. Das eigentliche Desiderat von Mitchells Gedankenführung wäre der Nachweis, inwiefern Textualität selbst in einem vermeintlich reinen Bild, Bildlichkeit selbst in einem vermeintlich reinen Text gegenwärtig ist. So bleibt ihm an Ende seiner beeindruckenden Wilder-Interpretation nur das immerhin sehr ehrliche Eingeständnis, überhaupt keinen Beweis für seine These geliefert zu haben: »Ich bin mir voll und ganz darüber im klaren, daß ich meine den Status des Text/Bilds betreffenden Behauptungen nicht im entferntesten bewiesen habe« (171).

4. Eigene Wege innerhalb der Visual Cultures

Hinsichtlich des Aufkommens der visual cultures nimmt Mitchell eine eher nüchterne und ausgewogene Position ein. Unübersehbar gibt es »in den letzten fünfundzwanzig Jahren in der Hochschulausbildung« ein geradezu »explodierendes Interesse« an visueller Kultur (237). Obwohl Mitchell selbst eigener Aussage zufolge seit vielen Jahren Kurse zu dieser Problematik anbietet, ist ihm selbst, wie er mit einiger Koketterie erklärt, immer noch nicht klar, was visual studies eigentlich sind. Die Visualität etwa für die entscheidende politische Kraft unserer Zeit zu halten, ist heute zwar geläufig, aber schlichtweg wirklichkeitsfremd: »Nicht Bilder von Schusswaffen töten, sondern Schusswaffen« (269). Überhaupt ist für Mitchell die viel beschworene Hegemonie der Visualität nichts weiter als eine bloße »Chimäre« (331).

Der Gewinn einer Wendung zum Visuellen ist eher in der Einsicht zu sehen, in welchem Ausmaß das menschliche Subjekt immer schon durch Sprache und bildliche Darstellung konstituiert worden ist (vgl. 121). Selbst wenn nicht von der Hand zu weisen ist, dass das Problem bildlicher Repräsentation uns heute »mit noch nie dagewesener Kraft« (108) bedrängt, darf Mitchell zufolge nicht übersehen werden, dass der pictorial turn ebenso wenig ein bloßes Phänomen unserer Gegenwart ist wie Ikonoklasmus und Ikonolatrie lediglich der Vergangenheit angehören. Laut Mitchell habe es viele pictorial turns in der Geschichte der Menschheit gegeben: Sein Beispiel ist nicht nur der Wunsch der Israeliten nach dem Goldenen Kalb in der Bibel. Als Abwehrreaktionen auf pictorial turns wird sowohl Lessings Forderung, die Literatur dürfe die Malerei nicht nachahmen, als auch Wittgensteins Warnung interpretiert, dass ein Bild unser Denken gefangen halte (vgl. 330). Dennoch ist bei aller Skepsis gegenüber modischer Emphase die Zeit reif für ein allgemeines Studium der visuellen Kultur (vgl. 239). Insofern die visuelle Kultur, wie Mitchell warnt, »voll von Symptomen des Neofaschismus und der globalen Unternehmenskultur« (120) ist, sollte ein solches Studium die Studierenden mit Werkzeugen für die kritische Analyse der visuellen Kultur ausrüsten (vgl. 245).

Mitchell begeistert sich allerdings weniger für die Interdisziplinarität der visual studies: Was ihn vor allem fasziniert, ist vielmehr der Zusammenbruch routinierter Verfahren, der Staunen wie auch Chaos hervorruft (vgl. 266). Es handelt sich also um die ebenso fruchtbare wie anarchische Erfahrung von »Undisziplinarität«, um einen »Moment interdisziplinärer Turbulenz in der Transformation von Kunstgeschichte, Ästhetik und Medienforschung« (312), durch den Bereiche erschlossen werden, für die die herkömmliche Kunstgeschichte, Ästhetik und Medienwissenschaft blind sind: Mitchell denkt dabei vor allem an das schlichte Alltagssehen (vgl. 341). Für ihn gehört hierzu auch unser alltägliches Verhältnis zu Bildern, das seiner Ansicht nach immer noch vormodern ist. Mehr noch, Bilder sind für Mitchell sogar die letzten Bastionen einer magischen Gedankenwelt (vgl. 373). Wir halten etwa das Foto der Mutter in Ehren, wir finden Bilder anstößig und fühlen uns von ihnen verletzt. Natürlich wissen wir, dass sie leblose Objekte sind (vgl. 398), aber dennoch behandeln wir sie wie »Pseudopersonen« (372). Die vereinzelt auftauchenden Fälle von Menschen, die absichtlich Bilder in Museen beschädigen, genügen Mitchell schon als Beweis: Wir würden sie nicht zu zerstören versuchen, wenn wir nicht immer noch in einer magischen Sichtweise leben und sie als »Pseudo-Lebensformen« (293) ansehen würden.

5. Schwanken zwischen Theorie und Metatheorie

Das eigentümliche Schwanken zwischen Theorie und Metatheorie des Bildes, das Mitchells gesamtes Buch wie ein roter Faden durchzieht, wiederholt sich erneut in diesem Zusammenhang: Einerseits erklärt er völlig abgeklärt, Bilder seien für ihn nur leblose Objekte, die aus purer Naivität mit Sprechakten verwechselt werden. Wenn sie zu sprechen scheinen, dann liegt dies nur daran, dass wir in sie Botschaften wie in eine Bauchrednerpuppe hineinprojizieren (vgl. 398). In anderen Passagen der Bildtheorie erscheinen Bilder dagegen nicht nur als bloße Objekte, die eigentlich nichts zu sagen haben, sondern als Weisen der Welterzeugung: Bilder, so heißt es nun, verändern unsere Sicht der Welt, »die Art, in der wir denken, sehen und träumen. Sie funktionieren unsere Erinnerungen und Vorstellungen um, bringen neue Maßstäbe und neue Wünsche in die Welt« (292). Man gewinnt den Eindruck, Mitchell lasse den Leser mitunter absichtlich darüber im Unklaren, ob er nun gerade von Bildern redet oder nur einschlägige Auffassungen über Bilder referiert.

Der amerikanische Vater der visual studies wendet sich gegen den semiotischen Imperialismus, der Bilder nur als Texte versteht, aber sein eigener Bildbegriff ist im Grunde so weit, dass man nun umgekehrt von einem bildtheoretischen Imperialismus sprechen könnte, der visuelle Darstellungen, geschriebene wie gesprochene Sprache, Gedanken, Wahrnehmungen usw. verschlingt: Dann wundert es kaum noch, wenn fast alles über Bilder gesagt werden kann. Dennoch wird Mitchells Position nicht zu einem bloßen Spiegelbild des semiotischen Imperialismus. Dies liegt an einer entscheidenden Nuance: Alles ist für ihn bildlich, so könnte man sagen, aber alles ist nicht nur bildlich – worin der Unterschied besteht, erfährt man allerdings nie, weil Mitchell begriffliche Differenzierungen offenbar für ideologische Wahngebilde hält. Sicher weist Mitchell zu Recht auf eine Wissenslücke hin, insofern das Verhältnis zwischen Text und Bild bisher wohl noch nicht genügend beachtet worden ist. Aber der berechtigte Anspruch wird durch die Verabsolutierung dieses Verhältnisses überdehnt. Um noch einmal auf Blakes The Marriage of Heaven and Hell zurückzukommen: Es gelingt Mitchell trotz all seiner beeindruckenden Beschreibungskunst nicht, den Leser davon zu überzeugen, dass nicht nur Blakes Bilder, sondern alle Bilder mit Texten verheiratet sind. In vielen Fällen sind sie wohl eher nur entfernte Verwandte.

Dr. Jens Bonnemann

Friedrich-Schiller-Universität Jena

Institut für Philosophie

Anmerkungen

[1] Enthalten sind die Aufsätze »Für einen blinden Leser« (Erstveröffentlichung unter dem Titel »Introduction« in: W. J. T. Mitchell, Iconology. Image, Text, Ideology, Chicago/London 1986, 1-4), »Was ist ein Bild?« (Erstveröffentlichung unter dem Titel »What Is an Image?«, New Literary History, 15:3 (1984), 503-537 (Sonderheft Image/Imago/Imagination); erstmals deutsch in: Volker Bohn (Hg.), Bildlichkeit. Internationale Beiträge zur Poetik, Frankfurt a. M. 1990, 17-68), »Repräsentation« (Erstveröffentlichung unter dem Titel »Representation« in: Frank Lentricchia/Thomas McLaughlin (Hg.), Critical Terms for Literary Study, Chicago/London 1990, 11-22; erstmals deutsch in: Christiaan L. Hart Nibbrig (Hg.), Was heißt ›Darstellen‹?, Frankfurt a. M. 1994, 17-33), »Pictorial Turn« (Erstveröffentlichung in: Artforum (März 1992), 89-94; erstmals deutsch in: Christian Kravagna (Hg.), Privileg Blick. Kritik der visuellen Kulturen, Berlin 1997, 15-40), »Über den Vergleich hinaus: Bild, Text und Methode« (Erstveröffentlichung unter dem Titel »Beyond Comparison: Picture, Text, and Method« in: W. J. T. Mitchell, Picture Theory. Essays on Verbal and Visual Representation, Chicago/London 1994, 83-107), »Metabilder« (Erstveröffentlichung unter dem Titel »Metapictures« in: W. J. T. Mitchell, Picture Theory. Essays on Verbal and Visual Representation, Chicago/London 1994, 35-82), »Was ist visuelle Kultur?« (Erstveröffentlichung unter dem Titel »What is Visual Culture?« in: Irving Lavin (Hg.), Meaning in the Visual Arts: Views from the Outside. A Centennial Commemoration of Erwin Panofsky (1892-1968), Princeton 1995, 207-217), »Interdisziplinarität und Visuelle Kultur« (Erstveröffentlichung unter dem Titel »Interdisciplinarity and Visual Culture«, The Art Bulletin 77:4 (1995), 534-552; erstmals deutsch in: Herta Wolf (Hg.), Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Bd. 2, Frankfurt a. M. 2003, 38-50), »Der Mehrwert von Bildern« (Erstveröffentlichung unter dem Titel »The Surplus Value of Images«, Mosaic. A Journal for the Interdisciplinary Study of Literature 35:3 (2002), 1-23; erstmals deutsch in: Stefan Andriopoulos/Gabriele Schabacher/Eckhard Schumacher (Hg.), Die Adresse des Mediums, Köln 2001, 158-184), »Das Sehen zeigen: Eine Kritik der Visuellen Kultur« (Erstveröffentlichung unter dem Titel »Showing Seeing: A Critique of Visual Culture« in: Michael Ann Holy/Keith Moxey (Hg.), Art History – Aesthetics – Visual Studies, New Haven/London 2002, 232-250), »Was wollen Bilder wirklich?« (Erstveröffentlichung unter dem Titel »What Do Pictures Really Want?«, October 77 (Sommer 1996), 71-82), »Bilder verletzen« (Erstveröffentlichung unter dem Titel »Offending Images« in: Lawrence Rothfield (Hg.), Unsettling ›Sensation‹. Arts-Policy Lessons from the Brooklyn Museum of Art Controversy, New Brunswick/New Jersey/London 2001, 115-133), »Wandernde Bilder: Totemismus, Fetischismus, Idolatrie« (Erstveröffentlichung unter dem Titel »Migrating Images. Totemism, Fetishism, Idolatry« in: Petra Stegmann/Peter C. Seel (Hg.), Migrating Images. producing… reading… transporting… translating, Berlin 2004, 14-24). Der Band wird durch ein abschließendes Interview mit dem Titel »Der Schrecken der Bilder: Ein Gespräch mit Edward W. Said« (Erstveröffentlichung unter dem Titel »The panic of the visual: a conversation with Edward W. Said« in: Paul A. Bove (Hg.), Edward Said and the work of the critic: speaking truth to power, Durham/London 2000, 29-50), ein umfangreiches Nachwort von Gustav Frank sowie ein Namensregister abgerundet. [zurück]

2009-12-22

JLTonline ISSN 1862-8990

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