Adrian Brauneis

Die ›Tätigkeit‹ des Interpretierens.

Über einige Erklärungsangebote aus praxistheoretischer

Perspektive

Doing Interpretation. Perspektiven praxeologischer Hermeneutik, 2. Jahrestagung des Netzwerks Hermeneutik Interpretationstheorie, Institut für Hermeneutik und Religionsphilosophie, Universität Zürich, 17. und 18. November 2017.

Die 2. Jahrestagung des Netzwerks Hermeneutik Interpretationstheorie wurde von Andreas Mauz (Zürich) mit der Feststellung eröffnet, wer etwas interpretiere, der führe eine Handlung aus, eben die Handlung des Interpretierens. Freilich, wie Mauz betonte, eine triviale Feststellung. Was genau Interpreten aber tun, wenn sie sich als solche betätigen, das ist doch, zumindest bis zu einem gewissen Grad, alles andere als klar, insoweit nämlich, wie der Handlungsvollzug Regelmäßigkeitsannahmen voraussetzt, über die sich der oder die Handelnde im Vollzug der Handlung gar nicht bewusst ist. Dieses ›implizite Wissen‹[1] ist der Gegenstand einer praxeologischen Hermeneutik. Die Bestimmung dieses ›impliziten Wissens‹ ist allerdings kein Selbstzweck. Sie wird mit dem Ziel unternommen, die Abhängigkeit interpretativ gewonnener Befunde von der Praxis des Interpretierens auszuweisen. Zur Beantwortung der Frage, was das nun wiederum heißen soll, haben die ReferentInnen der (vom Schweizer Nationalfonds geförderten) Tagung »Doing Interpretation. Perspektiven praxeologischer Hermeneutik« am 17. und 18. November in Zürich auf unterschiedliche Weise beigetragen:

Die ReferentInnen trugen (1) zur Klärung des Begriffs der hermeneutischen Praxis bei und entwickelten Instrumente zur Analyse dieser Praxis, sie charakterisierten (2) die Tätigkeit des Interpretierens als experimentelle und analysierten eingehend (3) Beispiele wissenschaftlichen Interpretierens.

Unter diesen drei Gesichtspunkten wird im Folgenden über die Vorträge der ReferentInnen berichtet. Mit der Unterteilung der Tagungsbeiträge in drei Gruppen wurde konzeptionellen Eigentümlichkeiten der einzelnen Tagungsbeiträge Rechnung getragen. Die hier vorgenommene Gliederung sollte aber nicht vermuten lassen, dass ReferentInnen, die von mir, beispielsweise, in die dritte Gruppe eingeordnet wurden, nichts zur Klärung des Begriffs der hermeneutischen Praxis oder ihrer Analyse beigetragen hätten. Es sollte lediglich ein Akzent darauf gesetzt werden, wie das alle TagungsteilnehmerInnen verbindende Erkenntnisinteresse jeweils artikuliert und zu befriedigen versucht wurde: durch die Beschäftigung mit hermeneutischer Praxis und ihrer Analyse im Allgemeinen, das Begreifen dieser Praxis als experimenteller im Besonderen und eine beispielorientierte Analyse hermeneutischer Praxis. Dies geschah im Bemühen um eine möglichst übersichtliche Darstellung der Tagungsbeiträge. Aus demselben Grund wird im Folgenden auch darauf verzichtet, über die Vorträge in ihrer chronologischen Reihenfolge zu berichten.

1 Begriffe zur Analyse hermeneutischer Praxis

(1.1) Wer von der Praxistheorie eine Antwort auf die Frage erwartet, was genau man sich unter hermeneutischer Praxis vorzustellen hat, wird enttäuscht. Auf diesen Standpunkt stellte sich zumindest Jens Loenhoff (Duisburg-Essen). Eine sich selbst dezidiert als praxeologisch verstehende Hermeneutik habe es bislang versäumt, den Zusammenhang von sozialer Praxis einerseits und Bedeutungsbestimmung andererseits theoretisch zu modellieren. Es fehle, anders gesagt, an einer theoretisch wohl begründeten Antwort auf die Frage, was damit gemeint ist, wenn in einem praxistheoretisch anspruchsvollen Sinne von dem Vollzug interpretativer Operationen gesprochen wird. In seinem Vortrag »Praxeologische Hermeneutik. Nachfragen aus kommunikationstheoretischer Perspektive« gab Loenhoff eine Antwort auf diese Frage. Der Referent ging hierbei von Martin Heideggers Metapher des ›Hantierens‹ (mit etwas) in einer ›hermeneutischen Situation‹ aus, also einer Situation, in der interpretiert werden muss, weil unklar ist, wie es sich mit etwas verhält: Mit etwas in einer ›hermeneutischen‹ Situation zu ›hantieren‹, bedeute, etwas, beispielsweise propositionale Wissensansprüche, einer bestimmten Situation kommensurabel zu machen. Loenhoff erläuterte dies am Beispiel der Interpretation von Gesetzestexten in juristischen Handlungszusammenhängen. Die Bedeutung des Rechts, das durch die Interpretation solcher Texte in juristischen Handlungszusammenhängen konstituiert werde, lasse sich als praktisch bestimmte nicht auf den sprichwörtlichen Buchstaben des Gesetzes reduzieren. Wirklichkeitsbildende Kraft gewännen die schriftlich fixierten Rechtsnormen erst durch ihre Auslegung unter den Bedingungen einer konkreten Handlungssituation, in der es gelte, sich über die Gültigkeit solcher Normen zu verständigen. Geltendes Recht besitze damit eine Bedeutung, die sich nicht umstandslos aus dem Gesetzestext selbst ableiten, sondern allenfalls unter Rücksichtnahme auf die Bedingungen seiner Auslegung in einer konkreten Handlungssituation auf den Text zurückführen lasse. Die Kenntnis der Gegenstände, mit denen in der Praxis ›hantiert‹ werde, sei freilich notwendig, um verstehen zu können, wie Bedeutung in einer ›hermeneutischen Situation‹ entstehe. Aufgabe einer praxeologischen Hermeneutik sollte die Explikation dessen sein, was in der Praxis implizit bleibe: die von sozialen Akteuren unbewusst befolgten Regeln, um damit über die Regelmäßigkeiten praktischer Bedeutungsbestimmung aufklären zu können.

(1.2) Auch Emil Angehrn (Basel) hat in seinem Vortrag »Interpretation, Konstruktion, Praxis. Zur Hermeneutik der Selbstverständigung« versucht, mit Heidegger die Frage zu beantworten, inwieweit sich davon sprechen lässt, dass der Gegenstand der Interpretation im praktischen Vollzug derselben entsteht. Dabei beschränkte sich Angehrn, sein Vortragstitel zeigt dies an, auf eine existentialontologische Konzeptualisierung der Selbstinterpretationen sozialer Akteure. Insoweit solche Akte der Selbstinterpretation mit interpretativen Operationen in sozialen Handlungszusammenhängen eng verschränkt sind, wenn sie auch nicht notwendigerweise bewusst, mithin nicht immer reflektiert vollzogen werden, kann man ihnen und ihrer theoretisch fundierten Bestimmung mit Angehrn besondere Relevanz für die Modellierung einer praxistheoretisch anspruchsvollen Auffassung von der interpretativen Konstruktion sozialer Wirklichkeit zuschreiben. Mit dem Begriff der »Selbstverständigung« unterschied Angehrn in den besagten Akten der Selbstinterpretation eine praxistheoretisch anspruchsvolle Variante des Interpretierens von einem Verstehen der eigenen Person, das auf einer Interpretation seines Gegenstands nur insoweit beruht, als ihm Sinn unter bestimmten Bedingungen zugeschrieben wird. Der Akt der »Selbstverständigung« konstituiere den Gegenstand der interpretativen Tätigkeit in einem existentialontologisch starken Sinne. Der Referent stützte sich hierbei auf Heideggers Unterscheidung von ›Erkenntnisstreben‹ und ›Seinsstreben‹. Die Person, als die sich das Subjekt der »Selbstverständigung« in einem praxistheoretisch anspruchsvollen Sinne interpretiert, bestehe nun nicht nur nicht unabhängig von der »Selbstverständigung« des Interpreten über die eigene Person. Diese sei zugleich als ein fortlaufender Prozess zu begreifen. Als Wechselspiel von Rezeption, Responsion und Neudefinition der eigenen Person in Auseinandersetzung mit der eigenen Umwelt umspanne die »Selbstverständigung« des interpretierenden Subjekts die Dauer seiner Existenz, womit diese ihre Struktur im Prozess der »Selbstverständigung« gewinne. Diese fällt für Angehrn damit unter einen Begriff von Praxis, der die Praxis von jeder produktiven Tätigkeit abgrenzt, die in der Verfolgung konkreter Zwecke, etwa der Verfertigung eines Artefakts, aufgeht. Praktisches Handeln erfülle sich im Vollzug der Handlung selbst. Einen in diesem Sinne praktischen Handlungsvollzug hat Angehrn mit dem existentialontologischen Begriff der »Selbstverständigung« identifiziert.

(1.3) Akte interpretativer Bedeutungsbestimmung in Kontexten sozialen Handelns hat Katharina Eberlein-Braun (Bamberg) in ihrem Vortrag »Vom Sich-Ereignen zum Praxisstil. Interpretation zwischen Unverfügbarkeit und Gestaltung« von solchen der Sinnzuschreibung unterschieden. Sinn werde sozialem Handeln durch seine funktionale Einbettung in soziale Makrostrukturen zugeschrieben. Solche Strukturzusammenhänge bezeichnet Eberlein-Braun mit Rahel Jaeggi als »Lebensformen«. Die Funktionalisierung sozialen Handelns in diesen Strukturzusammenhängen nennt die Referentin »Einfärbung«. Insoweit ihre Funktionalisierung die Antwort auf ein strukturelles Problem darstelle, so Eberlein-Braun mit Jaeggi, lasse die »Einfärbung« sozialen Handelns auf die Historizität der »Lebensformen« schließen, in die das Handeln eingebettet sei. Bedeutungskonstitutiv, folgt man der Referentin, ist soziales Handeln hinwiederum immer dann, wenn soziale Akteure die Gegenstände sozialen Handelns allererst hervorbringen, um anschließend mit ihnen handeln zu können. Dieses bedeutungskonstitutive Handeln grenzt Eberlein-Braun als »Anheften« von der Ausprägung einer »Lebensform« unter konkreten historischen Bedingungen qua »Einfärbung« ab und erläutert den Vorgang am Beispiel der Gestaltung von Kirchenräumen. Vergleich- und unterscheidbar seien Akte der »Einfärbung« von etwas respektive des »Anheftens« von etwas an etwas mit Blick auf die »Signatur« der Interpretationstradition, in der solche Akte interpretativen Handelns vollzogen werden würden; was nicht bedeuten solle, dass sich die Zuschreibung von Sinn respektive die Bestimmung von Bedeutung in einer Reproduktion traditioneller Sinnvorgaben respektive der Aktualisierung generativer Prinzipien der Bedeutungsbestimmung erschöpfen müsse. Mit ihrem Vortrag sensibilisiert Eberlein-Braun also sowohl auf der synchronen als auch auf der diachronen Ebene sozialen Handelns für die Kontextabhängigkeit von Akten der Sinnzuschreibung wie der Bedeutungsbestimmung und liefert einer praxeologischen Hermeneutik mit der durch die Theorie der »Lebensformen« gestützten Konzeptualisierung von »Einfärbung« und »Anheften« ein Instrument zur Analyse dieser Kontextabhängigkeit.

2 Evolutionäre Erkenntnistheorie

(2.1) Wie Eberlein-Braun in ihren konzeptionellen Überlegungen zur Sinnzuschreibung in Kontexten sozialen Handelns betont auch Jörg Volbers (Berlin) den Problembezug interpretativer Operationen. In seinem Vortrag »Denken als experimentelle Praxis. Doing Interpretation mit Dewey« unterläuft Volbers damit erklärtermaßen die kategoriale Unterscheidung zwischen dem Fassen eines Gedankens, verstanden als rationale Überlegungen darüber, wie etwas zu verstehen ist, auf der einen und der Umsetzung des Gedankens in die sprichwörtliche Tat auf der anderen Seite. Diese Unterscheidung verbiete sich, soweit auch der Interpret sozialer Akteur ist. Eingebunden in soziale Handlungszusammenhänge fasse der Interpret seine Gedanken unter dem Handlungsdruck lebensweltlich konkreter Problemsituationen. Als problematisch versteht Volbers eine Situation, in der ein Handeln am Leitfaden bewährter Regelmäßigkeitsannahmen darüber, wie etwas zu verstehen ist, erstens nicht mehr zum erwarteten Ergebnis führt und zweitens auf Seiten des Handelnden Unklarheit darüber besteht, ob die Enttäuschung seiner Erwartungen auf eine Fehleinschätzung der Situation seinerseits oder aber darauf zurückzuführen ist, dass die fragliche Situation seinen Regelmäßigkeitsannahmen inkommensurabel ist. Nun suche der Interpret nach Lösungsmöglichkeiten, von denen er, soweit sich ihm mehrere anzubieten scheinen, eine auswähle. Diesen Prozess von Variation und Selektion versteht Volbers mit John Dewey als Experiment. Anders als etwa Hans-Georg Gadamer, auf den Volbers neben Georg W. F. Hegel zu sprechen kommt, um Deweys Pragmatismus in seiner philosophiegeschichtlichen Eigentümlichkeit zu profilieren, sei Dewey überzeugt, experimentelle Problemlösungsverfahren seien prinzipiell explizierbar, Methoden der Problemlösung mithin anhand konkreter Beispiele erlernbar. Um Methoden, die zur Formulierung wahrer Sätze anzuleiten vermögen, handle es sich dabei für Dewey aber nur insofern, als man die Wahrheit eines Gedankens mit der explanatorischen Kraft identifiziert, die dieser Gedanke in einer konkreten Problemsituation besitze. Wahrheitswert, so lautete die pragmatistische Pointe des Vortrags, komme einem Gedanken also immer nur in Abhängigkeit von seinem lebensweltlichen Problembezug zu.

(2.2) Freilich können problematische Situationen nur dann die Formulierung neuer Gedanken anregen, wenn Interpreten sich über die problemhistorische Relativität ihrer Regelmäßigkeitsannahmen im Klaren und dementsprechend prinzipiell bereit sind, diese im Falle einer Enttäuschung ihrer Erwartungen zu überdenken. Wer keinen Begriff von der epistemischen Relativität seiner Interpretationspraxis hat, der mag den Eindruck gewinnen, Wahrheitsansprüche über Gegenstände empirischer Wahrnehmung legten sich ihm gleichsam von selbst nahe. Der Interpret müsste ›nur‹ wissen, wie er die Gegenstände zu verstehen hat. Die Schubladen, in die die Gegenstände, mit Thomas S. Kuhn gesprochen,[2] dann zu liegen kämen, würden nicht als disziplinenspezifisches Begriffssetting erkannt, sondern als der ›natürliche‹ Ort der Gegenstände verkannt. Hans-Jörg Rheinberger (Berlin), den ich hier mit Kuhn paraphrasiert habe, hat diesen hermeneutischen Kurzschluss benannt und auf seine wissenschaftsgeschichtlichen Konsequenzen hingewiesen: Wenn es der Forschung an einem Begriff von der problemhistorischen Relativität ihrer Regelmäßigkeitsannahmen fehlt, sind wissenschaftliche Revolutionen ausgeschlossen. Die Gefahr einer Stagnation der Wissenschaft, so die These des Vortrags »Über die narrative und interpretative Ordnung der experimentellen Praxis«, werde durch experimentelle Forschung vermieden. Soweit diese gerade nicht bereits durch die Vorannahmen des Interpreten darüber, wie etwas zu verstehen ist, vorstrukturiert wird, gebe sie der Erkenntnis dessen Raum, was im disziplinenspezifischen Begriffssetting des Interpreten anomal erscheinen müsse. Narrativen Charakter besitze die experimentelle Forschung damit insofern, als sich beim Erzählen einer Geschichte unerwartete Wendungen in der Geschichte ergeben könnten, die vom Subjekt der Erzählung gar nicht eingeplant gewesen seien und dann ihrerseits zu einer neuen Auffassung von dem bereits Erzählten führen könnten. Die Wissenschaftsgeschichte habe sich über diese Eigentümlichkeit experimenteller Forschung klar zu werden. Sie vermöge es nicht, ihrem Gegenstand gerecht zu werden, solange sie mit einem Modell von Wissenschaft operiere, das die wissenschaftliche Forschung, bildlich gesprochen, in Epistemen befangen sieht. Historisch nachvollziehbar werde der Erkenntnisfortschritt wissenschaftlicher Forschung nur mit einem Begriff von der interpretativen Offenheit experimenteller Forschung.

3 Analyse wissenschaftlicher Praxis

(3.1) Mit der Struktur wissenschaftlicher Forschung zeigte sich auch Christian Meier zu Verl (Konstanz) befasst. In seinem Vortrag »Doing Ethnographic Descriptions« klärte Meier zu Verl über strukturelle Voraussetzungen der Gewinnung ethnographischer Befunde auf. Die Genese solcher Befunde ist mit Meier zu Verl als »Datenkarriere« zu verstehen, die den Zeitraum von der teilnehmenden Beobachtung bis hin zur Publikation umfasse. Bei seiner Untersuchung einer solchen »Datenkarriere« identifizierte der Referent im Nachspielen beobachteter Handlungen durch das Subjekt der Forschung einen Abschnitt der Datenauswertung, den er in seinem Vortrag als erkenntnisfördernden und dementsprechend wichtigen Schritt in der Interpretation bereits gewonnener Daten charakterisierte. Als erkenntnisfördernd erweise sich die Reinszenierung von Handlungen, die in Feldstudien beobachtet worden seien und anschließend anhand von Beobachtungsprotokollen rekonstruiert werden würden, als Medium des sinnlich unmittelbaren Nachvollzugs der beobachteten Handlungen durch das Subjekt der Forschung. In diesem leiblichen Nachvollzug beobachteter Handlungen gewinne das forschende Subjekt ein Wissen um Regelmäßigkeiten ebendieser Handlungen. Gegenüber Rückfragen nach der Entbehrlichkeit des sinnlich unmittelbaren Nachvollzugs beobachteter Handlungen im Rahmen ethnographischer Forschung insistierte Meier zu Verl auf der Unentbehrlichkeit dieser leiblichen Tätigkeit des Ethnographen. Das hier in Rede stehende Wissen um Regelmäßigkeiten sozialen Handelns könne sich das Subjekt der Forschung, da es sich um ein implizites Wissen sozialer Akteure handle, nur im leiblichen Nachvollzug beobachteter Handlungen aneignen. Im Horizont der durch das Nachspiel beobachteter Handlungen gewonnenen Erfahrung könne das forschende Subjekt dieses implizite Wissen in einem praxistheoretisch voraussetzungslosen Akt der Selbstinterpretation explizieren. Meier zu Verl hat damit herausgestellt, inwieweit ethnographisches Fremdverstehen eine Klärung des Sinns eigenen Handelns (verstanden als Imitation des ›Fremden‹) durch das Subjekt der Forschung zur Voraussetzung hat und damit einen grundlegenden Beitrag zum Verständnis der Methodologie ethnographischer Forschung geleistet.

(3.2) Mit dem Vortrag »Die Explizierung des Impliziten. Zu einem praxeologischen Grundlagenproblem am Beispiel der Interpretationspraxis zu Droste-Hülshoffs ›Knabe im Moor‹« verschob sich der Fokus der Tagung von Aspekten der Erkenntnisgewinnung auf die Analyse der Präsentation von Interpretationsbefunden in einem schriftlich fixierten Text. Die Referenten Stefan Descher (Göttingen) und Thomas Petraschka (Regensburg) gingen zunächst der Frage nach, welche propositional fassbaren Wahrheitsansprüche ein solcher Text unter Umständen nur stillschweigend voraussetzt, obgleich die Plausibilität seiner ausdrücklichen Aussagen über einen fiktionalen Text von ihnen logisch-semantisch abhängt. Gegenstand einer exemplarischen Analyse war eine Interpretation des im Vortragstitel genannten Gedichts ›Der Knabe im Moor‹ (1841/42) von Annette von Droste-Hülshoff.[3] Die Referenten konnten hier zum einen normative Annahmen des Interpreten über die Bedeutung des Gedichts von Droste-Hülshoff bestimmen. Ferner wurden aus der Interpretation Schritte zur methodisch kontrollierten Rekonstruktion der angenommenen Textbedeutung hergeleitet. Zudem konnte dem Interpreten die Annahme eines interpretationstheoretischen Kriteriums zur Beurteilung der Güte interpretativer Rekonstruktionsbemühungen zugeschrieben werden. Implizit blieben im gewählten Beispiel zum anderen die Begründung von Prämissen der Argumentation durch logische Schlussverfahren einerseits und der Vergleich des Referenzbereichs fiktionaler Sätze mit sozialgeschichtlicher Wirklichkeit andererseits sowie Zusatzannahmen, die als Stützen der im Text entwickelten Argumente fungierten, und mögliche Einwände gegen die Plausibilität dieser Argumente. In einem zweiten und dritten Schritt wurden sodann Gründe vermutet, weshalb bestimmte Propositionen nicht eigens formuliert worden und Angaben darüber gemacht, welche Schwierigkeiten mit der titelgebenden »Explizierung des Impliziten« verbunden seien: Während man auf die Begründung bestimmter Prämissen der eigenen Argumente womöglich verzichtet haben könnte, weil die nötigen Schlüsse als selbstevident vorausgesetzt worden seien, werde man den Verzicht auf eine Erläuterung etwaiger Zusatzannahmen und möglicher Einsprüche allfälligen Rahmenvorgaben der schriftlichen Fixierung von Interpretationsergebnissen zuschreiben können; dass darauf verzichtet worden ist, kontroverse interpretationstheoretische Annahmen zu erläutern, ließe sich auf die Einbettung der Interpretation in einen Diskurszusammenhang zurückzuführen, den bestimmte interpretationstheoretische Annahmen charakterisieren. Soweit man nun bei der Explizierung impliziter Wissensansprüche zu heuristischen Zwecken vereinfache, indem man Hypothesen reformuliere und vernachlässige, was im Text selbst nur vage oder mehrdeutig formuliert worden sei, dürfte das Bemühen einer »Explizierung des Impliziten« Anlass zu kontroversen Diskussionen geben. Eine solche ›Vereinfachung‹ einer schriftlich fixierten Interpretation nahmen Descher und Petraschka vor, um aus dem von ihnen gewählten Interpretationstext eine logisch konsistente Argumentation ableiten zu können. Dies wäre kaum möglich gewesen, hätten sie, bildlich gesprochen, unangetastet gelassen, was im Interpretationstext selbst nur vage oder mehrdeutig formuliert worden ist. Insofern erfolgte die besagte ›Vereinfachung‹ einer literaturwissenschaftlichen Interpretation im Geiste hermeneutischer Billigkeit, des so genannten principle of charity.[4] Das Verfahren der beiden Referenten sollte man deshalb als wissenschaftsethisch zu begrüßendes begreifen dürfen.

(3.3) Während sich Descher und Petraschka mit propositionalen Wissensansprüchen befassten, legte Andrea Albrecht (Heidelberg) einen Schwerpunkt auf die Frage nach den nicht-propositionalen Wissensansprüchen schriftlich fixierter Interpretationen fiktionaler Literatur. Ausgangspunkt war hierbei die Feststellung, dass eine Analyse schriftlich fixierter Interpretationen nach dem so genannten ›practice turn‹ ausgeblieben sei. In ihrem Vortrag »Verstehen und Auslegen. Zum Verhältnis von Argumentation und Rhetorik in der literaturwissenschaftlichen Interpretationspraxis« bestimmte Albrecht ihrerseits in der Rhetorik literaturwissenschaftlicher Interpretationen eine vom propositionalen Gehalt dieser Interpretationen unabhängige Ebene der Sinnvermittlung. Diese, folgt man Albrecht, sollte eine mit dem Verstehen wissenschaftlicher Forschung befasste Hermeneutik zu ihrem Gegenstand machen. Eine Antwort auf die Frage, weshalb dies in der Literaturwissenschaft, einer wissenschaftlichen Disziplin, die sich doch vorzugsweise mit rhetorisch anspruchsvollen Texten befasst, bislang nicht oder doch nur in Ansätzen geschehen ist, gab Albrecht mit einer Skizze zur Geschichte der Hermeneutik. Mit der einflussreichen Systematik Friedrich D. E. Schleiermachers sei die Untersuchung der Rhetorik aus der Hermeneutik verdrängt worden. Letztere sei von Schleiermacher auf die Rekonstruktion propositional fassbarer Wahrheitsansprüche beschränkt worden. Da Akte der rhetorischen Präsentation selbst der Interpretation bedürften, könnten sie nur Gegenstand der Hermeneutik sein. Wenn also die rhetorische Präsentation propositional fassbarer Wissensansprüche traditionellerweise nicht als Teil interpretativer Operationen begriffen wird, dann sollte es nicht verwundern, dass die Rhetorik schriftlich fixierter Interpretationen in Untersuchungen dieser Praxis in der Regel auch nicht Gegenstand ist. Die Referentin ihrerseits konnte zeigen, wie die Rhetorik schriftlich fixierter Interpretationen als Medium der Sinnvermittlung fungieren und damit komplementieren kann, was man traditionellerweise als Interpretation begreift: Versteht man unter dieser eine methodisch kontrollierte Ermittlung propositional fassbarer Wahrheitsansprüche über fiktionale Literatur, konstituiert die Rhetorik, folgt man Albrecht, eine eigene Ebene der Sinnvermittlung, wenn sie durch sinnlich qualifizierte Textbeschreibungen den Eindruck unmittelbarer Nähe zu fiktiven Gegenständen zu erzeugen und so nicht-propositionales Wissen, ein Wissen darum, wie sich etwas anfühlt, zu vermitteln vermag.

Resümee

Die Tagung war im Wesentlichen mit der Frage befasst, was es heiße, interpretativ gewonnene Befunde in Abhängigkeit von der Praxis ihrer Gewinnung zu begreifen. Die folgenden Antworten wurden gegeben: Interpretativ gewonnene Befunde in Abhängigkeit von der Praxis ihrer Gewinnung zu begreifen, bedeute, die Wissensansprüche einer Interpretation als das Produkt einer Vermittlung von etwas an eine bestimmte Situation – durch das hermeneutische ›Hantieren‹ mit etwas, qua ›Selbstverständigung‹ oder durch das ›Anheften‹ von etwas an etwas – zu begreifen. Der Wahrheitswert dessen, was der Interpret in Erfahrung bringt, bestünde hier nur in Abhängigkeit von den raum-zeitlich spezifischen Umständen des Interpretierens. Interpretativ gewonnene Befunde in Abhängigkeit von der Praxis ihrer Gewinnung zu begreifen, bedeute des Weiteren, sich über den experimentellen Charakter des Interpretierens klar zu sein. Etwas neues könne ein Interpret nur in Erfahrung bringen, wenn er seine eigenen Vorannahmen in einem Experiment zu relativieren bereit sei. Interpretativ gewonnene Befunde in Abhängigkeit von der Praxis ihrer Gewinnung zu begreifen, könne schließlich bedeuten, interpretativ gewonnene Befunde in Abhängigkeit von erkenntnisfördernden Techniken, wie etwa der sinnlich unmittelbaren Identifikation des Interpreten mit seinem Gegenstand, impliziten Vorannahmen des Interpreten bei der Tätigkeit des Interpretierens oder seiner Lektüreerfahrung zu begreifen. Mit diesen Erklärungsangeboten hat die 2. Jahrestagung des Netzwerks Hermeneutik Interpretationstheorie, scheint mir, der künftigen Diskussion eines praxistheoretisch anspruchsvollen Interpretationsbegriffs wichtige Anregungen gegeben.

Anmerkungen

[1] Vgl. Andreas Reckwitz, Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive, Zeitschrift für Soziologie 32:4 (2003), 282–301, hier 291sq. [zurück]

[2] Vgl. Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen [1962], 2., rev. und um das Postskriptum von 1969 erg. Auflage, Frankfurt a.M. 1976, 19 und 38. [zurück]

[3] Es handelte sich bei dem hier in Rede stehenden Interpretationsbeispiel um eine im Reclam-Verlag erschienene Gedichtinterpretation des Literaturwissenschaftlers Thomas Wortmann. Vgl. Thomas Wortmann, Schrecken ohne Ende, in: Claudia Liebrand/Thomas Wortmann (Hg.), Interpretationen. Gedichte von Annette von Droste-Hülshoff, Stuttgart 2014, 62–75. [zurück]

[4] Vgl. zur Rede von der hermeneutischen Billigkeit Wolfgang Künne, Verstehen und Sinn. Eine sprachanalytische Betrachtung, Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 6:1 (1981), 1–16, hier 11. [zurück]

2018-02-09

JLTonline ISSN 1862-8990

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