Jens Eder
Philosophie des Films
Stationen eines Diskurses
Dimitri Liebsch (Hg.), Philosophie des Films. Grundlagentexte. Paderborn: mentis 2005. 192 S. (Preis: EUR 19,80). ISBN: 978-3-89785-351-5.
1. Was ist »Philosophie des Films«?
Seit Mitte der neunziger Jahre hat die Philosophie des Films international Konjunktur. Zurückzuführen ist dies vor allem auf einen erheblichen Nachholbedarf. Wenn sich die akademische Philosophie mit Medien beschäftigte, blieb sie meist auf die sogenannte Hochkultur beschränkt, auf Literatur, Theater, Musik und Malerei. Der Film dagegen wurde als Teil der »Kulturindustrie« verteufelt und einer Betrachtung erst für würdig befunden, nachdem er als Leitmedium von Fernsehen und Internet verdrängt worden war. Die Filmwissenschaft wiederum bediente sich bei der Entwicklung ihrer Grundlagen nicht primär philosophischer Theorien, sondern ging vielfältige eigene Wege. Inzwischen jedoch eignet sich das Thema »Philosophie und Film« für komplementäre Selbstaufwertungsstrategien der Disziplinen, die damit gegen das Vorurteil ihrer Trockenheit respektive Oberflächlichkeit angehen. Der Film gilt innerhalb der Philosophie als hipper Forschungsgegenstand, und philosophische Herangehensweisen verleihen der Filmwissenschaft ein Flair der Seriosität.
Dass sich filmophile Philosophen als Entdecker und philosophierende Filmwissenschaftler als Denker verstehen können, gibt der längst überfälligen Beschäftigung mit der Philosophie des Films zusätzlichen Auftrieb. Neben zahlreichen Monographien und Internet-Zeitschriften sind mittlerweile sowohl im englischen als auch im deutschen Sprachraum mehrere Sammelbände zum Thema veröffentlicht worden. [1] Die von dem Bochumer Philosophen Dimitri Liebsch herausgegebene Anthologie Philosophie des Films. Grundlagentexte erschien 2005 im Paderborner Mentis-Verlag, der vorwiegend der analytischen Philosophie nahe stehende Arbeiten publiziert, und wurde nach durchweg positiven Rezensionen bereits 2006 neu aufgelegt.
Um einzuschätzen, wodurch sich dieser Sammelband innerhalb des aktuellen Publikationskontextes auszeichnet, ist es zunächst sinnvoll, sich zu vergegenwärtigen, was unter »Philosophie des Films« zu verstehen ist. Liebsch selbst spricht in seiner Einleitung davon, dass dieser Ausdruck sowohl im Sinne eines genitivus obiectivus als auch subiectivus aufgefasst werden kann, andere stellen der philosophy of film den film as philosophy gegenüber. [2] Demnach kann »Philosophie des Films« zwei verschiedene Dinge bedeuten: Erstens die Untersuchung des Gegenstands »Film« mit philosophischen Mitteln, also ein Philosophieren über Film. Zweitens eine Verwendung von Filmen selbst als Mittel philosophischen Denkens, also ein Philosophieren mit Film. Beides kann kombiniert werden, indem man das Film-Denken mithilfe philosophischer Verfahren analysiert.
Das Philosophieren über Film widmete sich bisher vor allem folgenden Fragen: Was ist Film? Ist Film eine Kunstform? In welcher Verbindung stehen Filme zu Wahrnehmung, Erkenntnis, Moral und Emotion? Wie erzählen Filme? Haben sie einen Autor? Was unterscheidet fiktionale und dokumentarische Filme? Wie sollte man Filme analysieren und bewerten? Wie sollten Theorien des Films beschaffen sein? Und schließlich die Frage des Philosophierens mittels Film: Inwiefern kann man Filme selbst als (Mittel der) Philosophie verstehen?
Hinsichtlich dieser Frage ist man sich weitgehend darüber einig, dass es »Philosophie im Film« gibt (12): Manche Filme beruhen auf philosophischen Überzeugungen, stellen philosophische Probleme narrativ dar, dienen der philosophischen Argumentation als Gedankenspiele oder fordern durch ihre Form Reflexionen über Wahrnehmung und Erkenntnis heraus. Umstritten ist dagegen die stärkere These vom »Film als Philosophie«. Ihr zufolge bilden Filme selbst eine eigenständige Form philosophischen Denkens: Auf anschauliche Weise vermitteln sie Gedanken und Weltsichten, die nicht ohne Verlust sprachlich paraphrasierbar sind. Diese These hat Befürworter sowohl innerhalb der angloamerikanischen Philosophie (Stanley Cavell, Stephen Mulhall, Thomas Wartenberg) als auch der »Kontinentalphilosophie« (Gilles Deleuze, Slavoj Žižek) sowie der Film- und Medienwissenschaft (Daniel Frampton, Lorenz Engell). Auf der Seite derjenigen, die diese These kritisieren oder nur in abgeschwächter Form akzeptieren, finden sich ebenfalls sowohl Philosophen (Paisley Livingston) als auch Filmwissenschaftler (Murray Smith).
2. Der Inhalt des Sammelbandes
Das Philosophieren über Film widmet sich also diversen Fragen, darunter jener des Philosophierens mit Film. Innerhalb dieses Feldes konzentriert sich Liebschs Buch auf einen eng begrenzten Ausschnitt: Die ausgewählten zehn Texte von neun Autoren (eine Frau ist nicht darunter) zielen in erster Linie »auf eine Wesensbestimmung des Films« (12). Sie beschäftigen sich also mit der grundlegenden Frage, was Film ist und welche Merkmale ihn als Medium auszeichnen. Bei mehreren Autoren sind damit auch Aussagen über Filme als Mittel des Philosophierens verknüpft. Der Anspruch des schmalen Bandes besteht also im Gegensatz zu anderen Publikationen keineswegs darin, eine möglichst aktuelle und umfassende Übersicht über das Feld der Filmphilosophie zu geben. Stattdessen versammelt er in chronologischer Anordnung eine Auswahl von Beiträgen, die Stationen eines Diskurses zu zwei wichtigen Grundfragen verdeutlichen.
Diese Auswahl ist außerordentlich gut gelungen. Zielsicher hat der Herausgeber repräsentative Aufsätze der einflussreichsten Akteure herausgesucht und sie zum Teil erstmals in guten Übersetzungen auf Deutsch zugänglich gemacht. Die Zusammenstellung ermöglicht in zweierlei Hinsicht einen aufschlussreichen Dialog: Zum einen macht sie historische Entwicklungen der Philosophie des Films erkennbar. Zum anderen konfrontiert sie zwei aktuelle Diskurse miteinander, zwischen denen es bislang wenig Austausch gibt, nämlich die frankophone poststrukturalistische Philosophie (Lyotard, Deleuze) und die anglophone analytische Philosophie (Danto, Carroll). Der Zusammenprall dieser beiden Diskursstränge wird abgemildert durch Beiträge, die sich keinem von ihnen zuordnen lassen oder Verbindungen zu beiden aufweisen. Die Fronten verlaufen also keineswegs so klar, wie es in der aktuellen Diskussion manchmal scheint, und es ist ein Verdienst des Sammelbandes, dies auf unaufdringliche Weise erkennbar zu machen. In sachlicher Hinsicht werden Vergleiche zwischen den Diskursen möglich und Berührungspunkte zwischen ihnen sichtbar, wie der folgende Überblick über die Beiträge des Sammelbandes zeigt.
Der erste Text stammt von dem Psychologen Hugo Münsterberg, dessen 1916 veröffentlichte Monographie The Photoplay noch heute einen wichtigen Bezugspunkt darstellt. Der Aufsatz »Warum gehen wir ins Kino?« (1915) fasst Münsterbergs wichtigste These prägnant zusammen: Die Verfahren des Films ermöglichen eine medienspezifische Form der Weltdarstellung, die der menschlichen Psyche auf besondere Weise entspricht. Kadrierung, Mise-en-scène und Montage fokussieren die Aufmerksamkeit, drücken Emotionen aus und sind so flexibel wie Fantasien oder Erinnerungen. Beim Film handelt es sich daher um die »einzige visuelle Kunst, in der der gesamte Reichtum unseres inneren Lebens [...] in den äußeren Eindrücken selbst lebendig gemacht werden kann« (33). Diese Möglichkeiten der neuen Kunstform sollen Münsterberg zufolge mithilfe der Psychologie weiterentwickelt werden.
Der zweite Beitrag, ein Buchauszug von Gilbert Cohen-Séat (1946), fordert eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Film, die über die Psychologie hinausgeht. Der französische Filmemacher, Publizist und Gründer des ersten filmwissenschaftlichen Instituts setzt bei der Pragmatik der Filmkommunikation an: Die »Filmologie« untersucht nicht nur Filmstrukturen (»filmische Tatsachen«) und Zuschauerreaktionen (»kinematographische Tatsachen«), sondern auch ihre Zusammenhänge und kommunikativen Voraussetzungen (»institutionelle Tatsachen«). Dies erfordert eine interdisziplinäre Vorgehensweise. Es geht dabei vor allem darum herauszufinden, »wie uns der Film die Welt wieder zurückgibt und in welch völlig neuer Art und Weise er für uns Wirklichkeiten erschafft« (45), um auf diesem Wege vielleicht ein bildliches »Alphabet der menschlichen Gedanken« (47) zu erkennen.
Dieser Zusammenhang zwischen Filmspezifik und philosophischen Konzeptionen des Bewusstseins, der Wahrnehmung, Epistemologie und Welterfahrung bildet in den folgenden Beiträgen ein wiederkehrendes Thema. Der Husserl-Schüler Roman Ingarden untersucht in seinem Aufsatz »Der Film« (1947) das Verhältnis des Tonfilms zu Literatur, Malerei, Theater und Musik. Ihm zufolge unterscheidet sich der Spielfilm von der Literatur durch seine Bilder, von der Malerei durch seine Bewegung, vom Theater durch seinen Primat des Visuellen; er ähnelt der Musik durch seine Zeitlichkeit und Rhythmik, die allerdings vor allem in der visuellen Entfaltung der Räume gegeben sind. Dass der Film in sich Merkmale mehrerer Kunstformen vereint, stellt Filmemacher vor die schwierige Aufgabe, ein »organisch geeintes Ganzes« zu erschaffen. Gelingt dies jedoch, ermöglicht es der Film, »das Schicksal des Menschen […] in die Tiefe der konkreten Zeit und des konkreten Raumes versenkt zu zeigen« (67).
Maurice Merleau-Ponty geht es in seinem Beitrag »Das Kino und die neue Psychologie« (1947) um eine andere Spielart der Phänomenologie und um die leibliche Unmittelbarkeit der Filmwahrnehmung. Die »neue Psychologie« beweise, dass Wahrnehmung – insbesondere die soziale Wahrnehmung anderer Menschen – nicht in der intellektuellen Interpretation und Synthese von Einzelempfindungen bestehe, sondern im unmittelbaren Erfassen von Strukturen. Diese Erkenntnis überträgt er auf den Film: »Der Film lässt sich nicht denken, er lässt sich wahrnehmen« (82). Da die Bedeutungen und Themen des Kinos durch dessen sinnliche, zeitliche Form direkt gegeben seien, eigne es sich besonders dafür, »die Verbindung von Geist und Körper [...] und den Ausdruck des einen im anderen hervortreten zu lassen« (ebd.), was einem Anliegen der neueren Phänomenologie entspreche.
Dass der programmatische Aufsatz »Das Anti-Kino« (1973) des Poststrukturalisten Jean-François Lyotard in den Sammelband aufgenommen wurde, überrascht etwas, auch weil Lyotard nur wenig zum Film geschrieben hat. Er nimmt jedoch Gedanken vorweg, die später bei Deleuze eine wichtige Rolle spielen. Demzufolge zeichnet sich der kommerzielle Film durch eine funktionale Organisation seiner Bild-Bewegungen aus, die bestimmte Bewegungen ausschließt, um Ordnung, Wiederholung, Normentsprechung und Identifikation zu erzeugen (gemeint sind dramaturgische Notwendigkeit, Kontinuitätsmontage, usw.). Ein avantgardistisches »Anti-Kino« könne dagegen durch die Gegenpole der Immobilisierung oder exzessiven Bewegung andere Formen der Lust erzeugen, bei denen die filmische Darstellungsweise selbst in den Vordergrund rückt.
Im Kontrast zu Lyotards anti-repräsentationalistischem Programm steht der Text von Stanley Cavell, der zentrale Gedanken aus dem umfangreichem Schaffen des amerikanischen Philosophen bündelt: »Was wird aus den Dingen im Film?« (1978). Filme vermögen Cavell zufolge die Sicht der Zuschauer auf die Dinge der Welt in spezifischer Weise zu verändern – sie leisten einen Beitrag zur Philosophie. So zeigten Keatons und Chaplins Komödien unterschiedliche Bedingungen menschlichen Glücks auf: die Fähigkeiten, angesichts der Zumutungen der Welt Haltung zu bewahren (Keaton) oder ihnen durch Imagination zu entfliehen (Chaplin). Andere Filme, die unvermittelt zwischen der Darstellung von Wirklichkeit und Fantasien ihrer Figuren wechseln, ermöglichten Einsichten in die Logik menschlicher Wünsche. Die Aufgabe der Filmkritik bestehe darin, die filmspezifische Form und Bedeutung solcher dargestellten Dinge zu beschreiben; die Aufgabe der Filmtheorie darin, sie zu erklären.
Dantos Überlegungen werden am Schluss des Sammelbandes von Noël Carroll wieder aufgegriffen. Wie Cavells Text ist auch der Aufsatz »Bewegte Bilder« (1979) von Arthur C. Danto eine deutschsprachige Erstveröffentlichung. Ähnlich wie Ingarden versucht Danto die Spezifik des Films durch dessen Abgrenzung von anderen Kunstformen zu bestimmen: Von der Malerei unterscheidet sich der Film durch seine technische Reproduzierbarkeit sowie die Erwartbarkeit bewegter Bilder; im Gegensatz zum Theater sind beim Spielfilm Rolle und Darsteller unauflöslich miteinander verwoben. Zudem lässt Danto ein Thema der vorigen Beiträge wieder anklingen: Durch die bewegte Kamera zeigt der Film »nicht nur, was er zeigt, sondern zugleich die Tatsache, dass es gezeigt wird. Er gibt uns nicht nur ein Objekt zu sehen, sondern auch eine Wahrnehmung dieses Objekts, eine Welt und gleichzeitig eine Weise, die Welt zu sehen« (136).
Zwischen den Beiträgen der beiden analytischen Philosophen sind zwei Interviews mit dem von Bergson inspirierten Poststrukturalisten Gilles Deleuze eingeordnet, dessen zweibändiges Werk Kino hierzulande wohl das meistzitierte filmphilosophische Buch ist. Die Auswahl der Interviews zeigt das Bemühen, in Deleuzes Argumentation einzuführen; trotzdem sind die Texte ohne Vorkenntnisse schwer verständlich. Für viele Leser wäre eine kurze Erläuterung zentraler Termini wie »Zeit-Bild« sicher hilfreich gewesen. Im ersten Interview »Über das Bewegungs-Bild« (1983) grenzt Deleuze sich von der Filmsemiotik ab und betont die Merkmale der Visualität und Bewegung des Films. Es geht ihm um »ein neues Verständnis von Bildern und Zeichen« – eine »Logik des Films« (138) – und um eine Klassifikation der Bildtypen, die sich im Lauf der Filmgeschichte herausgebildet haben. So sei mit dem italienischen Neorealismus das »Aktionsbild« in eine Krise geraten; etabliert habe sich das »Zeitbild«: Nicht mehr das situative Agieren von Figuren steht im Mittelpunkt, sondern optische und akustische Wahrnehmungen, die Zeit und Bewegung entkoppeln. Im zweiten Interview »Über das Zeit-Bild« (1985) wird deutlicher, dass Deleuze die zeitliche Entwicklung sensomotorischer Schemata, die mit der Darstellung des Figurenhandelns durch Bewegungen in Bild und Montage, mit Einstellungsdauern, Zeitmanipulationen, Schnittfrequenzen usw. verknüpft sind, für das entscheidende Moment des Filmerlebens hält. Das Kriterium für die Bewertung von Filmen bildeten letztlich die neuronalen »Bahnungen« im Gehirn der Zuschauer.
Im Vergleich zu Deleuzes unvermittelt zwischen Metaphern und naturwissenschaftlichen Konzepten wechselnder Ausdrucksweise ist die Argumentation von Noël Carroll im letzten Beitrag des Sammelbandes kristallklar. »Auf dem Weg zu einer Ontologie des bewegten Bildes« (1995) bezieht Carroll sich explizit auf Ingarden und Danto und arbeitet vier notwendige Bedingungen für moving images heraus (173): Bewegte Bilder sind erstens »abgetrennte Displays«, bei denen das Raumverhältnis zwischen Wahrnehmendem und Wahrgenommenem unterbrochen ist. Zweitens kann man von ihnen Bewegung erwarten. Drittens werden ihre Vorkommnisse (z.B. einzelne Filmvorführungen) durch »Schablonen« (z.B. Filmkopien) erzeugt. Und viertens sind diese Vorführungs-Vorkommnisse – im Gegensatz etwa zu Theater-Aufführungen – selbst keine Kunstwerke. Diese Merkmale des Films und anderer Bewegtbildmedien bedeuten jedoch nicht, dass ihnen bestimmte Stilrichtungen angemessener wären als andere, wie dies in normativen Filmtheorien angenommen wurde.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sämtliche Beiträge des Sammelbandes sich mit der Wesensbestimmung des Films beschäftigen, wobei insbesondere dessen Visualität und Bewegung hervorgehoben werden. Viele der Autoren sind zugleich darum bemüht, filmspezifische Möglichkeiten der Weltdarstellung zu erfassen und deren philosophische Relevanz zu betonen. Die chronologische Anordnung der Beiträge ermöglicht es, Entwicklungen dieses doppelsträngigen Diskurses nachzuvollziehen – von der frühen Filmphilosophie über die Nachkriegszeit und die siebziger Jahre bis zur Gegenwart; vom Normativen zum Deskriptiven – und auf dieser Grundlage heutige Diskussionen besser zu verstehen. Es ist spannend zu lesen, wie früh und wie differenziert viele gegenwärtige Überlegungen vorformuliert wurden. Wer eine systematische Übersicht über den aktuellen Stand der Filmphilosophie oder über den Film als Philosophie sucht, kommt zwar um andere Bücher nicht herum, [3] doch Liebschs handlicher Sammelband schließt in jedem Fall eine Lücke im Publikationsangebot. Die Engführung auf zwei besonders grundlegende Themen, die pointierte, ausgewogene Auswahl konkurrierender Positionen und die sorgfältige editorische Arbeit machen den Band zu einer überaus gelungenen, für Seminare gut geeigneten Einführung in die Philosophie des Films – mit einer Einschränkung.
3. Philosophie des Films – disziplinär oder interdisziplinär?
In seiner ansonsten instruktiven Einleitung ordnet Liebsch die Philosophie des Films dem Forschungsbereich des akademischen Fachs »Philosophie« zu und grenzt sie von der filmwissenschaftlichen Theoriebildung explizit ab. Dass dies jedoch sachlich nicht haltbar und wissenschaftsstrategisch ungünstig ist, zeigt sich bereits an seiner eigenen Textauswahl: Zwei der Autoren waren keine Philosophen, viele der übrigen stützen sich stark auf die Psychologie, arbeiten mit Filmwissenschaftlern zusammen oder werden von diesen ausgiebig diskutiert. Filmphilosophie und Filmtheorie lassen sich nicht disziplinär trennen. Als Grundlagenwissenschaft »zweiter Ordnung«, die alltägliches und wissenschaftliches Denken der Reflexion unterzieht, ist Philosophie weder durch ihren Gegenstandsbereich noch durch ihre Methoden eindeutig auf das Lehrfach begrenzbar; und umgekehrt bedient sich das Fach »Filmwissenschaft« seit jeher einer interdisziplinären Vielfalt von Verfahren. Liebsch ist sich dieser Problematik bewusst, nimmt jedoch an, »die Philosophie des Films« stütze sich auf andere Forschungstraditionen als »die Filmtheorie«, die sich zudem weder um Wesensbestimmungen des Films noch um das Philosophieren mit Film kümmere (14). Diese unzutreffende Annahme ist nur daraus verständlich, dass Liebsch die Filmtheorie auf die frühe Filmsemiotik reduziert und alle übrigen Positionen ignoriert, darunter etwa die kognitive und analytische Filmtheorie, die Semiopragmatik, den Konstruktivismus oder die Filmnarratologie. [4] Die meisten Sammelbände zur Philosophie des Films wurden und werden von Philosophen und Filmwissenschaftlern gemeinsam herausgegeben (vgl. Anm. 1-3). Im Center for Cognitive Studies of the Moving Image kooperieren Philosophen wie Thomas Wartenberg und Noël Carroll seit Jahren mit Filmtheoretikern wie Murray Smith oder Carl Plantinga. Viele filmtheoretische Arbeiten beschäftigen sich mit philosophischen Fragen, und das wäre zumindest in der Einleitung eine ausführlichere Erwähnung wert gewesen. Statt Grenzlinien zu ziehen, sollte der Austausch zwischen den Disziplinen ausgebaut werden. Kurz: Die Philosophie des Films ist keineswegs nur Sache der Philosophen, sondern auch der Filmwissenschaftler – und auch für sie kann Liebschs Band nützlich sein.
Anmerkungen
[1] Vgl. die Literaturübersicht von Birgit Leitner in der Internet-Publikation Medienwissenschaft/Hamburg. Berichte und Papiere, Nr. 89, http://www1.uni-hamburg.de/Medien//berichte/arbeiten/0089_08.html. [zurück]
[2] Vgl. etwa Christopher Falzon, Philosophy Goes to the Movies. An Introduction to Philosophy, New York/London 2007, 3-13; Murray Smith/Thomas E. Wartenberg (ed.), Thinking through Cinema. Film as Philosophy, Malden/MA 2006, 1-4. [zurück]
[3] Im November 2008 wird die bisher umfassendste systematische Anthologie zur Philosophie des Films erscheinen: Paisley Livingston/Carl Plantinga (eds.), The Routledge Companion to Philosophy and Film, London. Eine systematische Übersicht bieten auch Thomas E. Wartenberg/Angela Curran (eds.), The Philosophy of Film. Introductory Text and Readings, Malden, MA 2005. Mit dem Film als Philosophie beschäftigen sich Murray Smith/Thomas E. Wartenberg (eds.) Thinking through Cinema. Film as Philosophy, Malden, MA 2006, sowie Ludwig Nagl/Eva Waniek/Brigitte Mayr/Raymond Bellour (eds.), film denken – thinking film. Film and Philosophy, Wien 2005. [zurück]
[4] Um nur einige Beispiele zu nennen: Der analytische Filmtheoretiker Carl Plantinga entwickelt in Rhetoric and Representation in the Nonfiction Film (Cambridge 1997) eine Wesensbestimmung des Dokumentarfilms. Francesco Casetti, Vertreter eines semiopragmatischen Ansatzes, setzt sich in L’occhio del novecento (Mailand 2005) mit der Frage auseinander, wie die spezifischen Merkmale des Films unsere Weltwahrnehmung verändern. Daniel Frampton erneuert in Filmosophy (London 2006) die These, dass Film eine Form der Philosophie ist. Innerhalb der Medienwissenschaft ist die Abgrenzung verschiedener Einzelmedien voneinander – und damit ihre Wesensbestimmung – ein zentrales Thema, zu dem u.a. so unterschiedliche Theoretiker wie der Konstruktivist Siegfried J. Schmidt und die Narratologin Marie-Laure Ryan differenzierte Beiträge geliefert haben. [zurück]
2008-06-12
JLTonline ISSN 1862-8990
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