Hartmut Böhme
Vom »turn« zum »vertigo«
Wohin drehen sich die Kulturwissenschaften?
Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 2006. 416 S. (Preis: EUR 14,90). ISBN: 978-3-499-55675-3.
Es muss jeden, der sich, wie der Rezensent, als Kulturwissenschaftler bezeichnet, wahrlich freuen, wenn Doris Bachmann-Medick in ihrem neuen Buch mit unerschöpflicher Energie die kulturwissenschaftliche Neuorientierung all jener Disziplinen einfordert, die sich, oft schon neu gelabelt, unter dem Dach einer »Kulturwissenschaftlichen Fakultät« versammeln, die früher »Philosophische Fakultät« hieß und die Geisteswissenschaften beherbergte. Die Autorin ist hierzulande eine der wichtigsten Vertreterinnen dieses Wandels zu den – im Kern kulturanthropologisch informierten – Kulturwissenschaften. Um die Richtungen vorzugeben, wohin der »qualitative Sprung« führen soll, den die Autorin stets verlangt, wenn Neuerungen den Titel eines »turns« verdienen wollen, hat die Autorin mit großer Sachkenntnis sieben turns analysiert. Sie leitet die turns aus ihren Entstehungszusammenhängen her, charakterisiert sie in ihren (oft politischen) Motivationen, kategorialen und methodischen Verfahren und theoretischen Zielen; und sie stellt dabei die Gretchen-Frage, ob ein eigenständiges methodisches Forschungsset mit starker Wirkung auf mehr als nur die Ursprungsdisziplin vorliegt. Am Ende eines jeden Kapitels gibt die Autorin einen Überblick auf Anwendungen der jeweiligen turns in verschiedenen Fächern. Jedem Kapitel folgen umfangreiche Anmerkungen sowie jeweils eine nützliche Bibliographie mit einführender Literatur zu den turns. Es handelt sich um den interpretive, performative, reflexive/literary, postcolonial, translational, spatial und iconic turn.
Die durchgängig englische Bezeichnung zeigt an, dass die Autorin keine Wissenschaftsgeschichte der deutschen Kulturwissenschaft anstrebte (die es, mit vielen ›turns‹, seit langem gibt). Sie wollte offensichtlich auch nicht französische oder englische Ansätze einbeziehen, etwa die Annales-Schule oder die Tradition der Birmingham Cultural Studies, wobei beide sowohl in Europa wie in den USA außerordentlich wirksam waren. Vielmehr geht es, von einer halben Ausnahme abgesehen (iconic turn), um eine Analyse der US-amerikanischen Wissenschaftsszene der letzten drei Jahrzehnte, insoweit diese vor allem von der Kulturanthropologie inspiriert wurde.
Wenn das Buch eingangs »von einer systematischen Ausdifferenzierung der turns und Perspektivenwechsel, von transdisziplinären Übersetzungsprozessen zwischen Theorien, methodischen Einstellungen und Forschungsansätzen« (20) spricht, so sollte man eben dies, und besonders die systematische Ausdifferenzierung, nicht erwarten. Das Buch will für Leser und Leserinnen hierzulande eine (durchaus auch kritische) Ordnung und Erkennbarkeit im Dschungel der turns erzeugen. Leider erhält der grundlegende linguistic turn kein eigenes Kapitel, sondern wird nur als jene Wende skizziert, von der sich alle nachfolgenden kritisch abheben werden. Von heute her gesehen, haben sich indes die sprachanalytischen Fundierungen wissenschaftlicher Erkenntnis (sofern sie denn überhaupt etwas Neues waren) durch die nachfolgenden turns keineswegs erledigt. Sondern es wäre die Aufgabe, diese zumeist sektoralisierten turns ›systematisch differenzierend‹ miteinander abzugleichen. Ist z.B. der performative turn eine systematische Entgegensetzung zum oder gar eine Ersetzung des linguistic turn oder ist er eine erweiternde Ergänzung? Für die Grundlegung der Kulturwissenschaften ist die Frage des epistemologischen Verhältnisses von ›Sprache‹ und ›Darstellung‹ tatsächlich fundamental; aber eine in diesem Sinn systematische Analyse erfolgt nicht.
Wenn dies anders wäre, so würde die Autorin in ihrem Ausblick nicht auf zwei Seiten 15 (fünfzehn!) weitere mögliche turns in Aussicht stellen, was denn hieße, die Drehungen bis zum Vertigo zu treiben. Dass eine solche Erwägung überhaupt angestellt wird, zeigt an, dass keine »systematische Ausdifferenzierung« unternommen wird. 20 oder auch nur 15 Wenden in dreißig Jahren: das wäre nicht Wissenschaft, sondern allenfalls Markt und Mode, wenn nicht Blödsinn. Wobei auch noch »Bindestrich-turns« (382) erwartet werden, womöglich: ein neuro-dialogical-medial-performative-turn? Es rächt sich, dass die Autorin zu Beginn wissenschaftsgeschichtliche Rekonstruktionsmodelle, und davon eigentlich nur eines, nämlich das Kuhn’sche Paradigmen-Modell, zur Seite legt. Gleichwohl spricht die Autorin, trotz Ablehnung des Paradigma-Modells, das ganze Buch über immer wieder von paradigmatischen Wechseln usw., die schließlich nicht mehr von turns unterschieden werden können. Wichtiger aber: Ein Ernstnehmen des Paradigmamodells (und seiner vierzigjährigen kritischen Diskussion) hätte dazu gezwungen, den Begriff des »turn« gründlich epistemologisch durchzuprüfen. Im Grunde übernimmt die Autorin grosso modo die Selbstbezeichnungen, die neue Wissenschaftlernetzwerke sich selbst geben, und befragt sie darauf, inwieweit sie eine Art methodische Autonomie gewonnen haben. Der sog. reflexive turn indes ist kaum mehr als eine (notwendige) Reflexion darauf, dass Wissenschaftler stets ein Set von Schreib- und Darstellungsformen nutzen, die ihren Gegenstand präformieren, so dass sich eine Verwechslung von Darstellung und Dargestelltem grundsätzlich verbietet. Diese kritische Einsicht hat die Kulturanthropologie spät eingeholt, sie gehört aber spätestens seit Nietzsche und Wittgenstein zu den unhintergehbaren Bedingungen wissenschaftlicher Produktion. Von einem turn kann hier gar nicht die Rede sein, allenfalls von einem nachholenden Gewinn von Reflexivität in einigen humanities, die es offensichtlich nötig hatten. Jedenfalls ist der reflexive turn nicht mit dem performative oder postcolonial oder spatial turn auf eine Ebene zu stellen. Denn die letzteren bedürfen immer der kritischen und dekonstruktiven Strategien der Selbstreflexion sowie der Beachtung ihrer jeweiligen Darstellungsformen. Die turns liegen also nicht auf derselben Ebene.
Die sensibler und schneller auf kulturelle und politische Veränderungen reagierenden humanities in den USA sind bekanntlich seit dem Ende des Vietnamkrieges stark durch politische Faktoren bestimmt worden. Dazu gehörten so verschiedene Vorgänge wie die im Zuge des Postkolonialismus selbstbewusste Visibilisierung vergessener oder unterdrückter regionaler, ethnischer und religiöser Überlieferungen und Minoritäten; die neuen Verteilungen von Populationen, Gütern und Dienstleistungen unter Bedingungen polyzentrischer und zugleich hegemonialer Globalisierung, die ihrerseits neue Formen von Regionalisierung, Lokalisierung und Hybridisierung hervorbringt; die Entortung ganzer Bevölkerungsteile in den weltweiten Migrations- und Flüchtlingsströmen, die ein neues Bewusstsein von Multi- und Interkulturalität induzierten; die Verschiebung, Umschichtung, Auslöschung und Kreation von Zentren wie Peripherien von Macht und kultureller Selbstdarstellung; die globale Dissemination von Popkultur und Warenästhetik bei gleichzeitig wachsenden lokalen kulturellen wie politischen, globalisierungskritischen Widerständen; die Entstehung transnationaler communities durch neue Kommunikationstechnologien, die ihrerseits ein Element in der Transformation des schriftzentrierten Kulturtyps in eine audiovisuelle Medienkultur darstellen. Damit verbunden waren Krisen der klassischen, nämlich westlichen Formen der Repräsentation kultureller Werte, Normen und Wissensordnungen, die in ihren kolonialistischen Gesten dekonstruiert wurden. Verbunden damit spielten policies of sex, gender and race eine bedeutende Rolle und schlugen sogleich auf der Ebene universitärer Wissenschaften durch. Solche und andere soziale, kulturelle und politische Prozesse sind es, die zu den Transformationen tradierter Disziplinen im Zeichen der cultural turns sowie zu einer Fülle von Neugründungen von Fächern oder studies geführt haben. In den USA war es nicht anders als bei den englischen cultural studies, die ohne den politischen Hintergrund der proletarischen Kultur nicht verständlich wären.
Nun gibt es in der Wissenschaftsgeschichte zwei Ebenen, um Transformationen des Wissens zu analysieren: man berücksichtigt eher intrinsische oder extrinsische Faktoren; einmal wird dabei das Modell interner Evolutionen benutzt, die durch kognitive Krisen, Dissonanzen, Innovationen ausgelöst werden und zu feineren Ausdifferenzierungen oder zu neuen Niveaus der Verfahren, Kategorien und Theorien führen. Oder es werden Veränderungen des Wissenssystems mit Veränderungen anderer Systemebenen der Gesellschaft (Ökonomie, Recht, soziale Bewegungen, etc.) korreliert oder in Einflussbeziehungen gebracht. Bachmann-Medick gehört weder der einen noch der anderen Seite zu. Sie benennt zwar für alle turns politische und soziale Kontexte, die wiederum neue Gegenstandsfelder begründen. Doch verwahrt sie sich strikt dagegen, turns nur durch das Aufkommen neuer Fragestellungen und Themen zu begründen. Sie verlangt, dass ein turn stets einen »Umschlag« vom Untersuchungsgegenstand zu einer Analysekategorie (so z.B. 256, 303) und damit einen »konzeptionellen Sprung« (z.B. 26) aufweisen muss. Diese metaphorische Rede will sagen: Eine wissenschaftliche Innovation wird erst zum turn, wenn sie sich, gegen ihre Genesis aus soziokulturellen Problemfeldern, verselbständigt und zu einem wissenschaftstheoretisch und methodologisch überzeugenden Modell mit interdisziplinärer Anwendbarkeit entwickelt hat. Nun zeigen indes alle untersuchten turns, dass ihre Verbindung zu aktuellen politischen Problemen, Krisen, Fragestellungen und Gegenstandsfeldern überhaupt nicht aufzulösen ist. Gerade bei den cultural turns (stärker etwa als in der klassischen Hermeneutik oder im Strukturalismus) wird sichtbar, dass die wissenschaftliche Ethik, die Verfahren, die Kategorien und sogar die Theorien, umso mehr die Untersuchungsfelder, von den ›Gegenständen‹ mitbestimmt bleiben, denen sich die turns verdanken. Es ist ein müßiges Unterfangen, die cultural turns von den Problemfeldern loslösen zu wollen, aus denen heraus sie entstanden sind. Viel mehr als andere wissenschaftliche Modelle tragen die cultural turns einen historischen und politischen Index, den abzustreifen sie um das bringen würde, was sie erklärter Maßen sein wollen: nicht nur explorierende und explanative, sondern (kulturell/ politisch) eingreifende Wissenschaft.
Darum ist es problematisch, dass die Autorin aus ihrem sympathischen Engagement für all die turns einen Reformfahrplan für die deutschen Kulturwissenschaften machen will. Sie verspricht dabei, neben methodischen Differenzierungszuwächsen, vor allem moralische und politische Gewinne: eine bessere politische und kulturelle Praxis in den Feldern der Multikulturalität, der Minoritätenpolitik, des notorisch verdächtigen Euro- und Logozentrismus, der latent oder offen kolonialistischen Hierarchisierung von Kulturen usw. Es ist aber ein Irrtum anzunehmen, dass die Kulturwissenschaften mit den Feldern und Verfahren gleichzusetzen wären, die in den cultural turns ins Spiel gebracht wurden. Und es ist eine seltsame Anpassung, die amerikanischen turns einfach in die hiesige Wissenschaftslandschaft als Reformvorbilder translationieren zu wollen. Hier gerät die Autorin in performativen Widerspruch zu dem, was beim postcolonial, translational wie spatial turn von ihr selbst herausgearbeitet wurde: nämlich dass es Traditionen von local knowledge gibt. Das heißt: So wenig wie kulturelle, kann man auch wissenschaftliche Modelle nicht für andere Milieus, Traditionen, Kulturen verordnen. Dafür wäre ein kritischer Abgleich zwischen den turns und hiesigen Wissenschaftspraktiken erforderlich, und zwar von einer wissenschaftshistorisch und theoretisch ausgewiesenen Position aus. Dies aber unterbleibt.
Darum hätte die Autorin auch Empfehlungen an die deutsche Wissenschaft besser unterlassen sollen. Etwa, wenn sie mehrfach erklärt, kulturwissenschaftliche Modelle wären Orientierungen für bereits bestehende Disziplinen, aber nicht geeignet, ein eigenes Fach zu begründen. Nun liest der Rezensent, der an eine Universität berufen wurde, um das Fach Kulturwissenschaft zu vertreten, nicht besonders gern, dass es dieses Fach besser gar nicht geben sollte (im Falle eines Präsidenten unter Sparzwängen ist das eine gefährliche Empfehlung). Doch nicht diese Betroffenheit macht die Empfehlung der Autorin problematisch. Sie übersieht vielmehr völlig, dass es in der Wissenschaftsgeschichte nicht die Ausnahme, sondern die Regel ist, dass neue Fächer gegründet werden (alle alten Fächer waren einmal Wagnisse mit ungewissem Ausgang). Sie lässt unerwähnt, dass im Zuge der Veränderungen der amerikanischen Wissenschaftslandschaft viele neue Fächer gegründet wurden. Sie übersieht ferner, dass in Deutschland, bezogen etwa auf Fragen der Medien, des Geschlechts, der Kultur, manche Universitäten den Weg gegangen sind, diese ›Felder‹ als Querschnittsorientierungen allen Fächer zu empfehlen, während andere Universitäten es bevorzugten, diese ›Orientierungen‹ als Fächer einzurichten: Medienwissenschaft, Gender Studies, Kulturwissenschaft. Schließlich übersieht die Autorin, dass letztere Entscheidung das freie Recht einer jeden Universität darstellt. Schließlich bedeutet die Entscheidung für ein ›Fach‹ nicht dasselbe wie die für das gleiche Modell: So folgt das Fach Kulturwissenschaft in Tübingen anderen Traditionen als das Fach an der HU Berlin; so kann Kulturwissenschaft einmal mehr Europäische Ethnologie, einmal mehr Kulturgeschichte sein; oder sie ist ein Programmstudium, das aus verschiedenen Disziplinen gespeist wird, wie in Frankfurt/Oder. Ähnlich steht es mit Gender und mit Medien. Ferner kann es auch sein, dass an derselben Universität Gender, Medien oder Kulturwissenschaft sowohl als Orientierungen bestehender Fächer wie auch als Einzelfächer eingerichtet werden. ›Kulturwissenschaft(en)‹ und ›cultural studies‹ weisen unterdessen derart ausdifferenzierte Theorien, Modelle und (!) Gegenstandsfelder auf, dass verschiedene disziplinäre oder nicht-disziplinäre, also konkurrierende Lösungen das Beste sind. Dies stellt, in wissenschaftsgeschichtlicher Betrachtung, die offene experimentelle Situation her, die man wollen muss, um auf Dauer, durch vergleichende Evaluation, aus dem Set der Optionen ein oder mehrere Modelle favorisieren zu können. Bei der relativen Neuheit von Medienwissenschaft, Gender Studies oder Kulturwissenschaft an bundesdeutschen Universitäten ist das Offenhalten dieses kognitiven und methodologischen Experimentalfeldes genau das Richtige. Empfehlungen für die Lösung ›Cultural Studies‹ mit indirekter Anheimstellung der Liquidiation anderer Optionen sind hingegen verfehlt. Übrigens gilt Ähnliches für die History of Science, die Performance Studies, die Semiotik: Sie sind mal eine ›Orientierung‹, mal ein ›Fach‹, mal ein ›Feld‹, und jeweils anders so in den USA, in Deutschland oder in Frankreich.
Sicher wäre diese Kritik zu mildern, wenn das Buch nicht den anspruchsvollen Untertitel »Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften« trüge. Als Einführung in die amerikanischen cultural turns ist das Buch ebenso verdienstvoll und empfehlenswert wie es als »Orientierung« problematisch ist. Es ist ohne Frage zu begrüßen, die kritischen Wissenschaften, die aus aktuellen sozialen und politischen Verwerfungen in den Feldern von (Post-)Kolonialismus und Imperialismus, von Minoritäten und Migration, von Multikulturalität und Globalisierung entstanden sind, auch hierzulande nachhaltig zu rezipieren. Es ist auch notwendig, möglichst viele Studierende an diese Probleme heranzuführen und sie über die Entstehungsbedingungen und Positionen zu informieren – und das tut die Studie kenntnisreich und übersichtlich. Als Neuorientierung für die Kulturwissenschaften reicht dies indes nicht hin. Einmal abgesehen davon, dass die Studie von Europa oder dem Westen durchweg als von einer blockhaft homogenisierten Größe spricht, was vielleicht Edward Said in seinem Orientalismus-Buch 1978 in polemisch-kritischer Zuspitzung noch durfte, werden die hiesigen Wissenschaften durchweg unterschätzt: Der interpretive turn in den USA wurde wesentlich durch europäische Konzepte inspiriert, doch stehen die hiesigen Theorien und Methoden der Interpretation, Historischen Semantik, Semiotik und Metaphorologie weit über dem Niveau, das durch die Diskussion um Clifford Geertz erreicht wurde. Der performative turn (inklusive des ritual turns) hat in den gut 2000 Publikationen, die aus dem Berliner SFB 447 und dem Heidelberger SFB 619 hervorgegangen sind, unterdessen ein Differenzierungsniveau erreicht, das sich von den aus den USA stammenden Auslösern (Turner, Schechner, etc.) völlig gelöst hat. Ähnliches gilt für den reflexive/literary turn: Abgesehen von der in der Ethnologie überfälligen Writing-Culture-Debate gingen diejenigen Dimensionen, die von der Autorin mit dem Wechsel in der »Leitwissenschaft« von der Ethnologie zur Literaturwissenschaft angeführt werden, entscheidend von französischen Denkern aus (oft unter deutschem Einfluss: Nietzsche, Heidegger, Benjamin); dann erst verbreiteten sie sich über die Departments of Comparative Literature. Der spatial turn, sofern er überhaupt einer ist, hat in Europa starke wissenschaftshistorische Traditionen und wird universitär erfolgreich nur sein nicht durch Übernahme, sondern durch Integration der amerikanischen Ansätze, die sich auf postkolonialistische, globalisierte Raumregimes und urban spaces beziehen.
Der iconic turn, der ohnehin seine stärksten Vertreter in Deutschland hat, zumindest aber eine multilaterale Erfindung ist, passt ohnehin nur mit Mühe in die Reihe der turns, die die Autorin untersucht: Ihn verbindet beinahe nichts mit den anderen turns, die aus postkolonialen und globalisierungskritischen Kontexten stammen. Die Frage ist, warum gerade er einen turn bilden soll, nicht aber die medienwissenschaftlichen Innovationen, die von Berkeley über Köln bis Tokyo reichen. Das Modell ›Bildwissenschaft‹, so sehr es für die Kunstgeschichte überfällig ist (ohne sie ersetzen zu dürfen), kann die kulturellen Revolutionen, die durch die technischen Medien ausgelöst wurden, gewiss nicht tragen. Der iconic turn kann nur ein Teil der medienhistorischen Neuorientierung der Kulturwissenschaften sein. Dass jede kulturelle Objektivation entweder medial konstituiert oder wenigstens repräsentiert wird, ist eine Einsicht, die wahrlich fundamental für die Kulturwissenschaften ist. Man muss den weltweit daran arbeitenden Medienwissenschaftlern dankbar sein, dass sie ihre Arbeit nicht als ›turn‹ ausgestellt haben. Sie hätten mit Sicherheit ein Kapitel bekommen. So aber müssen die Medien irgendwie Unterschlupf unter dem Rubrum iconic turn finden – und das kann nicht gut gehen. Dass in einem systematischen Sinn die Medien hier fehlen, ist ebenso schmerzlich, wie die weitgehende Absenz der Geschichte (und der Wissenschaftsgeschichte, die für die Kulturwissenschaften eine zentrale Bedeutung einnimmt).
Die Konzentration des Buches auf die amerikanische Szene, die stets unter starkem Aktualitätsdruck steht, muss dazu führen, dass die in der longue durée arbeitenden Disziplinen, die doch auch Kulturwissenschaften sind, eigentümlich leer ausgehen: als hätten die modernen Archäologien, die Paläoanthropologie, die Mediaevistik, die Classics u.a. nicht außerordentliche theoretische und vor allem methodologische Beiträge zu den Kulturwissenschaften geleistet. Sofern den hiesigen Kulturwissenschaften Orientierungen geboten werden sollen, ist es auch inakzeptabel, dass Italien und Frankreich gänzlich, England und Deutschland nahezu als Faktoren der turns ausfallen. Dadurch fällt erst auf, dass die umgekehrte Richtung zu der, die das Buch von den USA zu uns nimmt, nämlich die von Europa in die USA nicht existiert. Die überragende Bedeutung, welche die französische Philosophie, die bedeutende Rolle, die deutsche Denker wie Nietzsche, Heidegger und Benjamin, der starke Einfluss, den die britischen cultural studies in den jüngeren amerikanischen Innovationen haben, soll hier nur deutlich machen, dass »Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften« nicht als Einbahnstraße von den USA nach Europa verlaufen müssen, aber auch nicht dürfen.
Worin ein wirklicher Vorsprung der amerikanischen Wissenschaften liegt, das ist der postcolonial turn, der von allen besprochenen turns wohl der einzige ist, der für hiesige Verhältnisse modellgebend ist – und das ist wichtig genug. Begrüßenswert auch ist der Ansatz zu einer Kulturwissenschaft als Übersetzung (translatio, translation, traduction). Hier hat die Autorin einen wichtigen Modus benannt, durch den die Heterogenität und Differenz der Kulturen miteinander in einem keineswegs harmonistischen, sondern wechselwirkenden und Alterität achtenden Sinn kommunizieren können. Auch dies ist seit der Antike als eine für das Funktionieren von Kulturen grundlegende Kompetenz hochgeschätzt worden. In welcher Weise indes translationierende Prozesse für Wissens- und Kulturprozesse fundamental sind, das kann nicht aus einer oft nur metaphorischen Verwendung des translational turn gefolgert werden; dazu bedarf es einer ausdifferenzierten Kulturtheorie.
2008-05-19
JLTonline ISSN 1862-8990
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