Benjamin Krautter
Skalierung – analytisch-methodische Kategorie oder ästhetisches Objekt?
Symposium: »Ästhetik der Skalierung«. Essen, 08.–09.06.2017.
I Zwischen minimal und maximal
Ein »noch nicht vermessenes Feld von Ästhetiken der Kompression und der Amplifikation« näher zu untersuchen,[1] war das Ziel der interdisziplinär angelegten Konferenz »Ästhetik der Skalierung«. Das Interesse der Konferenz richtete sich dezidiert auf den Raum zwischen klein und groß, nah und fern, langsam und schnell oder allgemeiner zwischen minimal und maximal. Die Veranstalter Carlos Spoerhase (Universität Bielefeld), Steffen Siegel (Folkwang Universität der Künste, Essen) und Nikolaus Wegmann (Princeton University) boten mit der Tagung eine zweitägige Diskussionsplattform, die Literatur-, Tanz-, Musikwissenschaft, Kunstgeschichte, Design, Architektur, Soziologie und ihre je spezifischen Skalierungsfragen und -angebote zusammenführte. In einem breit gefächerten Programm präsentierten neben den drei Veranstaltern zwölf Wissenschaftler und Journalisten ihre Überlegungen zur »Ästhetik der Skalierung«.
Als Veranstaltungsort diente der gläserne Vortragssaal des SANAA-Gebäudes, das seit 2010 zur Folkwang Universität der Künste gehört. Das nahezu quaderförmige Gebäude mit einer Grundfläche von 35 x 35 Metern, fünf Ebenen unterschiedlicher Raumhöhe und 134 verschieden dimensionierten und zudem scheinbar zufällig angeordneten Fenstern wirft selbst Skalierungsfragen auf. Auch, weil es mit der Architektur der direkten Umgebung bricht: Das SANAA-Gebäude befindet sich auf dem Gelände der Zeche Zollverein.
Den Einstieg in die Tagung leistete Carlos Spoerhase (Bielefeld) mit einer Einführung, die einerseits so etwas wie einen Horizont für die folgenden beiden Tage bildete, zugleich zehn den verschiedenen Disziplinen gemeine Problemstellungen formulierte und damit die Rahmenfragen der Tagung motivierte. Ausgangspunkt seiner Überlegungen war Geoffrey Wests erst kürzlich erschienene Monografie »Scale: The Universal Laws of Growth, Innovation, Sustainability, and the Pace of Life in Organisms, Cities, Economies, and Companies«.[2] Skalierung sei gemäß West die Reaktion eines beliebigen Systems auf die Veränderung seiner Größe. Vergrößerung und Verkleinerung unterliegen dabei einer intrinsischen Grenze. Ein systematisches Interesse an Skalierbarkeit gebe es jedoch auch in den Sozial- und Geisteswissenschaften. Die Hochskalierung könne Spoerhase zufolge als internationaler Trend beschrieben werden, der vom ›Big Bang‹ bis zur Makroanalyse der Literaturwissenschaft reiche. Die Perspektive des Literaturwissenschaftlers skizzierte Spoerhase im Anschluss an die von Franco Moretti prominent eingeführte Methode des ›distant reading‹. Morettis Perspektive sei die einer hochskalierten globalen Literaturgeschichte nach dem Kredo, je größer die gewählte Skala und je mehr Daten zur Verfügung stehen, desto besser. Skalierung sei aber nicht nur auf die Problematik der Quantifizierung – immer mehr lesen zu wollen – zurückzuführen. So könne beispielsweise der Roman der Moderne von Robert Musil oder James Joyce nicht ohne den Umfangsanspruch verstanden werden: Der monumentale Roman der Moderne müsse eben monumental sein, um das Monumentale darzustellen. Bereits für Aristoteles sei die Frage nach dem Umfang des Dramas eine qualitative gewesen: Können die einzelnen Teile des Ganzen nicht mehr synthetisiert werden, ist der Besucher mit dem Umfang überfordert.
Spoerhases Problemkatalog umfasste u.a. Fragen nach der Maßeinheit der Skalierung, der Rolle des Menschen, kategorialer oder gradueller Differenzierung, Skalenpluralismus, Praktiken der Skalierung oder Ästhetisierung als Skalierungseffekt, auf die die Diskussion im weiteren Verlauf der Tagung immer wieder zurückkommen sollte.
II Ein breites Spektrum: »Ästhetik der Skalierung«
Jens-Christian Rabe (München) eröffnete die Reihe der (im Folgenden thematisch und nicht chronologisch referierten) Vorträge erstaunlicherweise mit einer Bilanz: Die Geschichte der letzten 15 Jahre sei die einer zunehmenden Oberflächlichkeit und Zerstörung. Entgegen der Tendenz zur Vergrößerung liege die Ursache des Verfalls, so Rabes These in seinem Vortrag »Schnippseljagd: Kulturerfahrung als Splitterfest«, jedoch im Herunterskalieren. Die alltägliche Kulturerfahrung in Zeiten des Internets sei planmäßige Verschnippselung. Von einem Album hört man nur noch die 30-sekündige Preview der Single, von einem Sachbuch nur noch die beste Minute des Tedtalks und von Politikern liest man nur noch die Tweets. Geschäftsgrundlage dieses Modells ist die nervöse Ungeduld des Nutzers, der den Konsumenten abgelöst und nur noch die Aneinanderreihung von Pointen im Auge habe. Die ästhetische Kategorie dieses möglichst auf ein Minimum herunterskalierten Formats ist ›krass‹. Die offensichtliche systematische Verschnippselung scheint dabei konsequent. Sie reduziert die Distanz zum nächsten Gag auf ein Minimum. Als letzte Autonomie des Produzenten bleibt somit die Pointe als kleinste Einheit, die sich bisher nicht weiter herunterskalieren lasse.
Zurückskalieren, Lilian Haberers (Köln) Interessensgebiet, das sie mit »Rewind | Downscale. Künstlerische Verfahren zum ›armen Bild‹« erörterte, dreht die Rolle der Verschnippselung in gewisser Weise um. Haberer nutzte dazu den von Hito Steyerl geprägten Begriff des ›armen Bildes‹, das sich als Derivat des hochauflösenden Bildes in Auflösung, Größe, Kontext oder Ausschnitt formatiert und skaliert zeige. Das ›arme Bild‹ wird folglich heruntergeladen, manipuliert, hochgeladen, neu bearbeitet, in digitale Ungewissheit gestoßen, neige deshalb zur Abstraktion und Subversivität. Haberer veranschaulichte die Wirkung anhand mehrerer Beispiele, etwa Anna Zetts »Dinosaur.gif«, einer 20-minütigen Montage animierter Bilder in Form von screengrab-gifs. Die kurzen Sequenzen würden sowohl thematisch als auch formal eine Ästhetik der Erinnerung, der Rückkehr und des Wiedererlebens darstellen. Ausschnitte aus Dinosaurier- und Monsterfilmen werden dabei vertikal heruntergescrollt und in einer Schleife zwei bis fünfmal wiederholt. Das ›arme Bild‹, so beschrieb Haberer, wird so zum ästhetischen Prinzip.
»Figurationen der Schrift im öffentlichen Raum. Jenny Holzers ›infame‹ Kunst der Skalierung« lautete der Vortragstitel von Marc Ries (Offenbach), der die Begründetheit der Kunst Jenny Holzers fokussierte. Ries nutzte dazu die Eigenlogik dreier von Holzer verwendeter Medien – die Billboard Arbeit, ihre LED-Schriftbänder und ihre Xenon-Projektionen. Billboards, so Ries, generieren die Schrift aus sich heraus, die Zeichen führen ein Sekundenleben, der Sinn tritt hervor und erlischt wieder. Sie skalieren also die Beziehung der Vorbeigehenden als konsumierende Lesende. Mit ihren Truisms – Aphorismen oder Pointen wie »Private Property Created Crime« – entfremde Holzer die Zeichen ein zweites Mal, produziere einen Riss im Bewusstsein der wahrnehmenden hysterischen Massen und trenne die heile Warenwelt von ihren hässlichen Voraussetzungen. Die Skalierung der LED-Schriftbänder betreffe dagegen nicht mehr die Dimensionen, sondern die Erschaffung der Schrift selbst. Durch die Bewegung der Schrift ist sie nicht mehr als Anfang und Ende wahrzunehmen. Gemäß Ries wird die Schrift in eine illusionäre Prozessskalierung überführt. Sprache entbinde sich somit jeder Verbindlichkeit, der Fortlauf wird zur Norm und der Lesevorgang nicht mehr umkehrbar.
Claudia Tittels (Weimar) »Inszenierungen von Aufmerksamkeit« knüpften im Anschluss nahtlos an die Ausführungen von Marc Ries an. Tittel konzentrierte sich auf den großen Maßstab monumentaler Filmbilder im öffentlichen Raum und führte dafür Beispiele von Barbara Krüger und Günther Selichar an, die sie als Intervention gegen die Reizüberflutung in Großstädten wertete. Insbesondere der Times Square werde etwa durch Selichars abstrakte Animationsarbeit »who’s afraid of blue, red and green« als Ort des Spektakels entlarvt. Indem er die Grundfarben der visuellen Darstellung abbildet, verschiebe Selichar den Denkhorizont auf das digitale Repräsentationssystem. Der screen werde zu einem ästhetischen Objekt. Über ein kunstfremdes Medium, so Tittel, wird die Kunst in den öffentlichen Außenraum verlagert, also den Raum, der uns mit großflächiger bewegter Bildwerbung umhülle und gegen den Selichar konsequenterweise mit einem monumentalen Bewegtbild opponiere. Auf diese Weise zeige sich nicht nur die Objektseite – die Bewegtbilder entstehen am Computerbildschirm über ein Internetprojekt, das die Einbindung des Nutzers vorsieht –, sondern auch die Rezipientenseite skaliert.
Mit »Art at the Airport« überführte Jan von Brevern (Berlin) Skalierungsfragen der Kunst in das sogenannte ›jetage‹. Nicht mehr die Bahnhöfe, wie einst von Maxime du Camp vorgeschlagen, sondern die Flughäfen als nunmehr moderne Kathedralen des Fortschritts könnten demnach zur Rettung der Kunst beitragen. Fast alle internationalen Flughäfen verfügen über ein eigenes Kunstprogramm. In Heathrow steht etwa das größte privat finanzierte Kunstwerk der Welt: Richard Wilsons »Slipstream«. Um 1960 sorge das ›jetage‹ für einen sowohl faktischen wie auch symbolischen Wandel der Mobilität. Die Mobilität beschleunige sich nicht nur, sie bekomme ganz neue Qualitäten. Der Fluggast – damit griff von Brevern eine These von Reyner Banham auf – müsse möglichst nahtlos in Bewegung gehalten werden. Entsprechend rangiere die Kunst in Flughäfen zwischen Spielzeug und Avantgarde, versprühe modernistisches Flair, ohne dabei zu stören. Und sie verändere sich, wird selbst modular und damit skalierbar, wie von Brevern anhand der Pläne von Robert Smithsons Großkunstwerk »Wandering Earth Mounds and Gravel Paths« zeigte. Der Maßstab der Kunst und nicht mehr die Kunst selbst soll die Beziehung zur Wirklichkeit aufbrechen und unsere Sehgewohnheiten irritieren. Doch trotz ihrer teils grotesken Dimensionen leidet die Flughafenkunst gemäß von Brevern an einer speziellen Form der Unsichtbarkeit. Sie müsse für den Betrachter funktionieren, egal ob dieser sie für Kunst halte oder nicht.
In starkem Kontrast zur monumentalen Flughafenkunst war die nur selten genau untersuchte Faszination von Miniaturen Thema von Christian Demands (Berlin) Vortrag »Mit dem Auge Gottes: Miniaturisierung als Virtualisierung«. Nicht allgemein das Kleine war dabei Gegenstand seines Interesses, sondern vielmehr das kleine Modell eines großen Vorbilds, das jedoch in seiner Miniaturgröße genossen wird. Demand erläuterte, dass Miniaturmodelle eine Simul-tanwahrnehmung mit direktem Vergleich erlaube, die in der Realität selten vollzogen werden könnte. Verkleinerte Rennautos, Segelschiffe, Gebäude oder Tierwelten seien zumeist bedingungsloser Maßstäblichkeit und höchsten Genauigkeitsansprüchen unterworfen. Ihre Skalierung müsse dabei aber als geometrisches Prinzip verstanden werden, das nur im idealen Raum funktioniere. In der Realität stoße die Skalierbarkeit hingegen rasch an ihre Grenzen. Modellautos könnten beispielsweise auch Stürze aus großen Höhen fast unbeschadet überstehen. Nachbildungen würden ab einem gewissen Skalierungsgrad kollabieren, weshalb ein kunstvoller Übertragungsvorgang, letztlich ein Trick, notwendig werde. Der Spaß kleiner Modelle sei zudem häufig an die Perspektive gebunden: Gemessen an den realen Vorbildern überzeugen Miniaturfiguren nur aus der Vogelperspektive, nicht aber aus unmittelbarer Nähe. Der Umgang mit der Skalierung müsse entsprechend erst erlernt werden, bevor man ihn tatsächlich genießen könne.
Die Theaterwissenschaftlerin Isa Wortelkamp (Leipizig) betrachtete Fragen der Skalierung in ihrem Beitrag »Close reading: Bewegung im/als Bild« aus der Perspektive der Tanzfotografie. Am Beispiel von Jean-Michel Nectoux’ Choreographie-Dokumentation »Nachmittag eines Fauns« erarbeitete Wortelkamp verschiedene Funktionsweisen der Fotografie in Abhängigkeit ihrer materiellen Gebundenheit und ihrer Skaliertheit. Im Blättern der Albumseiten, so beschrieb Wortelkamp, geraten die Fotografien in Bewegung, die abgebildeten miniaturisierten Körper reihen sich zu einer imaginären Choreographie. In musealen Ausstellungen dagegen rücke die Darstellung der Fotografien selbst ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Fotografien scheinen in ihrer Bewegung fest zu sein. Der mediale Sprung vom Bild in eine daraus rekonstruierte Bewegung hebe indes die Miniaturisierung auf, die Fotografie ermöglicht dann den Zugang zur Bewegung. Die Übertragung der Bewegung aus der Fotografie sei aber auch als Verlustgeschichte aufzufassen. Beispielhaft dafür seien die von Christian Comte animierten digitalisierten Fotografien Nijinskys in der Rolle des Fauns. Comte führe die Sehnsucht nach einer Verfilmung vor, die Materialität der Fotografie bleibe dabei jedoch deutlich. Die digitalisierte Fotografie selbst sei nicht mehr die Rekonstruktion der Körperbewegung, sondern die der Bewegung des Blicks. Die körnige Struktur des analogen Bildes schlage um in ein digitales Raster und ermögliche ein ins Extrem getriebenes ›close reading‹ der Fotografie, die so in produktiver Differenz zum Tanz betrachtet werden könne.
Wie hängen das große Ganze und das kleine unauffällige Detail miteinander zusammen? Am Beispiel von Don DeLillos »Underworld« und David Foster Wallace’ »Infinite Jest« exemplifizierte Nicola Glaubitz (Frankfurt) den langen Gegenwartsroman, sogenannte ›meganovels‹, als ein Problem der Skalierung. Da der moderne Roman bewusst auf eine Rückerinnerung an entscheidende Details über Selektionsraster verzichte, erfordere seine Länge und Komplexität einen Grad an Erinnerungskapazität und Lesezeit, der nur schwer aufzubringen ist. Der Roman lenke die Aufmerksamkeit auf seine große Dimension und fordere zugleich genaues philologisches Lesen. Er verbinde Notwendigkeit und Unmöglichkeit zwischen Mikroebene und Textganzem zu differenzieren, stelle Skalierung in Aussicht, verhindere aber ihre Realisierung. Der Vortragstitel »Eigenzeit und Lesenszeit« verwies auf ein Problem der ›meganovels‹: Anders als das Theater oder der Film geben Texte keine eigenzeitliche Rezeptionszeit vor. Auch deshalb, so machte Glaubitz deutlich, entstehen Leseprojekte, die Texte beispielsweise über mehrere Monate hinweg künstlich portionieren und so Modelle einer ästhetischen Skalierung anbieten. Mit der Suche nach Methoden der Skalierung schloss Glaubitz: Die Unterscheidung zwischen Mikro- und Makrountersuchung sei keine qualitative, sondern eine relationale. Sie gebe nur ein Feld der Forschung vor, nicht aber wie darin sinnvoll operationalisiert werden könne.
Ihren Vortragstitel »Scalable Reading« entlehnten Marcus Willand und Nils Reiter (Stuttgart) dem Begriffsrepertoire des Altphilologen Martin Mueller. Mueller wiederum reagierte mit ›scalable reading‹ auf Franco Morettis polemische Idee des ›distant reading‹ – nicht länger der Einzeltext, sondern das ganz große System der Weltliteratur interessierte Moretti – und versprach die Vermählung von ›close‹ und ›distant reading‹. Die Metapher des Zoomens, die Mueller der Visualisierung von google earth entnahm und auf Literatur zu übertragen versuchte, bewerteten Willand und Reiter kritisch als Kategoriensprung. Denn praxeologisch würden sich hinter dem Begriff des skalierbaren Lesens eigentlich Verfahren quantitativer digitaler Textanalyse verbergen. Anhand Heinrich von Kleists »Die Familie Schroffenstein« veranschaulichten sie ihre Idee von Skalierbarkeit, die eine Rückverknüpfung von ›distant‹ und ›close reading‹ vorsieht. Im Zentrum der Analyse stand dabei die Operationalisierbarkeit literarischer Konzepte, etwa den Geschlechterrollen der Figuren in Kleists Dramen. Im Fall von »Die Familie Schroffenstein« halfen die digital erhobenen Daten, einen Zusammenhang zwischen Redesemantik der Figuren, ihrem Geschlecht und ihrer Kleidung herzustellen. Wichtig sei dabei, dass die erarbeiteten Eigenschaften der Konzepte quantitativ und automatisch messbar sind. Der Grad der Skalierung sei hierbei von der Datenmenge und der Forschungsfrage abhängig. Skalierbar sind demnach sowohl die Gattungsbestimmungen von mehreren hundert Dramen als auch die Auswertung der Figurensemantik eines einzelnen Dramas.
Ein Fund, nämlich Anna Marie Sagars »Karolinens Tagebuch«, stand im Mittelpunkt von Nikolaus Wegmanns (Princeton) Beitrag »Über alles und nichts schreiben. Experiment am Tagebuch«. Wegmann wählte für den 1774 erschienenen Text mit dem Untertitel »ohne ausserordentliche Handlungen oder gerade so viel als gar keine« eine technische Lektüre: Wie wird geschrieben? Lässt sich das in Termini gefasste Schreibverfahren als Skalierung beobachten? Für Wegmann folgt auf eine Skalierung zwangsläufig ein Effekt der Unstetigkeit: das bekannte Objekt wird möglicherweise zu etwas vollkommen Anderem. Zu einem Fund werde der Text, der die Selbstbeobachtung und Selbstoptimierung der Protagonistin beschreibe und natürlich nicht frei von Handlung sei, aber erst durch eine von Wegmann als ›Drama‹ bezeichnete Stelle: Karoline sitzt am Schreibtisch. Ohne anzuklopfen tritt ihr Bruder ins Zimmer. In Echtzeit, ohne Reflexion, ohne Zugabe, ohne Wertung und ohne Individualisierung schreibt Karoline die Geschehnisse nieder. Den passenden Medienbegriff dazu liefert ihr Bruder: Protokoll. Die Echtzeitprotokollierung skaliere den Zeitraum zwischen Geschehnis und Niederschrift auf ein Minimum, wodurch das Tagebuch als Gattung deformiert werde. Fortsetzung findet diese Form der Selbstprotokollierung gemäß Wegmann in der Gegenwart. Automatisches ›self-tracking‹ etwa zeichnet unser Glücksgefühl auf und gibt Anschluss zur Selbstoptimierung.
Die Musikwissenschaftlerin Gesa zur Nieden (Mainz) trennte sich in ihrem Vortrag »Zwar kein Riesenschnauzer, aber dennoch auf der Bühne. Wagner-Welten heute« vom ästhetischen Objekt und widmete sich stattdessen den Rezipienten. Sie formulierte die These, dass WagnerianerInnen gegenwärtig stark an einer Skalierung von Richard Wagners Größe arbeiteten, die seine Wahrnehmung verändere: Die Größe Wagners werde von der Größe seiner Werke entkoppelt und relativ zu diesen neu bewertet. Wichtig dafür scheinen gemäß zur Nieden vor allem drei Aspekte: Erstens die musikalische und literarische Intensität der Beschäftigung mit Wagner, insbesondere ihre Dauer; zweitens die intergenerationelle Vermittlung; und drittens die in der Praxis präsenten Diskurse, Diskussionsarten und Dialektiken. Angestrebt werde vorwiegend eine soziale und historische Zeitgemäßheit im Umgang mit Wagner, der entsprechend historisch kontextualisiert und von seinen Werken getrennt werde. Eine bleibende Konstante der Rezeption – auch auf unterschiedlichen zeitlichen Skalen – sei dabei das Textverständnis seiner Musik, dem schon immer ein hoher Stellenwert zugesprochen wurde.
Der Soziologe, Journalist und Podcaster Stefan Schulz (Frankfurt) erörterte in seinem Vortrag »Wie lässt sich der Politik die Debatte austreiben?« die Bedingungen des Journalismus im digitalen Zeitalter. Gleich drei Verbreitungsmedien – Zeitung, Fernseher und Smartphone – würden soziologisch nebeneinanderstehen. Diese Skalierung von Darstellungsmedien könnte die Ursache für die größten Dramen unserer Zeit sein. Das Fernsehen, so die These von Schulz, bietet eine Arena für Politik und Machtkampf, die bis zu seinem Durchbruch immer übersehen wurde. Es verwische alte Strukturen, etwa die Zuweisung von ›Status‹ innerhalb einer Gesellschaft. Deshalb sei es unbefriedigend, nur auf die Zeitungen zu schauen, um den gesellschaftlichen Wandel wahrzunehmen. Ort des intellektuellen Theaters sei nämlich das Fernsehen, das über ein gemeinsames Fernsehprogramm, eine selbstverständliche Berieselung, Ethnien und Völker näher zueinander bringe. Die Mächtigen hätten das Gefühl zu herrschen, müssten sich aber zugleich vor dem Zuschauer rechtfertigen. Der Zeitungsjournalismus stehe daneben und arbeite die Debatten inhaltlich auf. Viele Errungenschaften des Fernsehens sah Schulz indes durch die Skalierung des Mediums hin zur Smartphone-Logik in Gefahr. Die politische Arena werde aufgehoben, das einheitliche Konkurrenzdenken asymmetrisch und die Publikumsfunktion verschwinde. Es gebe keine redaktionelle Logik mehr, interessant sei nur noch die Performance und die Show.
III Perspektiven und Grenzen der Skalierung
Die zweitägige Konferenz »Ästhetik der Skalierung« präsentierte sich nicht nur aufgrund ihres umfangreichen Programms und ihrer interdisziplinären Anlage äußerst ambitioniert. Skalierungsfragen, das zeigten die vielfältigen Vorträge einerseits, können ganz verschiedene Skalen zu Grunde liegen. Die Einordnung in ein System zwischen Minimum und Maximum, wie Carlos Spoerhase in seiner Einführung betonte, scheint eine Art Minimaldefinition zu sein, die durch die Typisierung des Systems nach Größe, Datenmenge, Geschwindigkeit – allgemeiner: Verhältnisse von Zeiträumen und Dauer –, Entfernung oder Qualitätsstufe näher spezifiziert wird. Andererseits, das verdeutlichte der Vortrag von Marcus Willand und Nils Reiter, kann Skalierung metaphorisch als graduelle Forschungsmethode aufgefasst werden, deren Verfahren zwischen den Extrempolen changieren, im speziellen Fall ›close‹ und ›distant reading‹ gegenseitig bereichern. Skalierung muss aber keine Methode der Analyse darstellen, sie kann auch Darstellungsform oder Visualisierung sein, die etwa im Kunstwerk selbst angelegt ist: ›Scale‹ übernimmt zu gewissen Teilen die eigentlich der Kunst zugesprochenen Aufgaben, da jede Größe eigene ästhetische Entscheidungen voraussetzt. Entsprechend wichtig ist die Rezeption von Skalierung, wie mehrfach – die Vorträge von Marc Ries, Jan von Brevern oder Gesa zur Nieden sind Beispiele –, wenngleich nicht immer explizit betont wurde. Gleichfalls auffällig war das Vorgehen einiger Vortragender, die wiederholt über eine Art Erlebnisbericht (Erinnerung an die Kindheit, Erfahrungen im Umgang mit Archivmaterial u.a.) zusätzliche anekdotische Evidenzen in die Argumentationen integrierten. Das könnte dem noch neuen Umgang mit dem Konzept Skalierung oder aber der epistemischen Eigenheit des Konzepts geschuldet sein.
Die von den einzelnen Vorträgen disziplin- und themenspezifisch verorteten Aspekte einer ›Ästhetik der Skalierung‹ wurden durch die anschließende Diskussion oftmals auf eine generellere Ebene gehoben und dabei auch um fachfremde Perspektiven ergänzt. Die von Carlos Spoerhase einleitend skizzierten Probleme boten dabei mehrfach Orientierung. Ein echter übergreifender Nenner, der den weiten Anwendungsbereich von Skalierung hätte enger fassen können, konnte indes nicht bestimmt werden. So blieben es vor allem einzelne geteilte Aspekte, die Anschlusspotentiale zwischen den verschiedenen Disziplinen und Forschungsvorhaben offenbarten. Zwei Fragestellungen blieben im Verlauf der Diskussion dennoch präsent: Erstens, wo liegen die Grenzen der Skalierung? Inwiefern unterscheiden sich diese für organische und anorganische Systeme? Und zweitens die von Steffen Siegel aufgeworfene Frage, ob das skalierte Objekt vom Rezipienten nicht zugleich als Störungsfaktor wahrgenommen werde: sei es Jenny Holzers ›infame‹ Kunst, Günther Selichars abstrakte Animationsarbeit oder eine Miniatur, die nur in bestimmten Perspektiven überzeugen kann.
Offen bleibt also – und das wäre eine dritte Fragestellung –, ob Skalierung eher eine analytisch-methodische Kategorie, eine der Modellierung von Methoden oder aber eine Objektkategorie ist. Eine Antwort kann, wenn überhaupt, nur in Abhängigkeit der untersuchten Skala selbst gegeben werden. Problematisch ist bereits die Kategorisierung verschiedener Skalen, die noch nicht in ein präzises wissenschaftliches Vokabular gefasst ist. Die Skala zwischen nah und fern kann beispielsweise Skalierungseffekte in Abhängigkeit von der räumlichen Distanz zum betrachteten Objekt systematisieren. ›Close‹ und ›distant reading‹ sind dagegen Metaphern. Ebenfalls durch das Wortpaar ›nah‹ und ›fern‹ aufgetrennt kontrastieren sie einerseits die reine Anzahl der Untersuchungsgegenstände, stehen aber zugleich auch kategorial für entweder qualitative oder quantitative Analysemethoden ein.
Analytisch-methodisch ist Skalierung dann, wenn die Datengrundlage innerhalb einer Untersuchung so erweitert oder eingeschränkt wird, dass ein Kategoriensprung zu überbrücken ist. Die Analyseverfahren sind hierbei an die Forschungsfrage geknüpft und müssen unter Umständen neu modelliert werden. Makroanalyse ist hierbei kein Muss, kann aber einen Teil- oder auch Hauptaspekt der Untersuchung darstellen.
Ist der Gegenstand der Untersuchung jedoch selbst hinsichtlich seiner Umwelt oder anderer Vergleichsobjekte skaliert und somit relativ in eine Skala versetzt, muss Skalierung als Objektkategorie aufgefasst werden. Aus dieser Position heraus entwickelten die meisten Referenten ihre Thesen. Skalierung ist dann ein Konzept, das es erlaubt, ästhetische Phänomene der Größenveränderung eines Systems mit intrinsischen Grenzen disziplinenübergreifend in gleicher Beschreibungssprache darzustellen, die jedoch noch zu wenig trennscharf ist. Die Fallstudien könnten allerdings Orientierung bieten, um diese Beschreibungssprache weiter zu präzisieren.
[1] Exposé zur Konferenz: https://arthist.net/archive/15533 (18.06.2017). [zurück]
[2] Geoffrey West, Scale:The Universal Laws of Growth, Innovation, Sustainability, and the Pace of Life in Organisms, Cities, Economies, and Companies, New York 2017. [zurück]
2017-10-03
JLTonline ISSN 1862-8990
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