Jørgen Sneis

Möglichkeiten der Rechtfertigung von Interpretationshypothesen

Die hypothetisch-deduktive Methode in der Literaturinterpretation: Probleme und Perspektiven. Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS), Universität Freiburg, 9.–10.10.2014.

Die leitende Fragestellung des von Tilmann Köppe (Göttingen) und Olav Krämer (Freiburg) organisierten und teils vom Freiburg Institute for Advanced Studies, teils vom Göttinger Courant-Forschungszentrum »Textstrukturen« finanzierten Workshops betraf das literaturwissenschaftliche Grundproblem eines regelgeleiteten Verfahrens der Bedeutungszuschreibung an einen Text. Dabei stand zur Diskussion, inwieweit solche Bedeutungszuschreibungen als Hypothesen aufzufassen sind, die nach dem Muster der sogenannten hypothetisch-deduktiven Methode begründet werden können.[1] Die hypothetisch-deduktive Methode, die in der Wissenschaftstheorie des 20. Jahrhunderts vielfach als die Standardmethode der Naturwissenschaften bzw. der empirischen Wissenschaften beschrieben worden ist, besteht – kurz gefasst – darin, dass aus einer Hypothese (und ggf. bestimmten Zusatzannahmen) Konsequenzen abgeleitet werden, die anhand beobachtbarer Daten überprüft werden können. So reagiert die hypothetisch-deduktive Methode unter anderem auf das Problem, wie man eine Hypothese über einen Sachverhalt begründet, der sich einer unmittelbaren Überprüfung entzieht. In der allgemeinen Wissenschaftstheorie ist, wie auch die Veranstalter im Exposé zur Tagung bemerken, vereinzelt die These aufgestellt worden, dass die hypothetisch-deduktive Methode als ein disziplinenübergreifendes Verfahren der Rechtfertigung von gegenstandsbezogenen Hypothesen anzusehen sei. Diese wissenschaftstheoretische Annahme wurde in der Literaturwissenschaft vor allem in den 1970er Jahren im Zuge der Verwissenschaftlichungsbestrebungen der Disziplin diskutiert; eine umfassende Explikation fehle jedoch bis heute. Der Workshop nahm sich dieses Desiderats an und setzte so einen systematischen Schwerpunkt; daneben sollte die These, dass das Interpretieren literarischer Texte als eine Anwendung der hypothetisch-deduktiven Methode angesehen werden könne, aber auch aus einer wissenschaftshistorischen Perspektive reflektiert werden.[2]

Nach einer Einführung von Tilmann Köppe, in der er die hypothetisch-deduktive Methode aus wissenschaftstheoretischer Perspektive erläuterte, auf einige problematische Aspekte hinwies und zur Literaturinterpretation in Beziehung setzte, verglich Oliver R. Scholz (Münster) im Eröffnungsvortrag »Die hypothetisch-deduktive Methode und der Schluss auf die beste Erklärung – ein Vergleich« die hypothetisch-deduktive Methode mit der Methode des Schlusses auf die beste Erklärung und sprach sich dabei für letztere aus. Die beiden Methoden wurden im Hinblick auf die Beziehung von Hypothesen und Daten kontrastiert. In diesem Zusammenhang hob Scholz ein schwer zu behebendes Relevanzproblem der hypothetisch-deduktiven Methode hervor: Aufgrund ihrer inhaltlichen Unbestimmtheit bzw. der bloß formalen Gültigkeit des Schlusses sei die hypothetisch-deduktive Methode zu permissiv und ohne eine tiefgreifende Modifikation zu einer tatsächlichen Überprüfung von Hypothesen nicht tauglich. Problematisch sei unter anderem, dass der deduktive Schluss monoton ist, d.h. dass das formal gültige Argument auch dann gültig bleibt, wenn weitere Prämissen hinzugenommen werden. Im Gegensatz dazu etabliere der Schluss auf die beste Erklärung – ein komplexes induktives Verfahren, das die Kohärenz unseres gesamten Überzeugungssystems nicht unberücksichtigt lasse – eine inhaltlich-erklärende Beziehung zwischen Daten und Hypothesen. Der Schluss auf die beste Erklärung erfolge zwar nicht zwingend (wie der deduktive Schluss), habe aber unter anderem den Vorteil, gegenüber neuen Beobachtungen sensibel zu sein. Auch wenn der Fokus im Eröffnungsvortrag auf wissenschaftlicher Methodik im Allgemeinen und nicht auf einer spezifisch philologischen Methode lag, vertrat Scholz ausdrücklich die Meinung, dass die Methode des Schlusses auf die beste Erklärung auch in der Literaturwissenschaft vielversprechend sei. Er betonte jedoch, dass diese Methode noch einer Ausarbeitung bedürfe. So setze sie etwa eine Theorie der Erklärung sowie eine Theorie der Güte von Erklärungen voraus.

Gerade um Erklärungen ging es in dem Vortrag »Narrative Erklärung« von Tobias Klauk (Göttingen). In Auseinandersetzung mit der Forschung ging Klauk der Frage nach, ob es Erklärungen gibt, die ihre Erklärungskraft daraus beziehen, dass sie narrativ sind. Dabei wurden zunächst verschiedene Problemkomplexe isoliert und expliziert; dann wurde das Konzept der narrativen Erklärung durch eine systematische Erörterung einzelner Begriffe und Teilprobleme einer Kritik unterzogen. Im Rekurs auf Bas van Fraassens Modell einer wissenschaftlichen Erklärung präzisierte Klauk die Eingangsfrage dahingehend, inwiefern es eine bestimmte (erklärende) Relevanzrelation gebe, welche die typischen bzw. definierenden Eigenschaften von Erzählungen aufweist und Fälle abdeckt, die von anderen Kandidaten einer solchen Relevanzrelation nicht abgedeckt werden. Als typische bzw. definierende Eigenschaften von Narrativität wurden Sequentialität, sinnhafter Zusammenhang und dramatische Struktur mit emotionaler Signifikanz besprochen und daraufhin überprüft, ob sie eine solche Relevanzrelation stiften, also zur Erklärungskraft einer Narration beitragen können. Schließlich kam Klauk zu dem Ergebnis, dass es streng genommen keine Narrationen gebe, die allein aufgrund ihrer Narrativität erklärend sind. Die Motivation für die Annahme, dass es narrative Erklärungen gebe, speise sich wohl aus der Unzufriedenheit mit anderen Theorien oder auch daraus, dass die Erzählform oft offen zutage liegt; ferner scheine die Narrativität bestimmte Bereiche wie intentionales Verhalten, Token-Ereignisse und seltene bzw. nicht vorhersagbare Ereignisse gut abzudecken. Das Konzept könne aber einer kritischen Überprüfung nicht standhalten.

In seinem Vortrag »Zur Logik der Literaturinterpretation« wandte sich Christian Folde (Hamburg) dann dem Kernthema des Workshops zu: Nach einigen einleitenden Bemerkungen zum Hermeneutik- und Methodenbegriff ging er unter besonderer Berücksichtigung der Interpretation von literarischen bzw. fiktionalen Texten auf die von Heide Göttner, Dagfinn Føllesdal und anderen geäußerte Behauptung ein, die hermeneutische Methode sei lediglich die auf Texte angewandte hypothetisch-deduktive Methode. Auf eine Rekonstruktion der hypothetisch-deduktiven Methode folgte eine generelle Kritik. Folde hob dabei als Kritikpunkt besonders hervor, dass es fraglich sei, ob eine einzelne Methode der Vielzahl von möglichen Interpretationszielen gerecht zu werden vermag. In diesem Zusammenhang ging er dann auf die Interpretation als argumentierende Textsorte sowie die Form von Argumenten ein. Eine von Harald Fricke in den 1990er Jahren gestellte Diagnose aufgreifend merkte Folde an, dass die Argumentation in literaturwissenschaftlichen Texten nicht selten defizitär bzw. intransparent, begrifflich unscharf und enthymematisch sei. Dies falle dann zu Ungunsten ihrer Überprüfbarkeit und Kritisierbarkeit wie auch ihrer Überzeugungskraft aus.

Im Anschluss auf die im Tagungsexposé aufgeworfene Frage, was in der Literaturinterpretation überhaupt als Daten – an denen der hypothetisch-deduktiven Methode zufolge die Güte von Hypothesen doch letztlich zu messen sei – angesehen werden könne, ging schließlich Andrea Albrecht (Stuttgart) in ihrem Vortrag »Textbeobachtungen und Textbeschreibungen« der literaturwissenschaftlichen Textbeschreibung nach und untersuchte die Formen und Funktionen wie auch den epistemischen Status der Beschreibung anhand zweier Beispiele, nämlich einer Eichendorff-Interpretation von Oskar Seidlin aus den 1950er Jahren und der Kontroverse um Mörikes Gedicht Auf eine Lampe zwischen Emil Staiger und Martin Heidegger. Albrecht grenzte dabei das Beschreiben von anderen Praktiken wie Paraphrasieren und Interpretieren ab, wies aber gleichzeitig ausdrücklich darauf hin, dass das Leistungsspektrum einer literaturwissenschaftlichen Textbeschreibung von der geltenden Wissenschaftsauffassung bzw. von der gegebenen epistemischen Situation[3] abhängig bleibe; die Beschreibung sei in diesem Sinne im Zusammenhang mit einem Problemlösungsversuch in einem pragmatisch komplexen Kontext zu betrachten. Fragt man, so Albrecht, statt nach normativer Richtigkeit nach konventionalisierten, historisch etablierten literaturwissenschaftlichen Verfahrensweisen – und darunter zähle auch das hypothetisch-deduktive Schließen und die Überprüfung an beschriebenen Daten –, so müsse man sich auf eine praxeologische Rekonstruktion dieser Verfahrensweisen einlassen.

In der Diskussion erwiesen sich einige Problemkomplexe als besonders klärungsbedürftig und wurden auch im Laufe des Workshops mehrfach aufgegriffen – so etwa die Frage, was man in der Literaturwissenschaft als Daten zu betrachten habe und wie die Datengewinnung vor sich gehe. Diese Frage sei, wie Oliver R. Scholz im Anschluss an den Vortrag von Andrea Albrecht anmerkte, unter anderem deshalb so prekär, weil die Beschreibung von Texten nicht deutungsneutral, sondern gegenüber theoretischen Vorannahmen durchaus empfindlich sei. Dabei sei grundsätzlich in Zweifel zu ziehen, ob die von Dagfinn Føllesdal vertretene These, dass der Literaturwissenschaftler – anders als der Naturwissenschaftler – über eine endliche Menge von Daten verfüge, überhaupt zutrifft. Zu beachten sei ferner eine für fiktionale Texte charakteristische Unterbestimmtheit der Daten. Mit einem vergleichenden Seitenblick auf die Naturwissenschaften bzw. auf die experimentierenden Wissenschaften problematisierten Olav Krämer und Andrea Albrecht hinsichtlich der Rechtfertigung von Hypothesen auf der einen und der Bewertung von Interpretationen auf der anderen Seite das Verhältnis der hypothetisch-deduktiven Methode zur Interpretation als Handlung wie auch zur Interpretation als Text, also zum Ergebnis dieser Handlung. Anders als in den experimentierenden Wissenschaften, wie etwa in der Chemie, wo zwischen dem Experiment im Labor und der Darstellung der Ergebnisse relativ klar unterschieden werden könne, lasse sich in der Literaturwissenschaft meist nur die Argumentationsstruktur des fertigen Textes beobachten, dessen Gegenstand wiederum andere Texte seien. In Bezug auf die Rechtfertigung von Interpretationshypothesen hoben dabei Tilmann Köppe und Oliver R. Scholz den grundsätzlichen Unterschied zwischen der Beschreibung und der rationalen Rekonstruktion von Interpretationshandlungen wie auch den Unterschied zwischen Entdeckungs- und Begründungszusammenhang hervor.

Einige von den intensiver diskutierten Fragen nahmen ihren Ausgangspunkt in einem von Tilmann Köppe referierten Beispiel, nämlich der Interpretationshypothese, dass eine bestimmte Figur in Henrik Ibsens Drama Peer Gynt als Ibsen selbst zu identifizieren sei.[4] So bemerkte etwa Tobias Klauk, dass diese spezifische Hypothese eine Reihe von höchst problematischen und überdies unscharf konturierten Annahmen über die Identität einer fiktiven Figur und eines realen Menschen voraussetze. Hieran knüpfte sich eine allgemeinere Diskussion, ob eine Deduktion mit Prämissen, von denen einige Fiktionsoperatoren enthalten, andere dagegen nicht, überhaupt möglich sei. Christian Folde wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass eine Ausgangshypothese wie die oben genannte unter bestimmten Bedingungen prinzipiell annehmbar sei und dass der deduktive Schluss durchaus zulässig sein könne; eine sachhaltige Kritik an der hypothetisch-deduktiven Methode dürfe dies bei allen Schwierigkeiten nicht unterschlagen. Olav Krämer lenkte die Aufmerksamkeit auf die Verwendung von bereichsspezifischen, nicht-strengen Schlussregeln und fragte auch, wie weit eine Aufweichung der hypothetisch-deduktiven Methode gehen könnte, ohne die Identität oder den rationalen Kern der Methode preiszugeben. Zu diesem Problemkomplex bemerkte Oliver R. Scholz, teils in seinem Vortrag, teils in der Diskussion, dass die hypothetisch-deduktive Methode, wie sie von Dagfinn Føllesdal und anderen beschrieben wird, sich streng genommen nicht auf die Deduktion von beobachtbaren Konsequenzen aus einer Hypothese beschränke: Vor allem die vergleichende epistemische Bewertung von konkurrierenden Hypothesen gehe darüber hinaus und die Auszeichnung einer Hypothese stelle eigentlich einen zweiten Schluss dar, der keineswegs zwingend sei.

Nicht nur die Vorträge, sondern auch die Diskussionen machten insgesamt deutlich, dass die hypothetisch-deduktive Methode im Allgemeinen wie auch ihre Anwendung in der Literaturwissenschaft im Besonderen mit einer Reihe von Problemen behaftet ist. Dass diese Methode nicht unproblematisch ist, hätten auch schon längst, wie Christian Folde in seinem Vortrag anmerkte, verschiedene Debatten in der allgemeinen Wissenschaftstheorie gezeigt. In diesem Sinne äußerte Tobias Klauk starke Vorbehalte dagegen, in der hypothetisch-deduktiven Methode die wissenschaftliche Methode schlechthin zu sehen, betonte aber gleichzeitig, dass sie als eine Methode unter anderen durchaus ihre Berechtigung haben könnte. Jenseits der Frage, ob man als Literaturwissenschaftler die hypothetisch-deduktive Methode nun anzunehmen oder zu verwerfen habe, ließen sich jedenfalls, wie Olav Krämer in der Abschlussdiskussion bilanzierte, fruchtbare Einzelfragen wissenschaftstheoretischer Art anhand der Diskussion dieser Methode herausarbeiten.

Eine Publikation der Beiträge ist von den Veranstaltern geplant.

Anmerkungen

[1] Vgl. dazu das Exposé zum Workshop: https://www.frias.uni-freiburg.de/de/veranstaltungen/veranstaltungen-aktuell/workshop-die-hypothetisch-deduktive-methode-in-der-literaturinterpretation-probleme-und-perspektiven (zuletzt eingesehen am 26.10.2014). [zurück]

[2] Vgl. ebd. [zurück]

[3] Albrecht rekurrierte mit diesem Begriff auf Lutz Danneberg: Epistemische Situationen, kognitive Asymmetrien und kontrafaktische Imaginationen, in: Lutz Raphael/Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.), Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. Exempel einer neuen Geistesgeschichte, München 2006, S. 193–221. [zurück]

[4] Dieses Beispiel stammt aus Dagfinn Føllesdal/Lars Walløe/Jon Elster, Rationale Argumentation. Ein Grundkurs in Argumentations- und Wissenschaftstheorie, dt. bearbeitet von Matthias Kaiser und Georg Meggle, Berlin 1988, S. 107–115. Føllesdal, Walløe und Elster rekonstruieren hier fünf Interpretationshypothesen zu Ibsens Drama nach dem Muster der hypothetisch-deduktiven Methode. Siehe auch Dagfinn Føllesdal: Hermeneutics and the Hypothetic-Deductive Method, in: Dialectica 33 (1979), S. 319-336, bes. 322–328. [zurück]

2015-02-02

JLTonline ISSN 1862-8990

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