Catrin Misselhorn
Die Imagination im Spannungsfeld von Philosophie, Alltagspsychologie und Wissenschaft
Shaun Nichols (ed.), The Architecture of the Imagination. New Essays on Pretence, Possibility, and Fiction. Oxford: Clarendon Press 2006. viii, 296 S. (Preis: GBP 58,00). ISBN: 978-0-19-927572-4.
Der Begriff der Imagination hat eine lange philosophische Tradition, die wohl einen Höhepunkt im 18. Jh. erreichte. Das gilt insbesondere für Kant und den deutschen Idealismus, im Kontext dessen das Phänomen unter dem Begriff der »Einbildungskraft« diskutiert wurde. Aber auch der Empirist Hume sah in der Imagination nicht nur ein wichtiges Instrument modaler Erkenntnis, sondern er hielt sie auch für konstitutiv für unsere Konstruktion der externen Welt. Im Zusammenhang der sog. analytischen Philosophie genoss die Imagination hingegen lange Zeit geringes Ansehen. So hielt Gilbert Ryle in The Concept of Mind (1949) die Existenz der Imagination als eines besonderen Vermögens für absurd und empfahl im Hinblick auf die Frage, ob sie kognitiv oder nicht-kognitiv ist, sie zu ignorieren. [1] Diese Voreingenommenheit ist mittlerweile geradezu einem Imaginations-Enthusiasmus gewichen, den u.a. der vorliegende Sammelband dokumentiert. Der Imagination wird nunmehr in einer ganzen Reihe philosophischer Kernfragen eine tragende Rolle zugestanden, etwa im Hinblick auf die Rechtfertigung von Modalaussagen, die Zuschreibung mentaler Zustände, im Bereich der Emotionstheorie und natürlich in der Ästhetik. Ausschlaggebend für diese Wende war u.a. die Wiederbelebung der repräsentationalen Theorie des Mentalen. [2] Nach dieser Auffassung sind mentale Zustände wie Wahrnehmungen, Meinungen und Wünsche interne Repräsentationen, die einen Gehalt besitzen und eine bestimmte funktionale Rolle innehaben, die sie zu Meinungen, Wünschen, etc. macht.
Hieran schließt sich bereits eine der zentralen Fragestellungen des Buches an, nämlich wie die Imagination im Hinblick darauf zu konzipieren ist: Handelt es sich um eine distinkte kognitive Einstellung neben Meinungen, Wünschen etc. oder nicht? Diese Frage steht im Zentrum des ersten Teils über die Natur der Imagination, wird jedoch auch in vielen anderen Beiträgen wieder aufgegriffen. Der zweite Teil, mit dem schwer zu übersetzenden Terminus »Pretence« überschrieben, behandelt die Imagination als »so-tun-als-ob«, der dritte ist dem Problem des imaginativen Widerstands (»imaginative resistance«) gewidmet und im vierten und letzten Teil geht es um den Zusammenhang von Vorstellbarkeit und Möglichkeit. Da die Querverbindungen zwischen Artikeln aus verschiedenen Teilen nicht selten stärker sind als zwischen Beiträgen, die unter derselben Überschrift präsentiert werden, ist eine Besprechung der Artikel in der Reihenfolge, wie sie im Buch auftreten, nicht unbedingt sinnvoll. Daher werde ich mich stärker an den thematischen Zusammenhängen orientieren und versuchen, die Texte in einen Dialog zu bringen. Ich möchte mich auf drei Aspekte konzentrieren, die den thematischen Kern des Buchs ausmachen und von einer Mehrzahl der Beiträge berührt werden. Erstens: Bilden imaginative Zustände eine eigenständige Art mentaler Einstellungen? Zweitens: Welcher Zusammenhang besteht zwischen Imagination und Emotionen? Und drittens: Wie steht es mit dem jüngst intensiv diskutierten »puzzle of imaginative resistance«? Da die ersten beiden Aspekte in der Diskussion eng verknüpft sind, werde ich diese beiden zusammen behandeln und dann gesondert auf den dritten zu sprechen kommen. Zum Schluss möchte ich noch kurz auf das Problem des Zusammenhangs von Denkbarkeit und Möglichkeit eingehen, das zwar nicht das zentrale Thema des Buchs ist, aber zu den philosophischen Kernproblemen im Bereich der Imagination gehört.
1. Emotionen und die Natur der Imagination
Der den Band eröffnende Beitrag »Imagination and Emotion« von Timothy Schröder und Carl Matheson konstatiert einen Trend, imaginative Zustände als eigenständige kognitive Einstellungen (= DCAs für »distinct cognitive attitudes«) aufzufassen, die folgendermaßen definiert werden: »[…] a DCA is a kind of content-bearing state, tokens of which play a functional role distinct from that of the most familiar propositional attitudes (beliefs, desires, intentions, etc.) and distinct also from perception and hallucination.« (23) Diese Art der kognitiven Einstellung ähnelt Meinungen strukturell und in einigen ihrer Wirkungen, aber nicht in allen. So ziehen bloß imaginierte Propositionen inferentiell und emotional vergleichbare Folgen nach sich, unterscheiden sich jedoch im Hinblick auf die von ihnen initiierten Handlungen. Um ein Beispiel von Kendall Walton aufzugreifen: [3] Wir haben zwar Angst vor dem gefährlichen Schleim, den wir in einem Gruselfilm sehen, aber wir flüchten nicht aus dem Kino. Dieses Phänomen wurde als »Paradox der Fiktion« vielfach diskutiert: Wie kann es sein, dass wir starke emotionale Reaktionen auf fiktionale Ereignisse zeigen, von denen wir wissen, dass sie nicht real sind, was sich unter anderem daran zeigt, dass wir diesem Wissen gemäß handeln? Walton wurde durch dieses Paradox zu der kontroversen Annahme gedrängt, es könne sich bei unseren Gefühlsreaktionen auf Fiktionen nicht um echte, sondern nur um »Quasi-Emotionen« handeln. Doch das erscheint kontraintuitiv.
Weinberg und Meskin nehmen dies in ihrem Artikel »Puzzling over the Imagination« zum Anlass, generell an der Möglichkeit zu zweifeln, solche Fragen mit den Mitteln der Alltagspsychologie (»folk psychology«) zu beantworten. Da die Philosophie ihrer Meinung nach auf der Alltagspsychologie aufbaut, fordern sie dazu auf, diese durch eine naturwissenschaftliche Herangehensweise zu ersetzen. Im zweiten Teil ihres Beitrags, der die Überschrift »The Architecture of the Imagination« wohl durchaus programmatisch mit dem Buch teilt, geben sie eine Kostprobe davon, wie sie sich das vorstellen. Die Grundlagen ihres Ansatzes entnehmen sie den Arbeiten von Nichols und Stich. [4] Er basiert auf der Unterscheidung zwischen dem Gehalt einer Repräsentation und ihrer funktionalen Rolle, die über den Ort bestimmt wird, wo diese gespeichert ist. Im vorliegenden Fall sind als Speicherorte die sog. »belief box« (BB) und die »imagination box« (IB) von besonderer Bedeutung (wobei letztere der »possible worlds box« (= PWB) bei Nichols und Stich entspricht). Entscheidend ist nun, dass die Repräsentationen beider Speicherorte in einigen Fällen mit denselben psychologischen Mechanismen interagieren. So können Repräsentationen in der IB das affektive System genauso affizieren wie solche in der BB, weil sich die an beiden Orten gespeicherten Repräsentationen semantisch und syntaktisch nicht [5] unterscheiden. An dieser Stelle scheinen die Autoren eine These von Nichols vorauszusetzen, die dieser in seinem Essay »Imaginative Blocks and Impossibility« ebenfalls aufgreift. Sie besagt, dass die Repräsentationen beider Speicherorte einen Code teilen (»single code hypothesis«) und deswegen von bestimmten psychologischen Mechanismen gleich behandelt werden. Nichols hält diese Auffassung der Sache nach für weit verbreitet und meint sogar, auch die sog. Simulationstheorien unter diese Auffassung subsumieren zu können (249).
Das wird von einem ihrer wichtigsten Vertreter, Alvin Goldman, in seinem Beitrag »Imagination and Simulation in Audience Responses to Fiction« freilich bestritten. Er kritisiert die »single code hypothesis«, Repräsentationen in der BB und in der PWB/IB könnten einen Code teilen, obwohl ihnen eine unterschiedliche funktionale Rolle zukomme, als unverständlich und ad hoc. Er selbst schlägt stattdessen eine quer zu Nichols/Stich und Weinberg/Meskin liegende Unterscheidung zwischen zwei Arten der Imagination vor: »Supposition-imagination« (= S-imagination) besteht darin, eine Proposition hypothetisch anzunehmen. »Enactment-imagination« (= E-imagination) hingegen involviert die Erzeugung eines entsprechenden mentalen Zustands oder zumindest eines Faksimiles. Stelle ich mir in dieser Art und Weise vor, einen Hund zu sehen, so denke ich nicht nur die Proposition »ich sehe einen Hund«, sondern ich versuche, einen visuellen Zustand zu simulieren, in dem ich einen Hund sehe. Diesen Mechanismus sieht Goldman auch bei der Rezeption von Fiktionen am Werk, in denen wir die mentalen Zustände der Protagonisten oder eines hypothetischen Beobachters simulieren.
Goldman konterkariert mit dieser Unterscheidung Schröder und Mathesons Harmonisierungsversuch, die ihn (und andere der Simulationstheorie nahe stehende Autoren wie Currie und Ravenscroft) auf die einen scheinbaren Konsens darstellende Annahme festlegen wollen, imaginative Zustände bildeten eine kognitiv distinkte Art. Doch Goldman vertritt nachdrücklich das Gegenteil: »Fundamental to the E-imagination approach is that pretense, or imagination, isn’t yet another mental state category, analogous to belief, desire, fear, and so forth.« (46) S- und E-imagination mögen zwar kognitiv distinkt sein, doch die simulierten Zustände der E-imagination unterscheiden sich kognitiv gerade nicht von ihren »realen« Gegenstücken. Daher ist es nicht weiter verwunderlich, dass beide dieselben emotionalen Konsequenzen haben.
Dieses Ergebnis ist durchaus vereinbar mit den von Schröder/Matheson vorgebrachten neuropsychologischen Evidenzen: Es gibt weder eine besondere Gehirnregion, die für imaginative Repräsentationen zuständig ist, noch eine besondere Art von Neuronen, die ausschließlich Informationen über imaginierte Sachverhalte tragen. Es werden dieselben Gehirnstrukturen verwendet. Für Schröder/Matheson handelt es sich dennoch um kognitiv distinkte Zustände, da wir lernen, anders auf von uns selbst hervorgebrachte Repräsentationen zu reagieren als auf solche, die von externen Gegenständen und Ereignissen erzeugt wurden. Der Konflikt mit Goldman hat demnach seine Wurzel in der Frage, ob die Tatsache, dass wir selbst (willkürlich oder geleitet von einer Fiktion) einen mentalen Zustand hervorgebracht haben, einen Unterschied für seine intrinsische Natur bedeutet. Schröder/Matheson beantworten diese Frage mit Ja, Goldman hingegen mit Nein. Für ihn erzeugen auch simulierte Zustände Verhaltensdispositionen und er macht für das Ausbleiben der Handlung andere Faktoren verantwortlich, wie das Vorliegen konkurrierender Meinungen oder Wünsche (47). Ich möchte nun zum nächsten Aspekt kommen, dem Problem des imaginativen Widerstands.
2. Das Problem des imaginativen Widerstands
Das Problem des imaginativen Widerstands wird häufig auf Hume zurückgeführt, aber die derzeitige Diskussion geht auf Aufsätze von Kendall Walton und Richard Moran in den frühen 1990er Jahren zurück. [6] Das Problem besteht darin, dass wir uns theoretisch tiefgreifend von unserer Welt abweichende Welten (vielleicht sogar widersprüchliche Welten) mühelos vorstellen können. Dasselbe gilt jedoch nicht für die Moral. Wir können uns keine moralisch abweichenden Welten vorstellen, in denen nicht nur die dortigen Bewohner etwas für moralisch richtig halten, was wir moralisch verurteilen, sondern etwas moralisch gut ist, was wir für moralisch schlecht halten. Im vorliegenden Band hat Walton in »Imaginative Resistance (So-called)« einen neuen Anlauf genommen, die Fäden dieser Debatte zu entwirren. Sein Hauptanliegen besteht darin, zwischen verschiedenen Problemen zu differenzieren (was allerdings – wie Walton auch bemerkt – schon andere mit unterschiedlicher Akzentsetzung unternommen haben). [7] Für Walton gibt es zum einen das ästhetische Problem, ob moralische Defizite ein Kunstwerk auch ästhetisch beeinträchtigen. Dies kann tatsächlich so sein, und zwar dann, wenn die moralischen Defizite uns daran hindern, uns etwas so vorzustellen, wie es ein Werk vorschreibt, entweder weil wir uns die fraglichen Sachverhalte nicht vorstellen können oder weil wir es nicht wollen. Darin besteht das imaginative Problem. Das Fiktionalitätsproblem hingegen ist, dass wir nicht bereit sind, bestimmte Dinge als fiktional anzunehmen, weil wir sie uns nicht vorstellen können oder wollen. Walton mahnt nun an, dass ein Teil der Debatte in der Konfusion dieser drei Probleme gründet und wirft insbesondere Tamar Gendler vor, [8] das Fiktionalitätsproblem und das imaginative Problem durcheinander zu bringen.
Eine aktualisierte Version ihres Ansatzes präsentiert Gendler im vorliegenden Buch in dem Beitrag »Imaginative Resistance Revisited«. Aus ihrer Sicht beruht der Widerstand, den wir gegen manche Fiktionen zeigen, auf sog. »Pop-out«-Effekten. Diese Effekte treten auf, wenn der Autor einer Fiktion den Rezipienten nicht nur auffordert, sich etwas vorzustellen, sondern es auch zu glauben. Dies betrifft Bewertungen (»appraisals«), die entweder von den Prinzipien erzwungen werden, die der Leser stillschweigend als konstitutiv für die Erzeugung fiktionaler Wahrheiten in diesem Werk akzeptiert hat (dann sind sie überflüssig), oder die von diesen ausgeschlossen werden. An dieser Stelle liegt freilich eine kleine terminologische Spannung vor, denn Pop-out-Effekte waren zunächst einmal nur als Propositionen definiert, die der Leser für wahr halten soll. Das legt sie nicht auf Bewertungen fest und schon gar nicht auf solche, die entweder überflüssig oder ausgeschlossen sind. Es müsste also vielmehr heißen, dass Pop-out-Effekte dann problematisch werden, wenn sie wertenden Charakter haben und entweder überflüssig oder ausgeschlossen sind. Doch dies ist, darin ist der Autorin Recht zu geben, noch keine erschöpfende Erklärung des imaginativen Widerstands. Diese soll nun schlussendlich darin bestehen, dass wir es als unanständig (»improper«) empfinden, uns bestimmte Dinge vorzustellen, und es aus diesem Grund nicht tun wollen. Die beiden zur Erklärung herangezogenen Elemente, Pop-out-Effekte und das Gefühl der Unanständigkeit, sich etwas vorzustellen (»imaginative impropriety«), verhalten sich freilich nicht ganz reibungslos zueinander. Handelt es sich nicht letztlich doch um zwei ganz unterschiedliche Phänomene? Das Unanständigkeitsgefühl scheint sich auch einzustellen, wenn es nur darum geht, sich etwas vorzustellen, ohne es auch zu glauben. Die Pop-out-Effekte hingegen mögen uns daran hindern, etwas in der Fiktion Präsentiertes auch zu glauben, doch das scheint nichts mit dem Hume’schen imaginativen Widerstand zu tun zu haben. Nicht zuletzt ist zu fragen, wie informativ die vorgeschlagene Erklärung ist: Wir wollen uns moralisch abweichende Welten nicht vorstellen, weil wir das als moralisch unanständig empfinden.
Weinberg/Meskin sind auch in diesem Fall wieder der Ansicht, dass die Ressourcen der Alltagspsychologie zu einer befriedigenden Erklärung des Phänomens nicht ausreichen. Dies betrifft insbesondere Fälle, in denen es nicht darum geht, abweichende moralische Propositionen in das eigene Meinungssystem zu übernehmen, sondern sie sich lediglich vorzustellen. In diesen Fällen tritt aus Sicht der Autoren eine Blockade auf. Die Erklärung dafür ist (vereinfacht), dass die vorzustellende moralisch abweichende Proposition A in die IB gelangt, während ein moralisches Urteilssystem auf die moralisch relevanten Aspekte der Situation reagiert und die Proposition nicht-A in die IB einfügt. Dieser Konflikt wird schließlich von einer Kontrollinstanz bemerkt und führt zu der Blockade. Der Mechanismus dieser Blockade ist demjenigen vergleichbar, den Nichols zur Erklärung imaginativer Blockaden jeglicher Art einführt. Aus seiner Sicht werden imaginierte Propositionen aufgrund der »single code hypothesis« inferentiell gleich behandelt wie Meinungen. Wird eine Meinung unmittelbar vom inferentiellen System zurückgewiesen, so gilt dasselbe auch für die entsprechende bloß vorgestellte Proposition. Wir können uns deshalb eine offensichtliche Kontradiktion wie »p und nicht-p« genauso wenig vorstellen, wie wir sie glauben können.
Sand ins Getriebe dieses Mechanismus’ streut allerdings die Tatsache, dass wir weit weniger Probleme haben, uns unmögliche, paradoxe oder gar widersprüchliche Situationen vorzustellen, als die entsprechenden Propositionen für wahr zu halten. Weinberg und Meskin erklären dies durch gewisse »Tricks«, die unsere Aufmerksamkeit ablenken und den Mechanismus stören, z.B. indem die Paradoxien einer Zeitreise durch technisches Geschwafel verdeckt werden. Allerdings wäre dann weiterhin zu fragen, wieso diese Elemente zwar zu einer Erweiterung unserer Vorstellungsfähigkeit führen, wir aber dennoch nicht glauben, dass die entsprechenden Propositionen auch möglicherweise wahr sind. Gegen Weinberg und Meskins Erklärung moralischer Blockaden wäre weiterhin einzuwenden, dass sie nicht deutlich macht, wieso insbesondere die Vorstellung moralisch abweichender Welten zu Blockaden führt, während das bei theoretisch abweichenden Welten nicht in derselben Form der Fall ist.
Peter Carruthers beschäftigt sich am Rande seines Beitrags »Why Pretend?« mit diesem Problem und schlägt eine Ergänzung von Nichols/Stich vor. Seiner Ansicht nach unterliegen vorgestellte Propositionen nicht nur denselben inferentiellen Mechanismen wie Meinungen, sie stehen auch in derselben Beziehung zu Wünschen. Wertvorstellungen sind für ihn immer auch mit Wünschen verbunden, und zwar mit echten Wünschen und nicht nur mit wunschartigen Vorstellungen (er wendet sich hier gegen eine These von Currie/Ravenscroft). [9] Der imaginative Widerstand resultiert dann daraus, dass wir die entsprechenden Wünsche im Fall moralisch abweichender Welten nicht nachvollziehen können oder wollen. Allerdings ist dieser Ansatz so weit noch alltagspsychologisch formuliert und müsste in das theoretische Gerüst von Nichols/Stich erst noch überführt werden. Das mag zu einer vertieften Einsicht in die beteiligten Mechanismen führen. Doch ist zu fragen, ob die Erklärung auf der Basis der kognitiven Architektur alltagspsychologisch fundierten Erklärungen tatsächlich grundsätzlich überlegen ist, oder ob für die Beantwortung philosophischer Fragestellungen nicht letztlich beide ineinander greifen müssen, unterstützt durch metaphysische Überlegungen, die z.B. im Hinblick auf den Zusammenhang von Denkbarkeit und Möglichkeit unabdingbar sind. Damit sind wir beim letzten der oben angesprochenen Probleme angekommen.
3. Denkbarkeit und Möglichkeit
Es stellt sich die Frage, ob die Denkbarkeit eines Szenariums einen guten Grund dafür darstellt, es auch für möglich zu halten. Allein durch den Rekurs auf die kognitive Architektur kann diese Frage nicht befriedigend beantwortet werden. Mit ihrer Hilfe können zwar die beteiligten Mechanismen offen gelegt werden, aber nicht, ob wir ihnen auch trauen dürfen. Das gilt insbesondere für sog. metaphysische Möglichkeiten, die über das nach den Naturgesetzen unserer Welt Mögliche hinausgehen. Mit diesem vieldiskutierten Problem beschäftigt sich Christopher Hill in seinem Artikel »Modality, Modal Epistemology, and the Metaphysics of Consciousness«. Er greift die gängige Unterscheidung zwischen metaphysischer und begrifflicher Möglichkeit auf und argumentiert, dass Denkbarkeit nur Aufschluss über begriffliche, aber nicht über metaphysische Möglichkeiten gibt. Darüber hinaus entwickelt er eine an David Lewis’ Counterfactuals (1973) angelehnte Theorie metaphyischer Möglichkeiten. [10] Ebenfalls skeptisch zeigt sich Roy Sorensen in seinem Beitrag »Meta-conceivability and Thought Experiments.« Er versucht auf sehr originelle Art und Weise zu zeigen, dass der Schluss von der Denkbarkeit auf die Möglichkeit auch für die Meta-Denkbarkeit (also die Denkbarkeit der Denkbarkeit) gelten muss. Doch gegen den Schluss von der Meta-Denkbarkeit auf die Möglichkeit lassen sich einfach Gegenbeispiele finden, wodurch auch der Schluss von der Denkbarkeit auf die Möglichkeit in Frage gestellt wird.
4. Abschließende Bewertung
Der vorliegende Sammelband vereinigt Beiträge, die die fruchtbare Zusammenarbeit der unterschiedlichen Herangehensweisen illustrieren, lässt aber auch die Grenzen einiger Ansätze sichtbar werden, wenn man sie für sich nimmt. Neben den Kernaspekten, auf die sich diese Rezension konzentriert hat, enthält der Band auch andere lesenswerte Beiträge zu unterschiedlichen Fragestellungen. Hervorzuheben ist Gregory Curries überzeugende imaginationstheoretische Erklärung der Ironie in »Why Irony is Pretence«. Aus seiner Sicht besteht eine zentrale Form der Ironie darin, vorgeblich eine beschränkte Perspektive einzunehmen, um ihre Beschränktheit zum Ausdruck zu bringen. Er verteidigt diese Auffassung mit starken Argumenten gegen ihre Gegner und versucht insbesondere zu zeigen, dass auch die einflussreiche, auf Sperber und Wilson (1981) zurückgehende Echo-Theorie nicht ganz auf das imaginative Element verzichten kann. [11]
Adam Morton beschäftigt sich in seinem Artikel »Imagination and Misimagination« mit der Frage der Korrektheit der Imagination. Sein Ziel ist zu bestimmen, welche Fehler beim Gebrauch der Imagination auftreten können, will man die mentalen Zustände einer anderen Person erfassen. Um das Verhältnis von Realität und Imagination geht es auch in dem Beitrag »The Intuitive Cosmology of Fictional Worlds« von Deena Skolnick und Paul Bloom. Aus entwicklungspsychologischer Perspektive zeigt sich, dass bereits kleine Kinder den Unterschied zwischen der wirklichen Welt und bloß imaginierten Welten begreifen. Wie die Autoren untersucht haben, unterscheiden Kinder darüber hinaus verschiedene imaginierte Welten, z.B. die Welt von Spongebob und Batman, und können auch bestimmen, was innerhalb der jeweiligen Welt real oder imaginiert ist. Eine Reihe weiterer interessanter Fragen schließen sich hieran an, beispielsweise, wieso wir verschiedene Darsteller derselben Figur (z.B. James Bond) akzeptieren und wo hier die Grenzen liegen. Wäre ein homosexueller, schwarzer oder gar weiblicher James Bond möglich?
Es bleibt die Frage, warum wir uns überhaupt mit den flüchtigen Gebilden der Imagination abgeben. In diesem Punkt besteht weitgehende Einigkeit unter den in diesem Sammelband repräsentierten Vertretern der Imaginationsforschung: Die Imagination hilft uns bei der Planung und Bewertung unserer Handlungen. Bei so viel Bodenständigkeit mag freilich so mancher sehnsüchtig an die subversiveren Varianten der Imagination wie den Musilschen Möglichkeitssinn denken.
[1] Gilbert Ryle, The Concept of Mind, London 1949, 258.
[2] Vgl. Jerry Fodor, Language of Thought, Cambridge 1975.
[3] Vgl. Kendall Walton, Fearing Fictions, in: Journal of Philosophy 75 (1978), 5-27.
[4] Shaun Nichols/Steven Stich, A Cognitive Theory of Pretense, in Cognition 74 (2000), 115-47. Dies., How to Read Your Own Mind: A Cognitive Theory of Self-Consciousness, in: Q. Smith/A. Jokic (Hg.), Consciousness: New Philosophical Essays, Oxford 2003, 157–200. Dies., Mindreading: An Integrated Account of Pretense, Self-awareness and Understanding Other Minds, Oxford 2003.
[5] Vgl. Shaun Nichols, Imagining and Believing: The Promise of a Single Code, in: Journal of Aesthetics and Art Criticism 62 (2004), 129-39.
[6] Vgl. Kendall Walton, Morals in Fiction and Fictional Morality, in: Proceedings of the Aristotelian Society, Suppl. Vol. 68 (1994), 27-50.
[7] Vgl. Brian Weatherson, Morality, Fiction, and Possibility, in: Philosophers’ Imprint 4 (2004): <http://www.umich.edu/~philos/Imprint/frameset.html?004003+27+images>.
[8] Vgl. Tamar Szabó Gendler, The Puzzle of Imaginative Resistance, in: Journal of Philosophy 97 (2000), 55-81.
[9] Vgl. Gregory Currie/Ian Ravenscroft, Recreative Minds: Imagination in Philosophy and Psychology, Oxford 2002.
[10] Vgl. David Lewis, Counterfactuals, Oxford 1973.
[11] Dan Sperber/Deirdre Wilson, Irony and the Use-Mention Distinction, in: P. Cole (ed.), Radical Pragmatics, New York 1981.
2007-11-28
JLTonline ISSN 1862-8990
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