Matthias Beilein
Ein erweitertes Feld
Markus Joch/Norbert Christian Wolff (Hg.), Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis. (STSL) Tübingen: Niemeyer 2005. 399 S. Kart. (Preis: EUR 98,00). ISBN: 978-3484351080.
Pierre Bourdieus Theorie des literarischen Feldes ist ein kulturtheoretischer Ansatz, auf dessen Basis sich die Auseinandersetzung der deutschsprachigen Literaturwissenschaft mit literatursoziologischen und sozialgeschichtlichen Fragestellungen reanimieren ließ. Sie stellt ein Theorieangebot dar, das es ermöglicht, diese Aspekte mit einer einheitlichen Terminologie und einem stabilen Modell literarischer Handlungen zu analysieren und zu deuten. Die Bourdieu-Rezeption setzte nicht erst mit der Übersetzung von Les règles de l’art (frz. 1992) ein, die Ende 1999 erschien; ihr gingen beispielsweise die Arbeiten von Joseph Jurt voran, die dem deutschsprachigen Publikum das Konzept des literarischen Feldes seit den 1980er Jahren näher bringen. Die Übersetzung des in Louis Pintos Sammelband Streifzüge durch das literarische Feld (1997) enthaltenen Bourdieu-Aufsatzes »Das literarische Feld« nahm schon das meiste von dem vorweg, was zwei Jahre später in Buchform vorliegen sollte.
Die Herausgeber des Bandes wissen das natürlich und liefern mit ihrer Einleitung (»Feldtheorie als Provokation der Literaturwissenschaft«) eine gut informierte Zusammenfassung dieses Rezeptionsprozesses. Ihren eigenen Band, der die Ergebnisse eines 2004 in Berlin abgehaltenen Symposions versammelt, stellen sie selbstbewusst neben die wohl einflussreichste Pioniertat in Sachen Bourdieu-Vermittlung, Jurts 1995 erschienene Monographie Das literarische Feld: Der vorliegende Band Text und Feld sei »der nächste Schritt«, denn er stelle »Argumentationsgänge der Feldtheorie anhand konkreter Untersuchungen zur Diskussion« (5), was angesichts der gar nicht so geringen Zahl an bereits vorliegenden Bourdieu-Anwendungen vielleicht ein bisschen zu stark formuliert ist.
Die Auswahl der Autorinnen und Autoren bietet ein breites Panorama der Bourdieu-Rezeption bei etablierten Literaturwissenschaftlern und Nachwuchswissenschaftlern aus Deutschland, England, Frankreich, Österreich und der Schweiz, worunter sich auch mehrere der verdienten Pioniere der Bourdieu-Vermittlung befinden (neben den genannten Jurt und Pinto sind dies beispielsweise Gisèle Sapiro und Alain Viala). Der Band umfasst 21 Aufsätze, die im Folgenden kurz dargestellt werden: Gisèle Sapiro eröffnet den Band mit einem Beitrag über die Genese der Autonomisierung des französischen literarischen Feldes (»Elemente einer Geschichte der Autonomisierung«). Sie geht zeitlich weit über den Rahmen hinaus, den Bourdieu selbst in den Regeln der Kunst abgesteckt hat: Für ihn beginnt bekanntlich die »Eroberung der Autonomie« und damit die »kritische Phase der Entstehung des Feldes« gegen Mitte des 19. Jahrhunderts. Auch Alain Viala (»Bourdieu, wiedergelesen mit den Augen Boileaus«) erweitert den Untersuchungszeitraum. Am Beispiel von Boileau und dem französischen Klassizismus illustriert er, warum »eine restriktive Interpretation, die darauf besteht, man könne vor dem 19. Jahrhundert überhaupt nicht von einem literarischen Feld sprechen« seiner Meinung nach »[z]weifelhaft und problematisch« (47) sei, was vor allem im Zusammenhang mit dem Vorgängerbeitrag plausibel wird: Die »Grundstrukturen des Feldes« seien schon »im klassischen Zeitalter etabliert« gewesen (51). Aber Viala ist sich auch durchaus der Gefahren bewusst, die in der Anwendung der Feldtheorie im Allgemeinen und der historischen bzw. geographischen Ausweitung von Bourdieus Ansatz im Besonderen lauern; besonders letztere sei nämlich nur dann »fruchtbar«, »wenn sie den Begriff nicht verwässert oder ihn zu einem simplen Etikett degradiert, das man dann jeglichem literarischem Faktum unterschiedslos anheftet« (52). Die fast inflationäre Verwendung Bourdieu’scher Termini in den deutschsprachigen Feuilletons bestätigt Vialas Warnung ex negativo: Wo früher von »Literaturbetrieb« die Rede war, spricht man heute vom literarischen Feld, und es wird eifrig »symbolisches Kapital« akkumuliert, wo man früher einfach von Auszeichnungen gesprochen hätte.
Auch der Beitrag von Stefanie Stockhorst (»Feldforschung vor der Erfindung der Autonomieästhetik?«) erweitert den in den Regeln der Kunst abgesteckten Untersuchungszeitraum gar bis ins 17. Jahrhundert. Sie unternimmt den Versuch, die Opitzsche Gelegenheitsdichtung mit Hilfe der »Feldtheorie als analytischer Matrix« (55) von ihrem rein heteronomen Status zu befreien. Man ist zunächst erstaunt über die Unbefangenheit, mit der hier Bourdieu’sche Termini auf das Barock appliziert werden, um sich mit zunehmender Lektüre davon verwirren zu lassen. Denn Stockhorsts Hinweis auf Jurt, den sie mit den Worten zitiert, dass »[n]otwendige Bedingung für ein literarisches Feld [...] allerdings die Ablösung von symbolischen und ökonomischen Machtgefügen« sei (56), hätte ihr Anlass geben sollen, die eigene Verwendung der Bourdieu’schen Terminologie für barocke Verhältnisse wenn nicht zu problematisieren, so doch wenigstens im Ansatz näher zu erläutern. Was ist eigentlich genau gemeint mit »gute[n] Beziehungen zum Feld der Macht« (63)? Was ist überhaupt das deutsche literarische Feld im 17. Jahrhundert (58)? Und was hat man sich ungefähr unter sozialem und kulturellem Kapital im Barock vorzustellen (57)? Die Unterschiede zwischen dem, was Bourdieu mit diesen Termini verbindet, und dem, was im 17. Jahrhundert unter diese Begriffe vielleicht subsumiert werden könnte, scheinen doch so erheblich zu sein, dass ein knapper Kommentar hilfreich gewesen wäre, um ihren heuristischen Wert zu verdeutlichen. Aus demselben Grund ist auch der Beitrag von Heribert Tommek (»Trennung der Räume und Kompetenzen«) problematisch, was sich schon im Eingangssatz zeigt: »Die Idee der ›Gelehrtenrepublik‹ war ein diskursiver Referenzpunkt, bei dem es um die Bestimmung und Grenzziehung des literarischen und intellektuellen Feldes ging« (89). Auch hier wird also wie selbstverständlich vorausgesetzt, dass Klopstock, Goethe und Lenz, denen sich Tommek in erster Linie widmet, in einem literarischen Feld agiert haben – was aber alles andere als selbsterklärend ist. Damit die »Laufbahnen von Klopstock, Goethe, Lenz und Klinger« tatsächlich »in ein Verhältnis zur Geschichte des literarischen Feldes im politisch zerstückelten Deutschland gebracht werden« (91) können oder ernsthaft behauptet werden kann, »Klopstock und Goethe« stünden »am autonomen Pol des literarischen Feldes« (104), sollten einige Voraussetzungen erläutert werden. Wo und wie ist das Feld im 18. Jahrhundert? Weil dies unterbleibt, trägt die Bourdieu’sche Terminologie auch in diesem Aufsatz leider nur wenig aus.
Im gesamten Band steht die Perspektive auf die Felder Deutschlands und Frankreichs im Vordergrund, einzig der Beitrag von Michael Einfalt geht mit seiner Untersuchung über »Französischsprachige Literatur im Maghreb« über die deutsch-französische Perspektive hinaus und zeichnet dabei, ausgehend von Bourdieus Überlegungen zu den »kleinen Literaturen« und den »colonisations symboliques« (261), vor allem die ganz unterschiedlichen Positionierungsstrategien von Tahar Ben Jelloun und Rachid Boudjedra nach. Einzelne Untersuchungen beziehen sich auf beide nationalen Räume. Anne Saada erweitert – weitaus zurückhaltender als die vorangegangenen Beiträge – ebenfalls den Bourdieu’schen Untersuchungszeitraum, ersetzt in ihrem Beitrag »Diderot im Deutschland des 18. Jahrhunderts« den Begriff »Feld« aber durch »Raum«, da »die Räume der Gelehrsamkeit und des Theaters nicht autonom im Sinne von Bourdieu waren« (86). Sie habe sich bei ihrer Studie, die die wichtigsten Ergebnisse ihrer Diderot-Monographie zusammenfasst, »von Bourdieus sozialgeschichtlichem Impuls« (73) inspirieren lassen und liefert einen informativen Beitrag über den Konnex von Theater- und Wissenschaftsgeschichte im 18. Jahrhundert. Sie ist dabei oft den klassischen Methoden der Sozialgeschichte und den Erkenntnissen der Kulturtransfer-Forschung verpflichtet, beispielsweise wenn sie die Rezeptionsgeschichte Diderots in den deutschsprachigen Ländern vor der Folie von Milieu-Analysen der »Gelehrsamkeit« (76ff.) bzw. des »Theaters« (78ff.) referiert. Inwiefern Bourdieu hier tatsächlich inspirierend gewirkt hat oder worin die Anschlussfähigkeit dieser unterschiedlichen Methoden besteht, bleibt dabei etwas im Dunklen, was auch für den Aufsatz von Isabelle Kalinowski gilt, die in »Der französische Hölderlin« starke Affinitäten zur Kulturtransferforschung zeigt.
York-Gothart Mix (»Wahre Dichtung und Ware Literatur«) zeigt anhand von personellen (z.B. Bürger vs. Gleim) bzw. programmatischen Dichotomien (z.B. so genannte »höhere Lyrik« vs. »Volkspoesie«) sehr anschaulich die Kämpfe um das rare symbolische Kapital, die in der deutschsprachigen Literatur zwischen 1760 und 1810 geführt wurden. Er ficht zugleich, mit Bourdieu im Gepäck, einen Kampf gegen die »auf das ›Mysterium des Einzelwerks‹ fixierte Literaturwissenschaft« (135) aus. Mix’ Verwendungsweise des Terminus »Habitus« scheint mir allerdings fragwürdig zu sein, etwa wenn er von einem »ostentativ gepflegten Habitus« (120) Schillers schreibt, mit dem dieser nach außen »das Ökonomische penibel« ausgeklammert, um sich mit seinem »Ruf nach ›hoher und stiller Größe‹« (120) umso besser zum wahren Dichter stilisieren zu können. Dieses intentionale Verständnis von Habitus scheint mir nicht zu dem zu passen, was Bourdieu unter Habitus versteht, fällt der Habitus doch ins Voraussetzungssystem und ist nichts, das sich pflegen ließe, schon gar nicht ostentativ. Mix wäre hier gut beraten gewesen, sich am Beitrag von Jérôme Meizoz (»Die posture und das literarische Feld«) zu orientieren. Dieser greift einen »von Bourdieu beiläufig verwendeten« und von Alain Viala in einem anderen Zusammenhang weiter ausgearbeiteten Begriff auf, um damit genau das zu beschreiben, was Mix unter Habitus zu verstehen scheint. Meizoz versteht darunter »die singuläre Weise, eine objektive Position innerhalb eines Feldes zu besetzen, die selbst wiederum durch soziologische Parameter eingegrenzt wird« (177), was sich in Selbstinszenierungen von Autoren oder in als intentionale Strategien getroffenen Entscheidung für oder gegen bestimmte Gattungen oder Stile ausdrücken kann. Dieser Beitrag geht weit über Bourdieu hinaus und ist eine attraktive und sehr sinnvolle Erweiterung seines theoretischen Ansatzes, die gerade in Hinblick auf Analysen von aktuellen Autorinszenierungen (durch sie selbst, ihre Verlage oder die Medien und deren Wechselwirkungen) mehr als hilfreich ist.
Die Beiträge von Markus Joch (»Ein unmöglicher Habitus«) und Thomas Becker (»Subjektivität als Camouflage«) zeigen an den Beispielen Heinrich Heines bzw. Charles Baudelaires, wie der »doppelte Bruch«, den Bourdieu in den Regeln der Kunst an Flaubert illustriert, auch für andere Autoren in Anschlag zu bringen ist. Joch setzt dabei Bourdieu in Kontrast zu Luhmann, um schließlich doch Erstgenanntem den Vorzug zu geben, dessen Schwächen (etwa seine Konzentration auf hochkanonisierte Autoren) er aber durchaus nennt. Eine Heine vergleichbare »Mehrstimmigkeit« (160) arbeitet Becker bei Baudelaire heraus, und es wäre reizvoll gewesen, diese beiden Autoren enger aufeinander zu beziehen, als dies in dem Tagungsband möglich ist. Dass diese Verwandtschaft, nämlich die »doppelte Distinktion gegenüber dem Massenmarkt und dem reinen l’art pour l’art« (167), mit den aufschlussreichen Beiträgen von Joch und Becker so klar vor Augen geführt wird, unterstreicht den heuristischen Wert dieser Bourdieu’schen Denkfigur.
Werner Michler (»Möglichkeiten literarischer Gattungspoetik nach Bourdieu«) stützt seine Reflexionen auf die Feldtheorie, beschränkt sich dabei aber nicht auf Die Regeln der Kunst. Für ihn impliziert der »Akt der Gattungswahl« einen »Akt der Gattungsklassifikation«, die wiederum einen »Akt der Stellungnahme (Positionierung) nicht bloß zur zeitgenössisch dominanten Sozialklassifikation, sondern insbesondere ein[en] Akt der Stellungnahme zum Verhältnis zwischen dem literarischen Feld [...] und der Sozialklassifikation im sozialen Feld« einschließt (195). Die »Semantisierung der Gattung« Epos bzw. die Gattungen als »zu erobernde Bastionen« oder den »Kampf um die Gattungen« (199ff.) beschreibt Michler im Folgenden sehr anschaulich am Beispiel der Verfallsgeschichte des Epos als symbolische Kämpfe und Kämpfe um Symbole gleichermaßen und bietet eine interessante Erklärung für den Sturz der Gattung in die Bedeutungslosigkeit:
Die hohe absolute Zunahme an Autoren und Texten in den neunziger Jahren hat also offenbar die Attraktivität für kanonisierte oder kanonisierungsfähige Autoren vermindert; die Gattung ist zu einer Massengattung geworden. Das von der Moderne polarisierte literarische Feld überlässt die Gattung den Dilettanten – das symbolische Kapital des Epos ist massiv entwertet worden. Es hat den Anschein, als benötigte eine Gattung zur Aufrechterhaltung ihrer Attraktivität die ›großen‹ Autoren; wenn sich diese zurückziehen, bleibt das Feld nur mehr den wagemutigsten Dilettanten (204).
Norbert Christian Wolf und Ulrich Krellner unternehmen in ihren Beiträgen den Versuch, den Mann ohne Eigenschaften bzw. die Jahrestage ausgehend von Bourdieu’schen Theoremen neu zu lesen. Beide folgen in ihren Interpretationen im Wesentlichen dem Muster der Bourdieu’schen Sozioanalyse, die dieser selbst am Beispiel der Éducation sentimentale ausgearbeitet hat und die »die literarische (Re-)Präsentation der sozialen Welt im Text untersucht und diese Präsentation in einem zweiten Schritt als Medium der Selbstobjektivierung des Autors im literarischen Feld deutet« (210). Dementsprechend versteht Wolf Musils Ulrich als »ein zu überwindendes Gegenbild, aber zugleich auch ein Wunschbild der eigenen Selbstwahrnehmung« (222). Krellner liest Johnsons Tetralogie als »Frage nach den Möglichkeitsbedingungen für eine Bewusstwerdung der eigenen Habitusstruktur« (240) – nicht nur Gesine Cresspahls, sondern vor allem des Autors, denn die Jahrestage seien »keine verkappte Autobiographie, sondern ein Versuch der indirekten Selbstobjektivierung« Johnsons: »Dem Verfahren nach bildet Johnsons Roman ein fiktionales Gegenstück zu der als ›soziologischer Selbstversuch‹ konzipierten Lebensbeschreibung Bourdieus« (242). Es wird sich in der Zukunft erweisen, ob dieser schon so oft kritisierte Ansatz Bourdieus, der dem philologischen Schreckgespenst des Biographismus neuen Auftrieb zu geben scheint, auf Dauer wirklich tragfähig ist.
Hervé Serry widmet sich der Geschichte der Editions du Seuil (»Symbolisches Kapital und intellektuelle Affinität im Feld der Verlage«) und eröffnet mit der verblüffenden These, dass »[s]elbst in einer Verlagsökonomie, die als ›verkehrte Ökonomie‹ verstanden werden kann [...] das Prestige ein wesentlicher, irreduzibler Garant wirtschaftlichen Erfolgs« (277) sei. Dementsprechend ist die Erfolgsgeschichte Le Seuils eine Geschichte zunehmender Akkumulation symbolischen Kapitals, womit sich auf Dauer quasi naturgemäß auch der ökonomische Erfolg eingestellt habe. Gegenbeispiele ließen sich dafür freilich leicht finden, erinnert sei nur an das grandiose Scheitern Gerd Haffmanns oder Franz Grenos. Weil Serry in seinem Fazit aber zugesteht, dass auch Le Seuil diese Politik langfristiger Investition »in der globalen Dynamik der Kämpfe im verlegerischen Feld« (290) aufgegeben habe, relativiert sich seine These bzw. wird historisch verklärt.
Louis Pinto und Joseph Jurt widmen sich in ihren Beiträgen wissenschaftsgeschichtlichen Aspekten. Pinto erzählt mit »Die Wende der französischen Philosophen zur Literatur« die erfolgreiche Strategie der »jungen Häretiker« (292) Frankreichs nach, die in »fächerübergreifenden Allianzen« (294) gegen die etablierten Paradigmen der französischen Universitätsphilosophie antraten und von »Positionen an den Grenzen zwischen ›Theorie‹ und Literatur« (296) die Konstitution des intellektuellen Felds (nicht nur) Frankreichs neu bestimmten. Jurts Beitrag (»Für eine vergleichende Sozialgeschichte der Literaturstudien«) greift Bourdieus Kritik des intellektuellen Feldes auf, um am Beispiel der Geschichte der Romanistik bzw. der études litteraires nachzuzeichnen, wie sehr dieses Kapitel der Wissenschaftsgeschichte von »nationalen Denkkategorien« (311) geprägt gewesen ist. Sein Fazit: Die »Grundopposition zwischen Literaturkritik und ihrem als universell betrachteten Kriterium des ›goût‹ gegen eine wissenschaftliche Literaturbetrachtung« sei aktuell geblieben und eine der Ursachen für die »Reserve der Literaturkritiker in Frankreich gegenüber Bourdieus Analysen« (322). Dies hätte man sich noch ausführlicher erläutert gewünscht.
Etwas ratlos lässt Michael Kämper-van den Boogaart (»Schulische Kanonizität als symbolisches Kapital«) seine Leser zurück, wenn er nach dem Verhältnis von Schulkanon und literarischem Feld fragt. Er versucht, exemplarisch den »Übergang vom literarischen Feld in den schulischen Markt« (328) bzw. die »Verwandlung von Welt zu Unterrichtsstoff« nachzuzeichnen, die sich im pädagogischen Feld »fast notwenig retardierend« (327) vollziehe. Dabei greift er allerdings in erster Linie auf Fälle aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg zurück, um, wie er schreibt, nicht selbst in die »Falle« der jüngsten »Kanonkampagnen« (327) zu gehen. Gegen Ende seines Aufsatzes schlägt er aber doch eher kulturpessimistische Töne an und macht »den absoluten Schulbestseller von Bernhard Schlink« mit zwei dahin geworfenen Stichworten nieder, spricht ihm nicht nur die literarische Qualität, sondern außerdem die Literarizität ab. Hier sei die Frage erlaubt, warum Kämper-van den Boogaart den argumentativen Aufwand, den er zuvor in das Beispiel des wilhelminischen Schulkanons investiert hat, nicht dafür verwendet, eben dieses Phänomen, das Der Vorleser zur erfolgreichen Schullektüre gemacht hat, zu erklären. In Verbindung mit dem von ihm zitierten, aber nicht kommentierten Beispiel der verhinderten Aufnahme Rolf Hochhuths in den baden-württembergischen Schulkanon drängt sich so das Bild auf, dass für Kämper-van den Boogaart früher vielleicht eben doch fast alles besser war, in Zeiten, in denen zwar (noch) nicht die Brüder Mann, Hofmannsthal oder Arthur Schnitzler zur Vermittlung neuerer Literatur im Gymnasium herangezogen wurden, aber immerhin Hebbel, Grillparzer, Stifter und Freytag.
Den Band beschließen mehrere Analysen zu Themen der Nachkriegsliteratur. Sabine Cofalla, die die Geschichte der Gruppe 47 aus einer feldtheoretischen Perspektive nacherzählt, kann mit ihrem Beitrag (»Die Gruppe 47«) nicht überzeugen, weil es ihr nicht gelingt, dem wohl prominentesten Forschungsgegenstand der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur etwas Neues abzugewinnen. Die Beiträge von Joachim Szodrzynski und Michael Stark nehmen Bourdieus Überlegungen zum Intellektuellen als Ausgangpunkt für ihre Untersuchungen. Szodrzynski zeichnet Carl Zuckmayers Hinwendung zum Engagement nach und versteht dessen Entschluss, sich mit seinen Dossiers (2002 als Geheimreport veröffentlicht) in den Dienst des OSS zu stellen, als die Geburtsstunde eines »Intellektuelle[n] im emphatischen Sinne Bourdieus« (343), der damit die Absicht verfolgt habe, »bei der Neugestaltung des kulturellen Feldes in Deutschland auf eine möglichst weitgehende Autonomie der Kunst gegenüber ihren künftigen politischen Kontrolleuren zu pochen« (342). Dahingestellt, dass dies tatsächlich die redliche Absicht Zuckmayers gewesen ist. Doch Szodrzynski kann nicht ganz plausibel machen, dass Zuckmayer erstens nicht doch auch nach persönlichen Vorlieben oder Abneigungen urteilte und zweitens bei seinem geheimdienstlichen Engagement nicht auch auf symbolische Profite in eigener Sache spekuliert hat, was sich beides mit Bourdieus Intellektuellen-Konzept nur schwer vereinbaren ließe. Für ersteren Verdacht spricht zum Beispiel das von Szodrzynski zitierte Beispiel Werner Krauß: Zuckmayer stellte ihm im vollen Bewusstsein um Krauß’ »Verstrickung in den Kulturbetrieb des NS-Staates« einen leidenschaftlichen Persilschein aus: »Krauss muss dem deutschen Theater nach der Hitlerzeit erhalten bleiben« (346). Moralisch fundierte Urteile zugunsten von wie auch immer begründeten Geschmacksurteilen aufzugeben, empfiehlt Zuckmayer nicht gerade als optimalen Repräsentanten jenes Grenzgängers, der »seinen Einfluss auf Moral, seine Macht auf (politische) Ohnmacht gründet« (343). Michael Starks Aufsatz »Der kollektive Intellektuelle« ist zu einem großen Teil eine verkappte Rezension des von Jutta Schlich herausgegebenen Forschungsberichts Intellektuelle im 20. Jahrhundert in Deutschland. Stark verbirgt nicht seinen Ärger über diesen Band, der für ihn Ausdruck einer »heiter-abgefeimte[n] Abservierung positiver Besetzungen des Intellektuellenbegriffs und [der] Nivellierung seiner handlungsorientierenden Funktion« (380) ist, und kontrastiert die Ergebnisse dieses Bandes mit seinem Blick auf die Geschichte der Intellektuellen-Forschung und der Rekonstruktion und Kritik von Bourdieus Intellektuellen-Begriff. Ihm gelingt es damit, die Aktualität dieses Konzepts, sei es für die Wissenschaft, sei es für die Felder der künstlerischen Produktion, sehr plausibel zu unterstreichen, ohne dabei die Grenzen von Bourdieus Konzept zu leugnen:
Ob sich das wissenschaftliche Feld, ein tendenziell autonomes und der Wahrheit verpflichtetes Funktionssystem, als das intelligentere Sozialsystem bewährt, das aus Klugheit der Gerechtigkeit neue Attraktivität verschafft, ist eben keine Sache theoretischer Vernunft, sondern eine Angelegenheit der sozialen Intelligenz der Wissenschaftler/innen, die sie betreiben (389).
Allen Einwänden zum Trotz: Dieser Band ist eine wichtige Veröffentlichung für die Etablierung der Feldtheorie innerhalb der deutschen Forschungslandschaft, bietet er doch erstens ganz unterschiedliche und anregende Anwendungsbeispiele der Bourdieu’schen Theoreme, wobei Bourdieu – völlig zu Recht und mit großem Gewinn für den gesamten Band – nicht auf die Regeln der Kunst reduziert wird. Zweitens sind die angebotenen Reflexionen über die Theorie selbst und die Vorschläge zur Modifikation und Weiterentwicklung, mithin zur Anpassung an andere nationale Felder oder andere historische Konstellationen als diejenigen, auf die sich Bourdieu selbst bezogen hat, ein großes Verdienst. Die Herausgeber hätten diesem enormen Vorzug, der diesen Band von anderen Publikationen unterscheidet, vielleicht etwas mehr Gewicht verleihen sollen (beispielsweise durch eine thematische Gliederung des Inhaltsverzeichnisses), anstatt die Beiträge nur mehr oder weniger nach der Chronologie der Untersuchungsgegenstände aneinanderzureihen. Um dieser Vielschichtigkeit Rechnung zu tragen, hätte der Band zudem einen etwas ins Konkretere gehenden Titel als Text und Feld verdient.
2007-10-02
JLTonline ISSN 1862-8990
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