Thomas Kater

Keine Wiederkehr des Dagewesenen. Zu Gegenwart und Potential des literarischen Werkbegriffs

Wiederkehr des Werks? Symposium zur Gegenwart des literarischen Werkbegriffs. Schloss Herrenhausen, Hannover, 21.-23. Oktober 2015.

1. Wiederkehr des Werks?

Spätestens seit den 1960er Jahren lässt sich in der Literaturwissenschaft eine Abkehr vom Werk[1] konstatieren. Die vom frühen Foucault ausgerufene »Abwesenheit eines Werkes«[2] in der Literatur wurde zu Beginn der 2000er Jahre etwa auch von Seiten der Performanztheorie bestätigt.[3] In dieser Hinsicht lässt sich durchaus von einer »Krise des Werkbegriffs«[4] sprechen. Andererseits standen Relevanz und Produktivität des Werkbegriffs andernorts, etwa in der Editionsphilologie, nicht zur Debatte.[5] Und auch im jüngeren literaturwissenschaftlichen Diskurs ist zu beobachten, dass sich der Werkbegriff wieder zu einer zentralen und produktiven Analysekategorie entwickelt, wobei nun insbesondere seine Funktionen in den Blick rücken.[6] Vor diesem Hintergrund fand vom 21. bis zum 23. Oktober 2015 im Schloss Herrenhausen (Hannover) die internationale Tagung »Wiederkehr des Werks? Symposium zur Gegenwart des literarischen Werkbegriffs« statt, die von Lutz Danneberg (Berlin), Annette Gilbert (Bielefeld/Erlangen-Nürnberg) und Carlos Spoerhase (Berlin/Philadelphia) veranstaltet wurde. Das Ziel des Symposiums bestand laut Tagungsbeschreibung darin, die »Innovationsaussichten« und das »Irritationspotential« der Werkkategorie zu untersuchen und die »Formen und Funktionen« des Werkbegriffs einer »tiefgreifenden Reflexion« zu unterziehen.

2. Formen und Funktionen des Werkbegriffs

In ihrem Einführungsvortrag plädierten Annette Gilbert und Carlos Spoerhase für die Wiederaufnahme der Debatte um den Werkbegriff und begründeten dieses Plädoyer mit dem Verweis auf die gegenwärtige literarische wie literaturwissenschaftliche Praxis. Annette Gilbert zeigte zunächst anhand von Tendenzen in der jüngeren Literatur die Herausforderungen auf, vor denen die Debatte um den Werkbegriff in der Gegenwart stehe. Diesbezüglich führte sie unfeste und ephemere Texte, die zunehmende Ausdehnung der Werkherrschaft von Autoren auf die materielle Gestaltung der Texte sowie Formen literarischer Produktion, die Kopier- und Reproduktionspraktiken beinhalten, als Beispiele an. Da diese Tendenzen genuin literarisch seien, müssten sie einer dezidiert literaturwissenschaftlichen Reflexion unterzogen werden. Daran anschließend machte Carlos Spoerhase auf die institutionelle Dimension des Werkbegriffs aufmerksam, insofern der Umgang mit Werken sowie dem Werkbegriff Rückfragen an disziplinäre Rahmenbedingungen stelle und das fachliche Selbstverständnis der Literaturwissenschaft betreffe. Damit war der praktische, theoretische und disziplinäre Hintergrund angedeutet, vor dem die Formen und Funktionen des Werkbegriffs in den Blick genommen werden sollten.

In seinem Vortrag »Die Praxis des Werks« fokussierte Steffen Martus (Berlin) die Akteure und Praktiken im Zusammenhang mit dem Werk. Für die Frage nach den Funktionen des Werkbegriffs erwies sich diese Perspektive mit Blick auf den Fortgang des Symposiums als grundlegend und produktiv. Zunächst plädierte Martus für eine Entdramatisierung der Werkkrise da die theoretische Kritik am Werkbegriff in der Praxis kaum Konsequenzen nach sich gezogen habe. Vielmehr sei es als Verdienst der Poststrukturalisten anzusehen, auf die Bezugssysteme des Werks aufmerksam gemacht zu haben. Eine eminente Rolle in diesen Bezugssystemen spielt nach Martus ein Ensemble von verschiedenen Akteuren wie Lesern, Literaturkritikern oder Wissenschaftlern, welches sich im 18. Jahrhundert etablierte und in der Folge zunehmend vernetzte. Dieses Ensemble von Akteuren übe im Hinblick auf Werke verschiedene Praktiken aus, die wiederum in sozialer, kommunikativer oder ökonomischer Hinsicht aufeinander bezogen seien. Das Werk, so Martus’ zentrale These, müsse in jenen Bezugssystemen von Akteuren und Praktiken verortet werden, welche die verschiedenen Konfigurationen und Wirkungen des Werks prägen.

Simone Winko (Göttingen) nahm in ihrem Vortrag »Werk – Text – Erzählung. Zur Analyse von Begriffen in literaturwissenschaftlichen Interpretationstexten« eine begriffsanalytische Perspektive auf die Formen des Werkbegriffs in der literaturwissenschaftlichen Praxis ein. Sie präsentierte die Ergebnisse einer empirischen Untersuchung der Verwendungsweisen des Werkbegriffs in 22 wissenschaftlichen Interpretationstexten zu Kleists Michael Kohlhaas aus den Jahren 2000 bis 2014. Die Analyse ergab, dass eine Reihe unterschiedlicher Begriffe wie der Titel (›Michael Kohlhaas‹), die Gattungsbezeichnung (›Erzählung‹) oder übergreifende Bezeichnungen wie ›Text‹, ›Werk‹, ›Schrift‹ oder ›Dichtung‹ verwendet wurden. In Bezug auf Bedeutungen und Funktionen der Begriffe konstatierte Winko, dass der Werkbegriff im Sinne von ›Kunstwerk‹ tatsächlich verschwindet, während ›Werk‹ als Sammelbezeichnung mit bündelnder Funktion, etwa im Sinn von ›Frühwerk‹, auch weiterhin verwendet wird. Als überraschend hob sie den Befund hervor, dass es dabei nicht allein der Textbegriff, sondern insbesondere der Begriff der Erzählung ist, welcher den Werkbegriff ersetzt und Bedeutungen sowie Funktionen von diesem übernimmt.

Die Relevanz der zuvor von Martus präsentierten Überlegungen zur Werkpraxis wurde anhand des Vortrages »Anonymität und (interauktoriale) Werkeinheit« von Nora Ramtke (Bochum) deutlich. Für den von Wilhelm Pustkuchen anonym veröffentlichten Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre zeigte sie zunächst, dass keine interauktoriale Werkeinheit mit Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahren generiert werden konnte. Das heißt, dass Pustkuchens Wanderjahre nicht als Fortsetzung von Goethes Werk durch einen anderen Autor akzeptiert wurde. Dennoch werde anhand dieses und ähnlicher Beispiele deutlich, so Ramtke, dass die Werkeinheit nicht auf der Objektebene zu verorten sei, sondern diskursiv verhandelt werde. Dabei könnten nicht nur peritextuelle Beglaubigungsstrategien, sondern auch Praktiken von Verlegern, die insbesondere bei anonymen Veröffentlichungen eine hervorgehobene Rolle spielen würden, als potentiell konstitutiv für die Werkeinheit betrachtet werden.

In seinem Vortrag »Werkgenesen. Anfang und Ende des Werks im Archiv« nahm Magnus Wieland (Bern) dann den Werkbegriff aus archivarischer Perspektive in den Blick und fokussierte die vielfältigen Effekte, welche das Archiv hinsichtlich der Kategorie des Werks besitzen kann. So könne das Archiv etwa eine bestimmte Werkkonstitution bestätigen und in dieser Hinsicht als Werkzeugnis fungieren. Ein Nachlass könne aber auch inKonkurrenz zum Druckwerk treten, wenn etwa Korrekturen die Werkgrenzen in Frage stellen. Andererseits könne ein Nachlass ebenso als Basis der Werkbildung oder der Vollendung des Werks dienen. Im Hinblick auf diese werkstabilisierenden, -destabilisierenden sowie -generativen Effekte des Archivs belegte Wieland, dass das Archiv einen massiven Einfluss auf das Werk besitzt und ein Nachlass nicht allein ein Werkzeugnis darstellt, sondern zum Werkerzeugnis werden kann. Die Archiveffekte stünden zudem in einer engen Beziehung zu spezifischen Autorpraktiken wie z. B. Nachlassinszenierungen. Daran anknüpfend machte Jørgen Sneis in der Diskussion auf die Relevanz von derartigen Archiveffekten für die Interpretation von Werken aufmerksam.

Einen konstruktiven Vorschlag zur Bestimmung des Werkbegriffs stellte Werner Wolf (Graz) zur Diskussion. In seinem Vortrag »›Du texte à l’oeuvre‹? – Zur Sinnhaftigkeit der Restauration bzw. Weiterverwendung des Werkbegriffs als eines zentralen Konzeptes nicht nur der Literaturwissenschaft« versuchte er zunächst insbesondere die von poststrukturalistischer Seite in den 1960er und 1970er Jahren hervorgebrachten Einwände gegen den Werkbegriff zu entkräften, um dann für die Aufrechterhaltung und Weiterverwendung des Werkbegriffs in einer moderaten, dynamischen Form zu plädieren. Eine solche sinnvolle Weiterverwendungsmöglichkeit sah Wolf in einem an der Prototypensemantik orientierten Werkbegriff, mit welchem das Werk als ›kognitiver Rahmen‹ mit bis zu einem gewissen Grad variablen Merkmalen aufgefasst werden könne. Etwaige Nachteile eines solchen Begriffs würden durch dessen Vorteile, die u. a. in seiner Flexibilität sowie seiner Aufrechterhaltung des Respekts vor künstlerischen Artefakten lägen, aufgewogen. Im Fokus der anschließenden Diskussion stand vornehmlich die Frage, inwieweit das Konzept der Prototypentheorie eine tragfähige Basis für einen solchen Werkbegriff darstellen könne.

In der ersten Keynote des Symposiums mit dem Titel »How to Complete a Work? The Creative Working Process in the Arts« nahm Pierre-Michel Menger (Paris) wiederum Praktiken und Akteure im Zusammenhang mit dem Werk in den Blick. Im Zentrum stand dabei der Prozess der kreativen Arbeit. Aus soziologischer Perspektive versuchte Menger u. a. aufzuzeigen, dass nicht allein das fertige künstlerische Produkt, sondern auch die im Rahmen der Werkgenese aufgewendete kreative Arbeit entscheidenden Einfluss auf die Bewertung von Kunstwerken besitzt. Zudem seien es gerade unvollständige Werke, die der Analyse einen privilegierten Zugang zur Praxis kreativer Arbeit bieten würden. So würden etwa anhand verschiedener Vervollständigungspraktiken von Herausgebern, Verlegern, Autorenkollegen etc. nicht nur sekundäre Akteure der Werkproduktion, sondern auch verschiedene Umgangsweisen mit dem Werk sichtbar. Werke könnten daher als unvorhersehbare und notwendige Resultate einer Vielzahl von Entscheidungen und Praktiken verschiedener, z. T. sekundärer Akteure aufgefasst werden.

Andrea Polaschegg (Berlin) fokussierte in ihrem Vortrag »Der Gegenstand im Kopf. Zur mentalistischen Erbschaft des literarischen Werkmodells auf dem Sparbuch wissenschaftlicher Objektivität« weder die Funktionen des Werkbegriffs noch dessen begriffliche Form, sondern suchte Konzeptionen und Präsuppositionen offenzulegen, die dem Werk- bzw. dem Textbegriff zugrunde liegen. Dabei vertrat sie die These, dass ›Werk‹ und ›Text‹ – ungeachtet ihrer Gegensätzlichkeit auf begrifflicher Ebene – in konzeptueller Hinsicht Übereinstimmungen aufweisen. In ihrer historischen Argumentation verwies Polaschegg auf eine ab dem 18. Jahrhundert einsetzende Pendelbewegung zwischen zwei Konzeptualisierungen des Werks, nämlich einerseits dem Werk als Prozess, andererseits dem Werk als simultan wahrnehmbarem Ganzen. Davon habe sich schließlich die Ganzheitskonzeption des Werks mit ihren ontologischen Implikationen durchgesetzt und werde nun in der Literaturwissenschaft häufig präsupponiert. Als Beispiel führte Polaschegg diesbezüglich den Strukturalismus an, dessen Werkkonzept u. a. die simultane Wahrnehmung einer strukturellen Ganzheit voraussetzt.

In seinem Vortrag »Werk – Text – Artefakt. Mediävistische Perspektiven« machte Ludger Lieb (Heidelberg) zunächst auf das Dilemma mediävistischer Forschung aufmerksam, den Werkbegriff einerseits systematisch durch den Textbegriff zu ersetzen, um dem literarischen Gegenstand als Prozess verschiedener Überlieferungs- und Editionspraktiken gerecht zu werden, andererseits im wissenschaftlichen Umgang mit dem literarischen Gegenstand doch immer schon ein Werkganzes vorauszusetzen. Lieb schlug vor, stattdessen von einem ›literarischen Komplex‹ zu sprechen, der ›Text‹, ›Artefakt‹, ›Vortrag‹ und ›Werk‹ gleichermaßen umfasst. Im Hinblick auf die einzelnen Konstituenten des literarischen Komplexes könne zwischen dem Begriff (z. B. ›Text‹) und seinem Inhalt (z. B. bedeutungstragende Zeichenfolge) sowie je spezifischen Rollen (z. B. Verfasser, Leser) und Praktiken (z. B. reimen, erzählen) der Akteure differenziert werden. Mit Hilfe der Matrix des literarischen Komplexes, so Lieb, lasse sich eine Vielzahl mittelalterlicher Konzeptualisierungen des Werks fassen. In der Diskussion wurde gerade die Differenzierung zwischen Rollen und Praktiken der Akteure als produktiv hervorgehoben.

In seinem anschließenden Vortrag »(Lese-)Drama als Werk« nahm Dirk Niefanger (Erlangen-Nürnberg) das Verhältnis von Werk und Rezeption in den Blick. Dass das Lesen neben der Aufführung seit der frühen Neuzeit eine entscheidende Rezeptionspraxis darstellte und Dramen häufig als Lesetexte und nicht als Spielvorgaben überliefert wurden und werden, spreche gegen die Auffassung, dass ein Drama erst durch die Aufführung vollendet werde. Deshalb formulierte Niefanger die These, dass das Lesedrama einen eigenen Werkcharakter besitzt, der sich durch zusätzliche, vom Aufführungsdrama verschiedene, ästhetische Werte auszeichnet. Diese bestünden z. B. in uninszenierbaren Vorgaben sowie in bewusst eingesetzten Buchgestaltungen. Das Lesedrama stelle ein Werk dar, dem als sinnkonstituierendem, ästhetisch wirkendem Ganzen verschiedene Elemente (wie etwa Haupttext, Nebentext, Paratext oder Illustrationen) zugehören, die sich nach Niefanger auf drei Ebenen verorten lassen, nämlich auf diegetischer, bühnendiegetischer sowie auf materieller Ebene.

Claudia Stockinger (Göttingen) fragte in ihrem Vortrag »Das Werk in Serie? Werkförmigkeit unter den Bedingungen von Populärkultur«, inwieweit Serien als werkförmig aufgefasst werden können. Am Beispiel von u. a. The Wire und Tatort argumentierte sie dafür, dass Serien zwar keine inhärente Werkförmigkeit besäßen, sie jedoch als werkförmig und mithin als Werke beurteilt werden können (und es auch zunehmend werden). Als Bedingung für die Werkförmigkeit von Serien machte Stockinger daher den Umgang mit Serien aus, d.h. spezifische Praktiken von Produzenten, Zuschauern, Kritikern oder Wissenschaftlern. Es müsse zudem eine wechselseitige Bereitschaft von Produzenten und Rezipienten bestehen, die Serie als werkförmig aufzufassen. Bei The Wire sei diese z. B. gegeben, denn zum einen würden die Produzenten die Serie werkförmig inszenieren, zum anderen besäßen die Zuschauer ein ›Werkbegehren‹. Die Merkmale für Werkförmigkeit (wie ›Kohärenz‹ und ›Abgeschlossenheit‹) blieben dabei relativ stabil. Indes seien hinsichtlich der Frage nach der Werkförmigkeit auch die verschiedenen Ebenen von Serien (Einzelfolge, Staffel, Gesamtserie) sowie Eigenheiten des Mediums zu beachten.

Nicht um das Medium des Werks, sondern um Medium und Methoden der Analyse des Werks ging es im Vortrag »Werk und Struktur aus der Perspektive einer quantitativen Literaturwissenschaft« von Fotis Jannidis (Würzburg). Jannidis bestimmte zunächst das Werk aus heuristischen Gründen als organisierte, strukturelle Einheit. Anschließend gab er Einblicke in Forschung und Methoden einer quantitativen Literaturwissenschaft und lotete ihre Potentiale aus. Unter anderem zeigte er, wie mit Hilfe der Latent-Dirichlet-Allocation-Methode (LDA-Methode) – einem generativen Wahrscheinlichkeitsmodell u. a. für Textkorpora – bestimmte Strukturen von literarischen Texten sichtbar gemacht werden können. Auf der Grundlage solcher Ergebnisse könne dann aufgezeigt werden, dass sich z. B. die Annahme der Existenz von gattungsspezifischen Figurenkonstellationen empirisch nicht halten lasse. Doch quantitative Verfahren besäßen nicht nur das Potential, im literaturwissenschaftlichen Diskurs bisher Vorausgesetztes kritisch zu reflektieren, sondern auch große Datenmengen zu untersuchen und bisher vernachlässigte Werke und ihre Themen sichtbar und für weitere literaturwissenschaftliche Analysen zugänglich zu machen.

Katrin Kohl und Alexander Starre rückten den Blick von der Medialität des Werks und seiner Analyse auf dessen Metaphorik und Materialität. Katrin Kohl (Oxford) fokussierte die metaphorischen Formen des Werks und deren Funktionen. In ihrem Vortrag »Das Werk im Beiwerk: Metaphorische Konfigurationen des Werkbegriffs in Paratexten« stellte sie zunächst die zwei auch in der Alltagssprache in Spannung stehenden Bedeutungsdimensionen des Werkbegriffs heraus, einerseits die statische Auffassung vom Werk als Produkt, andererseits die Vorstellung vom Werk als Arbeitsprozess, und plädierte für die Berücksichtigung beider Dimensionen. Dann wies sie anhand von Beispielen metaphorische Konfigurationen des Werkbegriffs in Paratexten auf, wobei sie insbesondere deren Konkretheit hervorhob. In diesen Konfigurationen, so die These Kohls, werden Metaphern des Werks von Autoren bereits in einer bestimmten Funktion gebraucht. Insgesamt würden Paratexte einen ertragreichen Untersuchungsgegenstand darstellen, um anhand von metaphorischen Konfigurationen des Werks Rückschlüsse auf die zugrunde liegenden Werkkonzeptionen ziehen zu können. In seinem anschließenden Vortrag »Buchwerke: Paratext und post-digitale Materialität in der amerikanischen Gegenwartsliteratur« argumentierte Alexander Starre (Berlin) ebenfalls mit Bezug auf Paratexte für zweierlei: Zum einen gewinne gerade unter den Bedingungen der Digitalisierung die Materialität von Werken an Bedeutung. So können materielle Aspekte wie etwa die Typographie als werkkonstitutive Merkmale aufgefasst werden, weshalb vom ›Buchwerk‹ gesprochen werden könne. Zum anderen stehe ein solches Werkkonzept in Wechselwirkung zu anderen literaturwissenschaftlichen Grundbegriffen. So könne im Hinblick auf das ›Buchwerk‹ zudem vom ›bibliographischen Autor‹ gesprochen werden, einem Autorschaftsmodell, nach dem der Autor seine Urheberschaft auch auf die materielle Gestaltung des Buches ausdehnt. Ein derartiger materieller Werkbegriff besitze zudem Konsequenzen für den Literaturbegriff, denn im ›Buchwerk‹, so Starre, sind nicht allein die sprachliche Form und ihr Inhalt potentielle Merkmale der Literarizität, sondern darüber hinaus auch die materielle Gestaltung.

In der zweiten Keynote des Symposiums »The Work-Concept: The Question of its Contemporary Relevance Across the Different Arts« kritisierte Lydia Goehr (New York) zunächst den Werkbegriff der analytischen Philosophie als einseitig ontologisch. An Stelle der Ontologie des Werks müssten vielmehr die werkkonstitutiven Praktiken reflektiert werden. Goehr schlug deshalb vor, den Werkbegriff als ›dichten‹, regulativen Begriff aufzufassen. Zudem sei dessen Historizität zu reflektieren, denn der Werkbegriff habe sich erst seit dem 18. Jahrhundert als Ergebnis spezifischer sozialer, analytischer sowie ästhetischer Praktiken etabliert. Im Anschluss plädierte sie dafür, die mit ästhetischen Objekten einhergehenden Praktiken aus einer soziologischen Perspektive zu untersuchen, und zwar insbesondere die normativen Implikationen des Werkbegriffs sowie die mit ihm einhergehenden Machtpraktiken.

Ein weiteres Untersuchungsfeld wurde von Olav Krämer und Jørgen Sneis in den Blick gerückt, indem sie die Rolle des Werkbegriffs für die Interpretationstheorie thematisierten. Olav Krämer (Freiburg) stellte in seinem Vortrag »Werkbegriff und intentionalistisches Interpretieren« die Frage, ob mit der Etablierung des neohermeneutischen Intentionalismus in der analytischen Literaturtheorie eine Konsolidierung des Werkbegriffs einhergehe. Dazu fokussierte er sowohl den hypothetischen als auch den faktischen Intentionalismus und wies auf, dass diese Positionen trotz ihrer z. B. bedeutungstheoretischen Differenzen einen grundsätzlich ähnlichen Werkbegriff besitzen und das Werk als sprachliche Äußerung (utterance) auffassen. Die gegen den Intentionalismus vorgebrachte und z. T. gerechtfertigte Kritik könne indes nicht die grundlegende These vom Werk als einer sprachlichen Äußerung in Frage stellen. Allerdings sei es nötig, das intentionalistische Modell im Hinblick auf die Interpretationspraxis zu konkretisieren. Dabei seien besonders die im Symposium diskutierten Aspekte der Materialität des Werks sowie dessen verschiedene Akteure/Äußerungsinstanzen zu fokussieren. In der Diskussion wurde deutlich, dass auch im intentionalistischen Werkbegriff die Spannung zwischen dem Werk als Objekt und Prozess in Form der Ambiguität von utterance wiederkehrt. Im Anschluss betrachtete Jørgen Sneis (Stuttgart) das Werk in seinem Vortrag »Das ›Leben‹ des Werks« zunächst als wirkungsgeschichtliche Kategorie. Mit Bezug auf die Theorien von Roman Ingarden, René Wellek und Eric D. Hirsch arbeitete er aus historischer Perspektive anhand der Metapher vom ›Leben des Werks‹ die Beziehung von Werkbegriff und Interpretation heraus. In systematischer Hinsicht konzedierte Sneis, dass Werk- und Textbegriff zwar koextensiv aufzufassen seien, betonte jedoch, dass sich das Werk durch seine Kontextsensitivität auszeichne. Insofern müsse zwischen einer stabilen Textbedeutung (Satzbedeutung) und einer kontextsensitiven Werkbedeutung (Äußerungsbedeutung) differenziert werden. Darüber hinaus sei der Werkstatus eines Texts als Resultat von Wertungspraktiken aufzufassen, die einen Text als Interpretationsgegenstand in besonderer Weise auszeichneten. Der Werkbegriff spiele daher für die Interpretationspraxis eine wichtige Rolle, indem er zum einen den Interpretationsgegenstand als einen besonderen auszeichne und damit zum anderen eine spezifische Bedeutungsart in den Blick der Interpretation rücke.

Wie Pierre-Michel Menger in seiner Keynote das Erklärungspotential unabgeschlossener Werke für den Prozess kreativer Arbeit betonte, so nutzte Andrea Albrecht (Stuttgart) Werke mit eingeschränktem Werkstatus, um Rückschlüsse auf den Werkbegriff und die mit diesem einhergehenden Praktiken zu ziehen. In ihrem Vortrag »›Die wirklich groß geplanten / Sind unfertig.‹ Werke mit eingeschränktem Werkstatus« formulierte sie unter Rückgriff auf Texte von Georg Lukács, Thomas Mann und Bertolt Brecht die These, dass die Zu- und Aberkennung des Werkstatus sowohl von den jeweiligen Disziplinen und ihren spezifischen Normen als auch von den jeweiligen Textsorten der in Frage stehenden Kandidaten abhängig sei. Darüber hinaus seien die Zuschreibungen des Werkstatus pragmatisch orientiert, mithin werde der Werkbegriff jeweils für bestimmte Zwecke genutzt. Auch werde an Texten mit eingeschränktem Werkstatus deutlich, dass die Zuschreibungen gradueller Art sind. In Anbetracht der Ergebnisse betonte Albrecht, dass sich nicht allein und vornehmlich die Frage stelle, was ein Werk sei, vielmehr sei zu fragen, welche Funktionen der Werkbegriff besitze.

3. Zum Potential des Werkbegriffs: Tendenzen und Perspektiven

Die Beiträge der Tagung haben deutlich gemacht, dass die Kategorie des Werks – wenn auch in verschiedenen Formen – stets ›da gewesen‹ ist und insofern keine ›Wiederkehr des Werks‹ zu konstatieren ist. Bestimmte Bedeutungsdimensionen von ›Werk‹ (z. B. ›Gesamtwerk‹) sind ebenso wie bestimmte Werkkonzeptionen und damit einhergehende Präsuppositionen stabil geblieben. Im Hinblick auf die Bedeutung von ›Werk‹ im Sinne von ›Kunstwerk‹ sind indes tatsächlich begriffliche Veränderungen zu beobachten. Doch hier ist nicht von einem Bedeutungsverlust, sondern von semantischen sowie funktionalen Verschiebungen zu sprechen, und damit von verschiedenen Konfigurationen des Werkbegriffs.

Vor diesem Hintergrund betonten die Beitragenden die Notwendigkeit einer Reflexion der Begriffsbildung und Begriffsverwendung: Der Werkbegriff muss im Zusammenhang mit weiteren Grundbegriffen der Literaturwissenschaft sowie unter Berücksichtigung seiner Kontextabhängigkeit expliziert werden. Hier ist die Diversität des Fachs zu berücksichtigen und nach den jeweiligen spezifischen Erkenntnisinteressen und Zwecken in Bezug auf die Konfiguration und den Gebrauch des Werkbegriffs zu fragen. Statt einer übergreifenden, allgemeinen Explikation des Werkbegriffs wurde in der Mehrzahl der Beiträge für spezifische Explikationen des Begriffs plädiert, die bezüglich ihres Verhältnisses zueinander reflektiert werden müssen. Dabei ist auch der Prozesscharakter des Werks in den Blick zu nehmen. Zudem wird die pragmatische Dimension des Werkbegriffs weiter zu untersuchen sein, denn es haben sich insbesondere Fragen nach den Funktionen des Werkbegriffs als produktiv erwiesen. Das Werk kann in einem Beziehungsgeflecht zwischen Akteuren verortet werden, und deren Rollen und Praktiken gilt es nicht nur aus literaturwissenschaftlicher, sondern auch aus soziologischer Perspektive weiter zu analysieren. Aus phänomenaler Perspektive rückte gerade vor dem Hintergrund der Digitalisierung die Materialität des Werks in den Blick, wobei insbesondere deren ästhetische und interpretationstheoretische Relevanz genauer zu untersuchen bleibt.

Auf der Tagung »Wiederkehr des Werks? Symposium zur Gegenwart des literarischen Werkbegriffs« wurde ein vieldimensionales Leistungsspektrum des Werkbegriffs aufgezeigt und das Werk auch – und insbesondere – für die Gegenwart als eine relevante und produktive Kategorie der Literaturwissenschaft ausgewiesen. Es liegt nun an dieser, die neuen, zeitgemäßen Perspektiven auf das Werk einzunehmen und sich ›ans Werk‹ zu machen.

Notes

[1] Vgl. dazu Roland Barthes’ programmatischen Aufsatz „Vom Werk zum Text“ in: Roland Barthes, Das Rauschen der Sprache. (Kritische Essays IV), Frankfurt a. M. 2006, 64-72. []

[2] Michel Foucault, Der Wahnsinn, Abwesenheit eines Werkes, in: Daniel Defert/François Ewald (Hg.), Michel Foucault. Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Bd. 1 1954-1969, Frankfurt a. M. 2001, 539-550. []

[3] Vgl. u. a. Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004. []

[4] Wolfgang Thierse, „Das Ganze aber ist das, was Anfang, Mitte und Ende hat.“ Problemgeschichtliche Beobachtungen zur Geschichte des Werkbegriffs, in: Karlheinz Barck/Martin Fontius/Wolfgang Thierse (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Studien zu einem historischen Wörterbuch, Berlin 1990, 378-414, 407. []

[5] Vgl. u. a. Siegfried Scheibe/Christel Laufer (Hg.), Zu Werk und Text. Beiträge zur Textologie, Berlin 1991. []

[6] Vgl. Steffen Martus, Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George, Berlin/New York 2007, Carlos Spoerhase, Was ist ein Werk? Über philologische Werkfunktionen, Scientia Poetica 11 (2007), 276-344, Annette Gilbert, Unter ‚L‘ oder ‚F‘? Überlegungen zur Werkidentität bei literarischen Werken, in: Annette Gilbert (Hg.), Wiederaufgelegt. Zur Appropriation von Texten und Büchern in Büchern, Bielefeld 2012, 67-85. []

2016-03-08

JLTonline ISSN 1862-8990

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