Jost Schneider

Was ist Literatur?

Handliche neue Textgrundlage für Seminare zu einer Grundsatzfrage der Philologie

Jürn Gottschalk/Tilmann Köppe (Hg.), Was ist Literatur? Basistexte Literaturtheorie. Paderborn: mentis 2006. 191 S. (Preis EUR: 19,80). ISBN: 978-3897853539.

Bei diesem Band handelt es sich um eine nützliche Zusammenstellung von neun ›Basistexten‹, von denen sechs aus der Feder kanonisch gewordener Literarturtheoretiker stammen und bereits an anderer Stelle publiziert wurden, während die drei anderen den Blickwinkel der aktuellen Forschung einnehmen und eher aus einer Metaperspektive die Probleme der Begriffsbestimmung thematisieren.

Was die von den Herausgebern vorgenommene Auswahl der Positionen betrifft, so kann bei einem Band dieses Umfangs (191 S.) nicht nach Vollständigkeit gefragt werden. Vielmehr standen hierbei offenbar die vermutlichen Interessen und Vorkenntnisse der anvisierten Leserschaft im Vordergrund: Der Band ist ganz hervorragend als Textgrundlage für literaturwissenschaftliche Hochschulseminare, nicht nur im Bereich der Germanistik, sondern aller neueren Philologien, geeignet und wohl auch im Hinblick auf eine solche Nutzanwendung konzipiert worden.

Jedenfalls haben es die Herausgeber geschafft, sechs kurze und gut lesbare Texte bzw. Textauszüge herauszugreifen, in denen besonders markante und gewissermaßen kanonische Positionen der neueren Diskussion über den Literaturbegriff vertreten werden. Diese Texte widersprechen sich mal direkt und mal indirekt, was aber im Hinblick auf hochschuldidaktische Belange unbedingt als Vorteil angesehen werden muss. Der Band liefert kein Plädoyer für diese oder jene Begriffsbestimmung, sondern eine anregende Zusammenstellung unterschiedlicher Positionen, die zu eigener Stellungnahme herausfordert.

Folgende sechs Positionen sind mit eigenen Textzeugnissen repräsentiert: An erster Stelle steht Hans-Georg Gadamer mit seinem Aufsatz über »Philosophie und Literatur« von 1981, in dem er noch einmal wesentliche Aspekte der hermeneutischen Sichtweise zusammenfasst. Es folgt Tzvetan Todorovs Artikel »Langage et littérature« von 1966, der die formalistisch-strukturalistische Position widergibt und dabei – wie nicht anders zu erwarten – den Aspekt der künstlerischen Sprachverwendung in den Mittelpunkt rückt. Monroe C. Beardsleys Aufsatz »The Concept of Literature« aus dem Jahre 1973 führt dann in diesem Band die Unterscheidung zwischen einem engeren und einem weitgefassten Literaturbegriff ein, wobei natürlich der Aspekt der Entpragmatisierung eine zentrale Rolle spielt. Eric D. Hirsch eröffnet dann mit seinem Essay »What Isn’t Literature« von 1978 den Reigen der relativistischen, anti-essentialistischen Begriffsdefinitionen, indem er auf besonders provozierende, normative Weise alles für Literatur erklärt, was sich als der Behandlung im Literaturunterricht würdig erweise. Stein Haugom Olsen vertritt mit seinem Aufsatz »Defining a Literary Work« von 1976 das institutionsgeschichtliche Paradigma, während schließlich Jacques Derrida den dekonstruktivistischen Part übernimmt (»›This Strange Institution Called Literature‹. An Interview With Jacques Derrida; 1992«). Alle Texte werden in – durchweg gelungener – deutscher Übersetzung abgedruckt, wobei es sich im Falle von Beardsley, Hirsch, Olsen und Derrida um deutschsprachige Erstveröffentlichungen handelt.

Auf diese sechs ›klassischen‹ Positionen der Literaturtheorie folgen drei Beiträge, in denen eher aus einer Metaperspektive über diese und andere Versuche der Begriffsbestimmung gesprochen wird. Achim Geisenhanslüke formuliert in seinem Originalbeitrag »Was ist Literatur? Zum Streit von Literatur und Wissen« Anforderungen an eine künftige Literaturdefinition, die einerseits den essentialistischen, andererseits aber auch den genealogisch-diskursanalytischen Ansätzen gerecht werden könnte. Simone Winko, Fotis Jannidis und Gerhard Lauer liefern in ihrem ebenfalls eigens für diesen Band verfassten Beitrag »Geschichte und Emphase. Zur Theorie und Praxis des erweiterten Literaturbegriffs« eine an den Kriterien Begriffsumfang, Normativität, Berücksichtigung ästhetischer Qualität und Einbeziehung von Funktionalität orientierte, aufschlussreiche Typologie der diversen Begriffskonstruktionen und verdeutlichen, dass in vielen Literaturgeschichten nach wie vor ein recht begrenzter, oft auch normativer Literaturbegriff zur Anwendung gelangt, so dass sich in der Praxis eine merkliche Kluft zwischen progressiver Literaturtheorie und konservativer Literaturgeschichtsschreibung ergibt. Tilmann Köppe befasst sich dann in seinem Originalbeitrag »›Was ist Literatur?‹ Bemerkungen zur Bedeutung der Fragestellung« in aufschlussreicher, gedanklich sehr klarer Weise mit der Fragestellung selbst und konstatiert, dass dieselbe eine Reihe sehr unterschiedlicher Bedeutungen und Implikationen haben kann, dass also die Unterschiedlichkeit der von Gadamer, Todorov usw. gegebenen Antworten wenigstens teilweise auf unterschiedliche Auslegungen der Fragestellung selbst zurückzuführen ist.

In ihrer Einleitung geben die beiden Herausgeber des Bandes knappe Zusammenfassungen der neun Artikel und referieren außerdem – wenn auch nur in sehr abgekürzter Form – einige weitere Positionen, die vielleicht mit gleichem Recht mit eigenen Artikeln hätten repräsentiert sein können (Harald Fricke, Volker Wiemann, Siegfried J. Schmidt, Thomas Grimm). Es versteht sich, dass dieser Liste noch Dutzende weitere Namen hinzugefügt werden könnten, doch man darf wohl resümieren, dass keine wesentliche Grundposition in dem vorgelegten Band fehlt oder ganz unerwähnt bleibt. Studierende der Literaturwissenschaften erhalten also eine gute erste Übersicht über das Spektrum der aktuelleren Begriffsdefinitionen.

Zwei kleinere Mängel lassen sich anführen. Erstens hätte im Hinblick auf die wahrscheinliche Leserschaft des Bandes meines Erachtens – und sei es nur auf einer oder zwei Seiten – eine kurze Übersicht über die Entwicklung des Literaturbegriffs bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts geliefert werden können. Und zweitens überzeugt es nicht vollständig, wenn die Anordnung der Beiträge mit einer »forschungslogischen Perspektive« (11) begründet wird. Denn erstens trifft das, wenn überhaupt, nur auf die sechs ›kanonischen‹ Positionen, nicht aber auf die drei ›Metakommentare‹ zu. Und zweitens haben wir es eher mit der Nachbildung einer idealtypisch konstruierten Forschungsgeschichte als mit der Rekonstruktion eines inneren Bedingungsverhältnisses zu tun, bei der ja unterstellt werden müsste, dass Todorov nicht ohne Gadamer, Beardsley nicht ohne Todorov usw. denkbar wäre. Tatsächlich handelt es sich wohl bei der Entwicklung der Diskussion über den Literaturbegriff um eine ungerichtete polyzentrische Ausdifferenzierung sich sowohl systematisch als auch chronologisch überlappender Denkrichtungen und Ansätze, die grundsätzlich nicht durch eine Abfolge, sondern nur durch ein Netzwerk repräsentiert werden kann. Die von den Herausgebern gewählte Anordnung der Beiträge ist deshalb zwar eine der Sache nach mögliche (und als solche durchaus plausibel), nicht jedoch eine ›forschungslogisch‹ notwendige.

In einer zweiten Auflage, die diesem nützlichen Buch sicherlich schon bald beschieden sein wird, können diese Details ohne Mühe verändert werden. Insgesamt kann dem sehr lesenswerten und leserfreundlichen Buch jedenfalls eine positive Resonanz gewünscht und prognostiziert werden.

2007-09-17

JLTonline ISSN 1862-8990

Copyright © by the author. All rights reserved.

This work may be copied for non-profit educational use if proper credit is given to the author and JLTonline.

For other permission, please contact JLTonline.