Sophia Alt, Caterina Brand, Vanessa Haazipolo
Literatur als Gedankenexperiment – Grenzen und Chancen einer Perspektive
Literature as Thought Experiment / Literatur als Gedankenexperiment. Nietzsche-Dokumentationszentrum, Naumburg, 16.–18. März 2017.
Besteht der Eigenwert von Literatur üblicherweise zunächst in der Wahrnehmung derselben als Möglichkeit zur interaktiven Praxis oder als ein Werk mit ästhetischem Anspruch, so ist es der Kontext der Debatte um einen möglichen epistemischen Wert, in welchem die von Falk Bornmüller (Magdeburg), Mathis Lessau (Freiburg), Íngrid Vendrell Ferran (Jena) und Johannes Franzen (Freiburg) organisierte Tagung vom 16.–18. März im Nietzsche-Dokumentationszentrum in Naumburg stattfand. Dabei handelte es sich um den Vorschlag einer neuen Art des Zugriffs auf Literatur, die über gängige Überlegungen im Bereich des potenziellen Erkenntnisgewinns anhand von Literatur hinausgeht[1]: Im Rahmen einer interdisziplinären Verbindung von Literaturphilosophie und Literaturwissenschaften war die Leitfrage in Anlehnung an Catherine Elgins philosophische Thesen[2]: (Wie) ist Erkenntnis anhand von Literatur möglich, wenn man sie als ein Gedankenexperiment versteht? Erklärtes Ziel der Tagung war dabei, nicht allein über, sondern »mit Literatur [zu] philosophier[en]«, um die Möglichkeiten und Grenzen des Begriffs des literarischen Gedankenexperiments auszutesten. In einem ersten thematischen Block lag die Diskussion genuin philosophischer Fragestellungen im Fokus. In einem zweiten Block wurden anhand konkreter literarischer Beispiele mögliche Anwendungen der Ansätze Elgins versucht.
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Catherine Z. Elgin (Cambridge/Massachusetts) hielt den Einführungsvortrag mit dem Titel »Imaginative Exploits, Epistemic Rewards«. Ihre Fragestellung, wie – nicht ob – literarische Fiktion mit der Realität in Verbindung stehe, bildete die Grundlage der Tagung. Elgin unterschied zwischen literarischer Fiktion, Gedankenexperimenten und Laborexperimenten. Den drei Begriffen sei allerdings gemein, dass sie zu einem besseren Verständnis beitrügen – einem Verständnis durch Exemplifikation der Beziehung zwischen den untersuchten Instanziierungen und dem, wovon diese eine solche seien. Doch Gedankenexperimente reichten insofern weiter als Laborexperimente, als dass sie realweltlich nicht umsetzbare Eigenschaften exemplifizieren und in noch stärkerem Maße isolieren könnten. Dabei handele es sich notwendigerweise um eine Auswahl: Einige Aspekte würden hervorgehoben, andere ignoriert. Dies erfordere immer auch Interpretation: Welche Teile des Rahmens, welche Gesetzmäßigkeiten in der Literatur explizit oder implizit mitkommuniziert würden, ermögliche gerade den Kontext, innerhalb dessen bestimmte Konsequenzen durch die Leserin getestet werden könnten. Elgin schlug vor, literarische Werke als ›erweiterte, ausgearbeitete Gedankenexperimente‹ zu verstehen, in welchen relevante Eigenschaften, komplexe Interaktionen, teils auch konfundierende Faktoren exemplifiziert würden. So werde ein Raum geschaffen, in welchem auch außergewöhnliche Hypothesen getestet und überhaupt erst plausibilisiert werden könnten. Literarische Gedankenexperimente ermöglichten einen epistemischen Zugriff auf etwa psychologische oder normative Aspekte der Welt durch eine Instanziierung von Eigenschaften, die in menschlichen oder menschenähnlichen Agentinnen konkretisiert würden. Elgin verdeutlichte dies am Beispiel von Sophoklesʼ Ödipus unter Zuhilfenahme einer Hypothese Aristoteles’. Das Werk stelle die Frage nach Schuld, Zufall und dem Zusammenspiel von Charakter und situativen Umständen, und zeige dem Leser darin auch auf, was er im Vorfeld je schon akzeptiert, welche Position er bereits eingenommen habe.
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Gottfried Gabriel (Konstanz) kritisierte in seinem Vortrag »The Cognitive Value and Ethical relevance of Fictional Literature« den propositionalen Ansatz Elgins. Die Sprache fiktionaler literarischer Werke sei sinnlich-konnotativ und reich an Nebenbedeutungen. Wissenschaftliche Gedankenexperimente seien propositional; durch sprachliche Mittel wie das des Paradoxons oder der reductio ad absurdum erhielten sie Argumentstruktur. Darin sah Gabriel einen klaren Unterschied zu narrativen Texten. Im Verständnis von Literatur als Gedankenexperiment bestehe so auch die Gefahr einer Trivialisierung ihrer ästhetischen Komplexität. Dagegen schlug Gabriel vor, Literatur als ein ›Transportmittel der Ver-Gegenwärtigung‹ zu betrachten. Sichtweisen, Innenperspektiven und Emotionen würden in ihrer Schilderung durch die Literatur evoziert. Er unterschied dabei zwischen den Termini ›Wissen‹ und ›Erkenntnis‹: eine Ver-Gegenwärtigung der Schilderung einer Situation oder Innenansicht bedürfe keiner ›Zustimmung‹ durch die Leserin und besitze auch keine propositionalen Wahrheitswerte; in diesem Zusammenhang dürfe folglich nicht von Falsifikation gesprochen werden – und somit nicht von Wissen.
Mit ihrem Vortrag »Experiments in Thoughts and Fiction. A Comparison« schloss Christiane Schildknecht (Luzern) thematisch an ihren Vorgänger an. Sie stimmte dabei zunächst der von Elgin vorgeschlagenen Definition des Gedankenexperiments als eine Möglichkeit der Instanziierung von Eigenschaften zu, stellte ihr dann aber ein anderes Verständnis des Begriffs der Fiktion entgegen: Elgin gehe davon aus, dass in der spezifischen narrativen Struktur fiktionaler Literatur epistemischer Zugriff auf propositionales Wissen möglich sei – direkt auf die instanziierten Muster oder Eigenschaften –, und dass Fiktion sich so als eine Form der Argumentation verstehen lasse. Schildknecht schlug dagegen eine nicht-propositionale Lesart vor, in welcher der Wert von Fiktion weder in Wahrheitswerten noch in einer Form der Referenz bestünde. Stattdessen sei in diesem Zusammenhang die Frage zu stellen: ›Wie wäre es, wenn…?‹. Literarische, fiktionale Werke sind nach Schildknecht Experimente im Sinne einer Ermöglichung virtuellen Miterlebens, das Testen innerer Intuitionen gegen den fiktionalen Inhalt anhand eigener Erfahrungen, das zu einer neuen Form der Kognition führen könne. So würden sie als ›indirekte Begegnung‹ eine Form phänomenalen Wissens ermöglichen. Dies erlaube eine Ko-Ausführung oder ein Nachstellen bestimmter Erfahrungen anhand des Textes: eine ›imaginäre Exemplifikation‹. Wesentlich sei dabei die Potentialität (Art), nicht die Tatsächlichkeit (Inhalt) einer Empfindung. Ebenso scheine die Identifikation von Fiktion mit Gedankenexperimenten die genuinen Errungenschaften imaginativer Vergegenwärtigung von Fiktion zu unterschätzen, indem es sie auf Argument und Proposition reduziere. Die unterschiedlichen epistemischen Strukturen von Gedankenexperimenten und fiktionalen Werken würden eine unterschiedliche Art des epistemischen Zugriffs erfordern.
Wolfgang Huemer (Parma) wies in seinem Vortrag »Power and Limits of an Image: on the Notion of Thought Experiments in the Philosophy of Literature« darauf hin, dass der Begriff ›Literatur‹ von Catherine Elgin sehr weit gefasst wird. Die daraus resultierende Vorstellung, dass Werke der Literatur Gedankenexperimente seien, hielt er für problematisch, da sie dazu verleite, literarischen Werken einen genuinen Eigenwert abzusprechen. Um diese Trivialisierung zu vermeiden, schlug Huemer vor, Elgins Position mehr als Vergleich – Literatur sei wie ein Gedankenexperiment – denn als Hypothese zu betrachten. Als solche sei sie durchaus auf einige literarische Werke anwendbar. Das Beispiel, das Huemer anbrachte, war Friedrich Dürrenmatts Die Physiker. Das Werk lade die Leserin bereits durch seine narrative Struktur zum Reflektieren ein, verstärkt werde dieser Vorgang noch durch die von Dürrenmatt selbst formulierten und dem Werk angehängten 21 Thesen. In diesen Thesen äußere sich der Autor zu Themen wie der Wissenschaftsverantwortung von Physikern und rege dadurch dazu an, die Bestätigung seiner Thesen in der Geschichte zu suchen. Dabei dürfe jedoch nicht vergessen werden, dass die Thesen ein Anhang und nicht Teil der Geschichte selbst seien. Er schloss mit dem im weiteren Verlauf der Tagung noch viel diskutierten Punkt, dass das Verständnis von Literatur als Gedankenexperiment daher mehr eine nachträgliche von dem Leser erbrachte Leistung darstellt und nicht von den literarischen Werken selbst nahe gelegt wird.
Einer bisher nicht angesprochenen Gattung von Literatur, der Hard-Science-Fiction, wandte sich Harald Wiltsche (Stanford) zu. Sein Vortrag befasste sich insbesondere mit dem funktionalen Status von Literatur und Gedankenexperiment. Hard-Science-Fiction zeichne sich durch den Anspruch aus, ein Zukunftsnarrativ dem heutigen Stand der Wissenschaft entsprechend zu erzählen. Er argumentierte in seinem Vortrag »The Forever War. Relativity Theory, Existential Understanding and Hard-Science-Fiction« dafür, dass in der Naturwissenschaft Gedankenexperimente vor allem dazu gebraucht würden, komplexere Theorien greifbarer zu machen. Diese Wirkung ließe sich auch durch das Lesen von Hard-Science-Fiction wie The Forever War von Joe Haldeman erzielen. Um den in diesem Werk herrschenden interstellaren Krieg zu gewinnen, nutzen Menschen die Effekte der von der Relativitätstheorie beschriebenen Zeitdilatation. Der Leserin würden Wiltsche zufolge diese Phänomene bei der Lektüre ähnlich wie bei einem wissenschaftlichen Gedankenexperiment verständlich gemacht. Darüber hinaus schrieb er Hard-Science-Fiction-Werken auch insofern die Funktion eines Gedankenexperimentes zu, als sie zeigten, welchen Einfluss bestimmte wissenschaftliche Entwicklungen auf die Menschheit haben könnten.
Daran knüpfte Stephan Packard (Freiburg) in seinem Vortrag »Conjugations of the What if — Golden Age Science Fiction Between Futurology, Thought Experiment and Imagination« an. Nach einer Ausdifferenzierung verschiedener Strömungen der Science-Fiction-Literatur verwies er auf die der Gattung inhärente Frage nach dem ›Was wäre wenn‹. Imaginierend würden verschiedene Möglichkeiten dessen durchgespielt, was durch die Ausschöpfung technischer Mittel geschehen könnte. Damit würde durch Science-Fiction-Werke, ähnlich wie durch Gedankenexperimente, das Feld des Denkbaren erweitert.
Eva Konrad (Frankfurt/Main) stellte in ihrem Vortrag »Counterfactual Literature as Thought Experiment« sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede zwischen kontrafaktischen literarischen Werken und wissenschaftlichen Gedankenexperimenten heraus. Beide zeichneten sich durch ein fiktives Szenario aus, erforderten eine Imaginationsleistung des Lesers und regten diesen zum Nachdenken an. Allerdings wiesen, Konrad zufolge, Gedankenexperimente eine argumentative Struktur auf. Selbst wenn ein Gedankenexperiment dem Leser keine direkte Antwort böte, diene es doch oft dazu, bestimmte Aspekte einer Argumentation zu verdeutlichen. Dagegen könne Literatur zwar dazu inspirieren, Antworten auf im Leseprozess entstandene Fragen zu finden, Überzeugungsarbeit sei aber meist nicht das vorrangige Ziel literarischer Werke. Konrad zufolge könne kontrafaktische Literatur somit als Gedankenexperiment gelesen werden, sei aber zugleich mehr als das. Dabei betonte sie vor allem, dass in literarischen Werken mehr Wert auf Details in der Darstellung gelegt würde, während in Gedankenexperimenten meist nur die für das Argument notwendigen Beschreibungen enthalten seien.
Die Rolle der Rezipientin beim Lesen literarischer Werke betonte Julia Langkau (Fribourg). In ihrem Vortrag »Thought Experiments, Counterfactual Knowledge and Fiction« bezog sie sich auf Jane Austens Roman Emma. Langkau zufolge liefere dieser der Leserin ein anschauliches Modell für einen bestimmten Personentypus. Bringe die Leserin die Bereitschaft zum ›eigenen Denken‹ mit, werde es ihr durch den Roman beispielsweise möglich, den Begriff der Egozentrik zu schärfen und gewisse menschliche Verhaltensmuster auch im realen Leben besser zu detektieren. Doch könne der Roman auch schlicht zu Unterhaltungszwecken gelesen werden.
Den letzten Vortrag des ersten Tages »Many Worlds – no Decision: Forking Path Narratives as Literary Thought Experiments and their Textual as well as Ethical Implications« leitete Sabine Zubarik (Erfurt) mit einem Kurzfilm ein. In diesem wurde der Lebensverlauf einer Frau durch zwei parallel beschriebene Szenarien in radikale Abhängigkeit davon gesetzt, ob sie durch kontingente Umstände eine U-Bahn verpasst oder gerade noch erreicht. Der Zuschauerin werde so der Einfluss des Zufalls auf das eigene Leben verdeutlicht. Zubarik betonte den gedankenexperimentellen Charakter solcher forking path narratives. Ähnlich wie bei Science-Fiction-Werken würden in ihnen verschiedene Möglichkeiten des ›Was wäre wenn‹ aufgezeigt und durchgespielt. Durch die Lektüre eines solchen Werkes (oder der Rezeption über ein filmisches Medium) würde die Leserin dazu angehalten, sich vorzustellen, dass ihr eigenes Leben auch anders hätte verlaufen können.
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Während der Fokus des ersten Teils der Tagung auf der kritischen Auseinandersetzung mit philosophisch-literaturtheoretischen Grundlagentheorien im Allgemeinen und Elgins Konzept von Literatur als Gedankenexperiment im Besonderen lag, ging es im zweiten Teil darum, diese auf literarische Werke anzuwenden.
Der erste Vortrag dieses Tages trug den Titel »The Thought Experiment as Emotional Experiment: Zola´s Thérèse Raquin« von Katja Hettich (Bochum). Das zentrale Interesse Hettichs an dem 1867 veröffentlichten Roman Émile Zolas lag dabei auf Emotionalisierungsstrategien und dem sich in der Emotionalisierung äußernden performativen Charakter des Romans. Das Werk Thérèse Raquin erzählt die Geschichte der gleichnamigen jungen Frau, die sich in einer erzwungenen, von ihr als leidenschaftslos und langweilig empfundenen Ehe wiederfindet. Thérèse beginnt eine heimliche Beziehung mit einem Freund ihres Ehemannes, mit dem sie schließlich den Mord an ihrem Mann plant. Nach der Tat, die gegenüber Verwandten und Freunden erfolgreich als Unfall getarnt wird, glaubt das Liebespaar die Beziehung unbeschwert ausleben zu können, stattdessen aber wird das gemeinsame Glück durch Schuldgefühle getrübt. Albträume, Verfolgungswahn und sogar Halluzinationen treiben das Paar in den gemeinsamen Selbstmord. Hettich zeigte in ihrem Vortrag mehrere Charakteristika des Werkes auf, die dafür sprechen könnten, es als Gedankenexperiment zu betrachten: Zum einen glichen bereits die Beschreibungen der Ausgangssituation zu Beginn der Geschichte einem experimentellen Aufbau. Zum anderen folge die gesamte Geschichte dem Muster eines ›Was wäre wenn‹ und schließlich würden die vielen spannungserzeugenden und emotionalisierenden Stilmittel die Leserin zum Mitfühlen bewegen. Hettich kommt zu dem Schluss, dass diese direkte emotionale Einbindung des Lesers und die Anregung seiner Imagination in kognitive oder mentale Modelle übertragen werden könnten, die eine psychologische Weiterbildung bedeuteten.
Alexander Fischer (Bamberg) beschäftigte sich in seinem Vortrag »›...luck is not to be coerced‹: Camus’ The Plague as a Thought Experiment«, mit dem Roman Die Pest von Albert Camus. Fischer versuchte, die Frage zu klären, ob Elgins These sich nur auf vergleichsweise kurze und wenig komplexe Literatur anwenden lasse. Um dies beantworten zu können, wählte er mit Camus’ Werk einen Roman, der nicht nur als Unterhaltungsliteratur gelesen werden könne, sondern zugleich eingebettet sei in die existenzialistische Philosophie des Autors. Camus exploriere, so Fischer, in seinen Texten Begriffe der Absurdität und schaffe absurde Charaktere; daher könne man diese Literatur als ein Gedankenexperiment betrachten, in dem der Autor seine eigenen philosophischen Thesen erprobe. Fraglich sei, ob das Erkenntnispotenzial, das der Roman als literarisches Werk trage, von den philosophischen Thesen losgelöst werden könne. Fischer sprach auch andere zentrale Fragen an, die über die Tagung hinweg immer wieder diskutiert wurden: Wird das literarische Werk an sich nicht mehr ernst genug genommen, wenn man es auf die Thesen des Autors und seine Äußerungen zur Interpretation reduziert? Schenkt man den literarischen und ästhetischen Qualitäten des Werkes zu wenig Aufmerksamkeit, wenn man es vordergründig als ein Gedankenexperiment liest?
Es folgte ein Vortrag von Giulia Agostini (Heidelberg) mit dem Titel »The Geometrical Figure as Literary Thought Experiment.« Agostini sprach über das Stück Quad von Samuel Beckett von 1981, in welchem vier Schauspieler eine vorgegebene geometrische Route auf der Bühne begehen. Durch die Laufwege der Schauspieler, die ein bestimmtes Feld der Bühne nie betreten, entstünde ein Verweis auf einen Raum des ›Nichts‹. In Verknüpfung mit der These, dass auch Literatur immer schon ›ein Wort zu viel‹ sei, handele es sich bei diesem Schauspiel um eines der abstrakteren, eher in der räumlichen Umsetzung denn in der rein textlichen Form begreifbaren Werke, die als Gedankenexperiment und zugleich Inszenierung epistemisch interessant sein könnten.
Es folgte der Vortrag von Moritz Rathjen (Freiburg): »Living without Intentions: On Handkes Die Angst des Tormanns beim Elfmeter.« Der hier besprochene Roman des Autors Peter Handke aus dem Jahr 1970 erzählt die Geschichte von Joseph Bloch, einem ehemaligen Fußballtorwart und Monteur. Nachdem Bloch glaubt, seine Anstellung verloren zu haben, wandert er ziellos durch die Stadt und lernt eine junge Frau kennen, die er nach der ersten gemeinsam verbrachten Nacht erwürgt. Der Vortrag machte es sich zur Aufgabe, das Innenleben des Protagonisten als ein Gedankenexperiment bezüglich der Intentions- und Emotionslosigkeit der Figur zu begreifen.
Loreen Dalski (Mainz) sprach zum Thema »Das epistemische Potenzial der Langeweile in Wilhelm Genazinos Wenn wir Tiere wären«. Dalski vertrat die These, dass Genazinos Werk, das den Trott des Alltags thematisiert, in dem Sinne als Gedankenexperiment zu verstehen sei, dass die Leserin eben diese Auswirkungen der Langeweile mit der Lektüre erfahren könne. Sowohl durch Inhalt als auch den Schreibstil sei diese Idee literarisch umgesetzt. Damit sei der Roman auch als ein performativer Text zu verstehen, der die Leserin die zu vermittelnde Erkenntnis aus der Ersten-Person-Perspektive erfahren ließe.
Sophia Alt, Caterina Brand und Vanessa Haazipolo (Magdeburg) hielten einen Vortrag mit dem Titel »The Physicists by Friedrich Dürrenmatt – a Paradoxical Thought Experiment about Scientific Responsibility«. Darin wurde die These vertreten, dass Dürrenmatts Stück von 1961 als ein Gedankenexperiment gelesen werden könne. In zwei Akten erzählt dieser die Geschichte von Möbius, einem Physiker, der sich in ein Sanatorium für psychisch kranke Menschen begeben hat, um seine wissenschaftlich brisanten Erkenntnisse zu verheimlichen. Es wurde vorgeschlagen, dass Dürrenmatt Paradoxien als eine Methode und ein Stilmittel benutzt habe, um dem Leser die normativen Inhalte seines Dramas näher zu bringen. Das Werk könne insofern als Gedankenexperiment gelesen werden, als darin auch realweltlich mögliche Folgen wissenschaftlichen Fortschritts behandelt würden.
Der Vortrag »Literature as Thought Experiments in Miguel de Unamuno« von Íngrid Vendrell Ferran (Jena) behandelte die Frage, inwiefern die literarischen Werke des spanischen Philosophen und Schriftstellers Miguel de Unamuno dazu geeignet seien, dem Leser Wissen über Emotionen zu vermitteln. Ferran behandelte darüber hinaus ein Paradoxon, welches sie im Gegensatz zu den Überlegungen des vorangegangenen Vortrags nicht in der einem spezifischen Werk immanenten Methode oder dessen Stil, sondern grundsätzlich in literarischen Gedankenexperimenten sah: Ihre These war, dass etwas, das einem zuvor nicht bekannt ist, auch während der Lektüre nicht auffalle. Folglich werde kein neues Wissen erlangt, da nur wahrgenommen werde, was individuell bereits bekannt sei.
Den Abschluss der Tagung bildete der Beitrag von Johannes Franzen (Freiburg) mit dem Titel »Autofictional Thought Experiments. Lunar Park by Bret Easton Ellis.« Franzen sprach über den 2005 erschienen Roman von Ellis, dessen Protagonist denselben Namen wie der Autor trägt. Die Erzählung deckt sich in einigen Punkten mit der Biographie des Autors, während sie in anderen Punkten drastisch davon abweicht. Man könne, so Franzen, Lunar Park als ein autobiographisches Gedankenexperiment verstehen, in dem der Autor alternative Möglichkeiten seines Lebenslaufs durchspiele. Ebenso wie in den vorangegangenen Vorträgen wurde hier die Frage des ›Was wäre wenn‹ aufgeworfen, welche sich in diesem Fall auf zentrale Lebensentscheidungen beziehe und eine Reflektion des Autors auf vergangene Momente und Chancen – und somit nicht erlebte Alternativen der Lebensentwicklung – darstelle. Die fiktionale Exploration von Möglichkeiten und möglichen anderen Zuständen der faktischen Welt war ein Motiv, das im Rahmen der Tagung mehrfach als ein Indiz für das gedankenexperimentelle Potenzial literarischer Werke betrachtet wurde.
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Insgesamt war der erste thematische Block am zweiten Tagungstag geprägt von einer regen Diskussion des am Abend zuvor gehörten Vortrags und der in ihm vorgebrachten Thesen Catherine Elgins. Problematisch erschien dabei der von ihr zu ungenau definierte Begriff der ›Literatur‹ und die – sich aus einer rein gedankenexperimentellen Lesart ergebende – Trivialisierung des ästhetischen Gehalts. Dabei erwies sich besonders die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen eines Argumentbegriffs in Bezug auf literarische Gedankenexperimente als fruchtbar, um den erkenntnistheoretischen Wert literarischer Werke zu ermitteln. Die Konzentration auf literarische Beispiele am dritten und letzten Tag der Tagung bestärkte jedoch den allgemeinen Tenor, dass es unter Berücksichtigung dieser Einwände dennoch möglich sei, Werke der Literatur – unter anderem – als Gedankenexperimente zu begreifen.
Doch was macht bestimmte Werke geeigneter als andere für die Erkenntnisgewinnung unter diesem Gesichtspunkt? Welche Art von Erkenntnis ist es, die man aus einem literarischen Werk gewinnen kann? Und welche konkreten Bestandteile des literarischen Werkes bergen einen möglichen Erkenntnisgehalt?
Über die Tagung schien sich der unausgesprochene Konsens gebildet zu haben, dass literarische Gedankenexperimente, anders als Laborexperimente, nicht das Ziel haben, eine klare These zu beweisen und so primär propositionales Wissen zu produzieren. In dem Sinne lassen sie sich auch von typischen Gedankenexperimenten abgrenzen: Sie beinhalten zwar einen ähnlich fiktiv-erprobenden Charakter, führen aber selten direkte oder notwendigerweise stichhaltige Belege für explizit artikulierte Theorien an. Sie sind vielmehr als das Ausbuchstabieren einer denkbaren Gegebenheit und somit das Austesten möglicher Szenarien zu verstehen, deren Lektüre letztendlich zu einer emotionalen, phänomenalen und kreativen Weiterbildung der Leserin führen kann. Die Referenten, die konkrete Literaturbeispiele vorgestellt haben, behandelten folglich auch weniger konkrete Thesen, die das Werk selbst zu belegen versuche, sondern eher solche, die einen weiterbildenden Erlebnisgehalt, einen kognitiven Mehrwert oder auch eine Anregung der Kreativität bezogen auf mögliche Zustände der Welt zum Gegenstand hatten. Und selbst Friedrich Dürrenmatt, der seinem Werk Die Physiker 21 Thesen beifügte, machte bereits in seiner ersten These deutlich, dass er »nicht von einer These, sondern von einer Geschichte«[3] ausgehe.
Eine andere Kontroverse, die während der Tagung nur angeschnitten wurde, jedoch im Sinne eines Ausblicks für weitere Forschung in diesem Bereich interessant sein könnte, ist die darüber, welchen Einfluss es auf die Leserin haben könnte, wenn Bestandteile eines Werkes explizit auf dessen experimentellen und explorierenden Charakter hinweisen.
Mit (und anhand von) Literatur zu philosophieren bedeutete in diesem Kontext aus dem literarischen Beispiel heraus einen neuen Raum der Erkenntnis zu erschließen, der die Chance zur Perspektivenerweiterung und Orientierung bietet. Der gedankenexperimentelle Blick auf literarische Werke lässt etwa das Austesten neuer Praxiszusammenhänge zu, wie am Beispiel der Science Fiction deutlich wird. Literatur kann hier einen regelrecht prognostischen Charakter haben, bei dem die Vorstellungskraft der Autorin hinsichtlich technischen Fortschritts sich auch realweltlich als prägend erweist. Parallel sollten allerdings die weiterbestehende ästhetische Qualität, ein unterhaltendes Moment und sprachliche Besonderheiten von fiktionaler Literatur nicht aus dem Fokus rücken. Gerade dass Fachgrenzen im Zusammentreffen von Philosophinnen und Literaturwissenschaftlerinnen überschritten wurden, ermöglichte den fruchtbaren Charakter des Tagungsdiskurses, und in der interdisziplinären Perspektive wurde von den Teilnehmenden auch die Chance des Begriffs des Gedankenexperiments gesehen: Anstelle einer befürchteten Trivialisierung literaturimmanenter Ästhetik durch einen rein propositionalen Ansatz kann Literatur als potenzielles Gedankenexperiment als fruchtbar für literaturtheoretische Perspektiven begriffen werden – es handelt sich um eine epistemisch erweiternde Zugriffsart.
[1] Einen guten Überblick über die Debatte bietet etwa Tilmann Köppe in: Tilmann Köppe, Literatur und Erkenntnis. Studien zur kognitiven Signifikanz fiktionaler literarischer Werke, in: H. Fricke/ G. Gabriel (Hg.), EXPLICATIO. Analytische Studien zur Literatur und Literaturwissenschaft, Paderborn 2008, insb. 50ff., 60ff. und 130f. [zurück]
[2] Vgl. Catherine Z. Elgin, Fiction as Thought Experiment, Perspectives on Science, 22:2 (2014), 221–241. [zurück]
[3] Friedrich Dürrenmatt, Die Physiker, Zürich 1998, 91. [zurück]
2017-09-05
JLTonline ISSN 1862-8990
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