Thomas Petraschka

Die Interpretation von literarischen Texten

Zu den Grundlagen des Kerngeschäfts philologischer Hermeneutik

Literatur interpretieren. Begriffliche, evaluative und fachkulturelle Aspekte. Georg-August-Universität Göttingen, 07.–08.03.2013.

Da die Interpretation von Texten als Kerngeschäft einer ganzen Reihe von geisteswissenschaftlichen Disziplinen zu gelten hat, ist auch die Reflexion ihrer theoretischen Grundlagen als Aufgabe eben dieser Disziplinen zu verstehen. Dieser allgemeine Anspruch lässt sich im Hinblick auf die aktuelle Forschungslage in mehrerlei Hinsicht konkretisieren. Neben einer Diskussion methodologischer Rahmenbedingungen der Textinterpretation, die an der rationalen Beschreibung und Rekonstruktion des textwissenschaftlichen Verfahrens von Bedeutungszuweisung interessiert ist, stellt sich die Frage nach Kriterien für die Beurteilung von Interpretationen etwa als wahr oder zumindest wahrheitswertdefinit, plausibel oder unplausibel, mehr oder weniger gut begründet etc. Weiterhin wird zunehmend die praxelogische Dimension der Textinterpretation in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt und danach gefragt, wie sich die fachkulturelle Interpretationspraxis denn de facto gestaltet bzw. in welchem Verhältnis praktisch angewandte disziplinspezifische Routinen zu theoretisch fundierten Regeln stehen. [1]

Die von den Promovenden des in Göttingen und Osnabrück beheimateten, interuniversitären Promotionsprogramms »Theorie und Methodologie der Textwissenschaften und ihre Geschichte« (TMTG) in Zusammenarbeit mit Tilmann Köppe veranstaltete Tagung bildete in ihrem Untertitel eben diese Schwerpunktsetzung ab und unternahm es, die Interpretationsproblematik aus begrifflicher, evaluativer und fachkultureller Perspektive in den Blick zu nehmen. Dieser weit gefassten Zielsetzung entsprechend war die vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur, der Fritz-Thyssen-Stiftung für Wissenschaftsförderung und der Graduiertenschule für Geisteswissenschaften Göttingen unterstützte Tagung interdisziplinär konzipiert. Sie versammelte Philosophen und Philologen verschiedener Teildisziplinen, darunter Germanistik, Anglistik und Mediävistik.

1. Begriffliche Aspekte

Nach der offiziellen Begrüßung der Teilnehmer und einem kurzen Aufriss der eben schon benannten Problemkontexte durch die Organisatoren blieb es Oliver Jahraus (München) überlassen, die mit begrifflichen Aspekten befasste Sektion der Veranstaltung zu eröffnen.

Das zentrale Anliegen von Jahraus Vortrag (»Die neuen Grenzen der Interpretation: Ästhetische Erfahrungen, heilige Texte, auratische Stimmungen«) war es, die Präsenztheorie als bislang radikalste Herausforderung an die Interpretationstheorie überhaupt darzustellen. Präsenztheoretische Ansätze, die nach Jahraus auf George Steiner zurückgingen und aktuell prominent etwa von dem Stanforder Romanisten Hans Ulrich Gumbrecht und dem Potsdamer Medienwissenschaftler Dieter Mersch vertreten würden, subvertierten nämlich nicht nur bestimmte Theoreme, sondern schon die Theoriebildung als solche, und seien damit als radikale Fundamentalkritik zu rekonstruieren. Da im Rahmen der Präsenztheorie die laut Jahraus für die Theoriebildung typischen differentialistischen Diskursmuster mit Unterscheidungen wie ›Text – Sinn‹, ›Sprache – Welt‹ oder ›Buchstabe – Geist‹ unterlaufen würden, bleibe als Untersuchungsgegenstand lediglich eine inkommensurable Erfahrung von Präsenz, die einer auf den Sinn des Interpretandums gerichteten Interpretation notwendig entgehen müsse. Die sich an den Vortrag anschließende kritische Diskussion machte Vorbehalte gegenüber der Präsenztheorie selbst und auch gegenüber dem von Jahraus formulierten Radikalitätsanspruch deutlich. Es sei etwa schon schwierig zu erkennen, worum es sich bei den aufgerufenen Präsenztheorien eigentlich genau handle (z.B. um eine Theorie ästhetischer Erfahrung, eine psychologische Rekonstruktion des Leseprozesses oder eine Art Theoretisierung von Sprachlosigkeit und Erstaunen). Im Zuge einer möglichen Abschwächung des Radikalitätsanspruchs verwies Jahraus im Laufe der Diskussion auf die nach seiner Einschätzung bei Gumbrecht zu beobachtende Tendenz, den Radikalitätsanspruch dadurch wieder einzuschränken, dass Sinn- und Präsenzerfahrungen als komplementär gedacht werden (könnten). Nachzufragen bliebe dann, inwiefern die Erfahrung von Präsenz unter diesen Umständen noch im eigentlichen Wortsinn inkommensurabel sein kann.

Im Zentrum von Wolfgang Detels (Frankfurt) Vortrag »Zur Interpretation fiktiver Literatur« stand die Frage, ob und inwiefern fiktionale literarische Texte wahr sein oder sogar Wissen vermitteln können. Die vielversprechendste Möglichkeit, dieser Frage nachzugehen, sei eine modelltheoretische Analyse des Verstehens fiktionaler Literatur. Detels Idee bestand im Wesentlichen darin, fiktionale literarische Texte als exemplarische fiktive Modelle aufzufassen, bzw. genauer: davon auszugehen, dass die ›Botschaften‹ der entsprechenden Texte bestimmte Modelle instanziierten bzw. exemplifizierten. Solchen literarischen Modellsystemen kämen bestimmte Eigenschaften zu, die sie etwa von naturwissenschaftlichen fiktiven Modellen unterschieden (z.B., dass sie viele singuläre Sätze und viele nicht-referentielle singuläre Termini enthalten, oder dass sie charakteristischerweise in die Gestalt einer Erzählung gekleidet sind). Detels Beispiel war der ›Bovarismus‹, der sich als fiktives Modell des Bürgertums im Frankreich des 19. Jahrhunderts in Gustave Flauberts Madame Bovary finden lasse und Parameter wie ein romantischen Klischees verhaftetes Gefühlsleben, Langeweile des provinziellen Alltags oder eine Verschmelzung von religiösen und amourösen Phantasien beinhalte. Solche Modellsysteme seien in Bezug auf ihren realweltlichen Geltungsbereich durchaus als wahr oder falsch zu beurteilen, weswegen mit Recht von einer Wahrheitswertdefinitheit fiktionaler Literatur gesprochen werden könne. In der Diskussion wurde unter anderem eine weitere Präzisierung des Modellbegriffs eingefordert, da ohne diese Präzisierung nicht ganz klar werde, inwiefern von der Wahrheit oder Falschheit eines Modells und nicht von der Wahrheit oder Falschheit aus dem Modell abgeleiteter Hypothesen zu sprechen sei.

Axel Bühler (Düsseldorf) stellte in seinem Vortrag »Interpretation als Erkenntnis« die verwandte Frage »Ist Interpretation als Erkenntnis möglich?«. Durch diese Fragestellung war bereits die Fokussierung auf erkenntnisorientierte Interpretationsformen, die nach wertfreier Beschreibung und Erklärung des Interpretandums streben, angezeigt. Formen aneignender Interpretation, die etwa versuchen, einen literarischen Text lebenspraktisch nutzbar zu machen, wurden von Bühler nicht weiter thematisiert. Bühler begann mit einer Auflistung einiger Punkte sowohl metaphysischer als auch methodologischer Art, die nach seiner Einschätzung als Voraussetzung für Interpretation als Erkenntnis aufzufassen seien. Knapp zusammengefasst waren dies der Anspruch der Interpretation auf empirische Erkenntnis, ihre Ausrichtung auf historische Sachverhalte, die Festlegung auf einen psychologischen und semantischen Intentionalismus sowie einen metaphysischen Realismus und auf das Ideal der methodischen Einheit der Wissenschaften. Im zweiten Teil des Vortrags versuchte Bühler, zu erwartende Einwände gegen die Möglichkeit von Interpretation als Erkenntnis im allgemeinen Sinne sowie gegen seine Voraussetzungen im speziellen Sinne zurückzuweisen. Exemplarisch können hier die Einwände genannt werden, dass der psychologische Intentionalismus falsch sei, dass der semantische Intentionalismus falsch sei, dass interpretative Erkenntnis zu Voraussagen führen soll, was die Interpretation historischer Sachverhalte (oder Texte) nicht leisten könne, oder dass die Zuschreibung von Inhalten bzw. Überzeugungen im Quine’schen Sinn einer grundsätzlichen Unbestimmtheit unterliege, was Erkenntnis in interpretativen Kontexten generell unmöglich mache. Diese von Bühler prognostizierten Einwände wurden im Rahmen der Diskussion ergänzt. Unter anderem wurde problematisiert, ob die ontologische Einheit der Welt, wie von Bühler insinuiert, in direktem Zusammenhang mit einer methodischen Einheit der Wissenschaften stehen müsse, oder ob es für die Annahme der methodischen Einheit auch schon ausreiche, dass die Welt (möglicherweise auf verschiedene Weise) subjektunabhängig sei.

Tom Kindt (Jena) und Hans-Harald Müller (Hamburg) griffen in ihrem Vortrag (»Zum Verhältnis von Deskription und Interpretation. Ein Bestimmungsvorschlag und eine Beispielillustration«) Überlegungen aus ihrem 2003 veröffentlichten Aufsatz »Wieviel Interpretation enthalten Beschreibungen? Überlegungen zu einer umstrittenen Unterscheidung am Beispiel der Narratologie« auf. [2] Das Anliegen der Referenten war, die dortigen Ausführungen zur Unterscheidung der Begriffe von Beschreibung und Interpretation zu ergänzen durch eine Differenzierung von Interpretations- und Beschreibungshandlungen. Diese unterschieden sich primär in ihren Zielsetzungen und der damit verknüpften Art und Weise, sie zu evaluieren: Während es im Rahmen der Beschreibung eines literarischen Textes um die Bestimmung von Textstrukturen gehe, würden im Rahmen einer Interpretation Hypothesen über die Rolle von Textdaten aufgestellt sowie der Versuch unternommen, die gegebenen Textdaten weitergehend zu explizieren. Beschreibungen seien dementsprechend als entweder zutreffend oder unzutreffend zu bewerten, Interpretationen hingegen als mehr oder weniger plausibel. Dass beschreibende Rekonstruktionen eines Textes nicht direkt in eine Interpretation des Textes münden, sondern dass Interpretationen vielmehr bewusst und unter gesteigertem hermeneutischem Aufwand gesucht werden müssten, versuchten Kindt und Müller durch einen exemplarischen Blick auf Kafkas Erzählung Das Schweigen der Sirenen zu verdeutlichen. Interpretationen seien immer relativ zu einer Bedeutungskonzeption zu verstehen und dementsprechend abgrenzbar von dahingehend neutralen Beschreibungen. Dem erwartbaren Einwand, dass der Mensch im Sinne Nietzsches doch gewissermaßen zur Interpretation gezwungen sei, [3] nahmen Kindt und Müller schon vorab dadurch den Wind aus den Segeln, dass sie ihr Verständnis von Interpretation im Anschluss an eine terminologische Unterscheidung Axel Sprees [4] auf technische – und nicht erkenntnistheoretische – Interpretation einschränkten.

Die Diskussion vertiefte vor allem die Frage nach der Trennschärfe der Unterscheidung von Interpretationen und Beschreibungen weiter. Da eine ganze Reihe von Tätigkeiten unter dem Label »Beschreibungshandlung« subsumiert werden könne, sei fraglich, ob man nicht unter bestimmten Umständen von Mischformen sprechen müsse. Eine solche Mischform seien etwa »interpretativ aufgeladene Beschreibungen«, also Beschreibungen, die bedeutungstheoretisch eingefärbtes Vokabular verwenden (z.B. eine Aussage der Art: »Bei Kafkas Das Schweigen der Sirenen handelt es sich um einen Interdiskurs.«). Durch diese beschreibende (?) Klassifikation werde womöglich bereits eine interpretative Aussage getroffen. Im weiteren Verlauf kristallisierten sich zwei potentielle Reaktionen auf diese Problematik heraus: Entweder eine weitere begriffliche Feindifferenzierung durch die Erweiterung der Dichotomie »Beschreibung – Interpretation« um eine dritte Kategorie, oder eine begriffliche Entlastung der Dichotomie durch das Zugeständnis, dass die Unterscheidung weder exklusiv noch vollständig sein könne und es dementsprechend Aussagen oder Handlungen gebe, die entweder in beide oder in keine der beiden Kategorien fallen.

Die begriffliche Sektion wurde abgeschlossen durch einen Vortrag (»Interpretationsschemata und Rezeptionsprozess: Anmerkungen zum Interpretieren aus Sicht einer kognitiven Rezeptionstheorie«) von Ralf Schneider (Bielefeld). Die Einordnung in diese Sektion erscheint in der Retrospektive etwas fragwürdig, da sich Schneider deutlich stärker auf die kognitionspsychologische Analyse von Rezeptionsakten konzentrierte als auf begriffliche oder methodologische Probleme. Konkret wurde von Schneider der Versuch angestellt, im Rekurs auf aktuelle Erkenntnisse der Kognitionspsychologie ein Prozessmodell der Rezeption von Texten auszuarbeiten, das Interpretationen als abhängig von bestimmten Rezeptionsschemata definiert. Nach Schneider bestimmten psychologische »Kontrollsysteme« bereits das, was im Text erkannt wird – konsequenterweise sei jeder Interpret lediglich in der Lage, die Interpretation hervorzubringen, die ihm sein Kontrollsystem indirekt vorgibt. Diese Sichtweise führe zu einer »Entmystifizierung der Interpretation«, die über die einschlägigen Erkenntnisse der Rezeptionsästhetik der 1970er Jahre insofern hinausgehe, als durch die Kognitionspsychologie differenziertere Lesermodelle und veränderbare Analysekategorien zur Verfügung gestellt würden. Die an den Vortrag anschließenden Nachfragen stellten unter anderem heraus, dass Schneiders Analyse des Wahrnehmungs- bzw. Rezeptionsvorgangs abzugrenzen sei von den methodologischen Fragen, die etwa Bühler, Detel, Scholz oder Reicher-Marek thematisierten.

2. Evaluative Aspekte

Maria E. Reicher-Marek (Aachen) unternahm in ihrem Vortrag (»Kommunikative Absichten und die Ontologie des literarischen Werks«) den Versuch, die umstrittene Position des aktualen Autorintentionalismus zu verteidigen, der davon ausgeht, dass die Bedeutung eines Werkes bzw. Textes durch die kommunikativen Absichten eines aktualen Autors determiniert ist. Reicher-Marek machte vier Gegenpositionen zum aktualen Autorintentionalismus aus, von denen die ersten drei knapp und unmissverständlich als unplausibel zurückgewiesen wurden. Sowohl der Konstruktivismus mit der zentralen These »Ein Text hat an sich gar keine Bedeutung, sondern erlangt Bedeutung erst durch die Interpretation«, als auch der Konventionalismus mit der zentralen These »Die Bedeutung eines Textes hängt ausschließlich von linguistischen Konventionen ab« und der Kontextualismus mit der zentralen These »Die Bedeutung eines Textes wird im Wesentlichen durch den Kontext der Textproduktion festgelegt« wurde von Reicher-Marek verworfen. Den Hauptgegner machte sie in der Position des hypothetischen Intentionalismus aus, dem sie die Kernthese zuschrieb, dass die Bedeutung eines Textes nicht von den tatsächlichen Intentionen eines aktualen Autors abhänge, sondern davon, was ein idealer Leser gerechtfertigterweise für die Intention des Autors hält. Wie Reicher-Marek durch eine Analogie zu zeigen versuchte, gebe es jedoch Probleme mit dieser Grundannahme. Dass eine bestimmte Substanz de facto die chemische Zusammensetzung C habe, sei schließlich nicht davon abhängig, ob ein idealer Chemiker gerechtfertigt ist zu glauben, dass die Substanz die chemische Zusammensetzung C habe. Analog sei die Frage nach der Bedeutung eines Textes nicht im Rekurs auf die Hypothesen eines idealen Lesers zu klären. Was den hypothetischen Intentionalismus dennoch attraktiv mache, sei seine Fähigkeit, mit kommunikativen Ineffizienzen oder Fehlern des Autors umzugehen, und damit dem Unterschied zwischen dem, was jemand sagen will, und dem, was jemand sagt, gerecht zu werden. Reicher-Marek versuchte dann deutlich zu machen, dass auch der aktuale Intentionalismus mit dem Problem der Kommunikationsfehler zurechtkommen kann, indem man eine Unterscheidung der Autorintentionen in kategoriale und semantische Intentionen vornimmt. So könne es Fälle geben, in denen zwar die semantische Intention (z.B. eine bestimmte Vorstellung beim Adressaten hervorzurufen) nicht erfüllt sei, die kategoriale Intention (z.B. einen korrekten Satz zu bilden, ein Gedicht zu schreiben) hingegen schon. [5]

Die ausführliche Diskussion von Reicher-Mareks Vorschlag beinhaltete unter anderem den allgemeinen Hinweis, dass es problematisch sein könnte, den Bedeutungsbegriff nicht für Wörter bzw. Sätze zu reservieren, sondern auf ganze Texte auszudehnen. Des Weiteren wurde das altehrwürdige Problem des hermeneutischen Besserverstehens im Rahmen der Nachfrage aktualisiert, wieso denn eine erotische Lesart von Bram Stokers Dracula aufgrund des Textbestands möglich sei, obwohl Stoker diese Dimension des Textes nach eigener Aussage nicht intendiert hatte. Reicher-Marek wies in ihrer Replik darauf hin, dass entweder unbewusste Intentionen vorhanden gewesen sein könnten, die ebenfalls als bedeutungskonstitutiv zu verstehen seien, oder dass – falls dies nicht der Fall sein sollte – derartige Lesarten zwar möglicherweise interessant seien, nach Sichtweise des aktualen Intentionalismus aber nicht als Teil der Bedeutung des Werks begriffen werden können.

Im Zentrum des Vortrags (»Über anachronistisches Interpretieren«) von Tilmann Köppe (Göttingen) stand die Frage, ob es bestimmte Umstände geben kann, unter denen »anachronistische paraphrastische Interpretationen«, also Rekonstruktionen von fiktiven Welten, die auf anachronistisches Vokabular zurückgreifen, zulässig sind. Zunächst unterschied Köppe zwischen Anachronismen der Sache und der Formulierung nach, um sich dann vor allem der letzteren Gruppe zuzuwenden. Analog zu der etablierten Unterscheidung von de re und de dicto sei es dementsprechend ein Anachronismus der Formulierung nach, zu sagen, Hofmannsthals Elektra leide an einer post-traumatischen Belastungsstörung, da dieses Vokabular weder in der Antike, in der das Stück spielt, noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als das Stück verfasst wurde, zur Verfügung stand. Der Mangel an adäquater Beschreibungssprache bedinge aber nicht die Nicht-Existenz des beschriebenen Phänomens (offensichtlich leidet Elektra in bestimmter Hinsicht unter dem Mord an ihrem Vater), weshalb ein allzu pauschales Verbot anachronistischer paraphrastischer Interpretationen nach Köppes Ansicht weiter hinterfragt werden sollte. Köppe nahm in der Folge einige Argumente gegen diese Interpretationsform unter die Lupe und versuchte zu zeigen, dass diese nicht ausreichen, um ein umfassendes Anachronismusverbot zu fundieren. Da es sinnvoll sei, von einem Pluralismus interpretativer Ziele auszugehen, könnten zumindest unter der Maßgabe bestimmter Zielsetzungen (z.B. der Erklärung der Handlung des Textes) anachronistische Interpretationen durchaus zulässig sein.

Die Diskussion von Köppes Überlegungen thematisierte erneut die Verknüpfung eines Zielpluralismus mit der Rechtfertigung anachronistischer paraphrastischer Interpretationen, indem etwa problematisiert wurde, inwiefern anachronistische »Handlungserklärung« eher ein interpretatives Unterziel sei (z.B. untergeordnet unter Ziele aneignender Interpretationsformen, wie »etwas über die Welt von heute lernen«) und stellte heraus, dass ein Kernproblem der Anachronismusdebatte in einem nicht direkt von Köppes Anachronismus-Apologie tangierten Bereich liege – nämlich der Rechtfertigung von Anachronismen innerhalb historisch adäquater Interpretationen.

Der Vortrag (»Texte interpretieren. Daten, Hypothesen und epistemische Rechtfertigung«) von Oliver R. Scholz (Münster) befasste sich mit grundlegenden Problemen der Methodologie der Textinterpretation im Lichte der allgemeinen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie. Sofern Textinterpretation wissenschaftlichen Anspruch haben soll, müsse sie, so Scholz, auf methodischen Grundlagen fußen. Zwei methodologische Kandidaten wurden genauer diskutiert: zum einen die hypothetisch-deduktive Methode, deren Anwendung auf die Literaturwissenschaft prominent von Dagfinn Føllesdal vorgeschlagen wurde, [6] zum anderen die Methode des Schlusses auf die beste Erklärung. [7] Da die hypothetisch-deduktive Methode an einigen Stellen zu kritisieren sei – etwa als zu permissiv bei der grundlegenden Bildung von im weiteren Verlauf des Interpretationsprozesses zu überprüfenden Hypothesen – plädierte Scholz für die Anwendung des Modells des Schlusses auf die beste Erklärung im Rahmen der Textinterpretation, das grob skizziert wie folgt aussieht: Die Aufgabe des Interpreten bestehe darin, bestimmte Textdaten e1…n zu erklären. Sofern nun e1 durch die Hypothese h1 (besser als durch h2…n) erklärt werden kann, wird die Hypothese h1 gestärkt, sofern dies nicht der Fall ist, wird sie geschwächt. Derartige Schlüsse auf die beste Erklärung seien weniger permissiv als die im Rahmen der hypothetisch-deduktiven Methode etablierten Erklärungsbeziehungen. Außerdem sei durch die Anwendung des Modells von Schlüssen auf die beste Erklärung jene methodische Einheit der Wissenschaften garantiert, die zuvor schon Bühler in seinem Vortrag angesprochen hatte. Die Frage, was alles für die Erklärung bestimmter Textdaten relevant sein könnte (z.B. die Intention des Autors, der Entstehungskontext des Textes etc.), verstand Scholz als abhängig von konkreten Literaturtheorien – für die Frage nach der Anwendbarkeit der Methode des Schlusses auf die beste Erklärung sei dies nur mittelbar relevant, in dem Sinne, dass sich damit nur als erklärungskräftig angesehene Parameter änderten, nicht aber die Methode als solche.

3. Fachkulturelle Aspekte

Klaus Grubmüller (Göttingen) und Jörg Schönert (Hamburg) ergänzten in ihren Vorträgen (»Werkbegriff und Interpretation. Zum Textverstehen unter den Bedingungen mittelalterlicher Schriftlichkeit« und »Zu Geltungsansprüchen und Durchsetzbarkeit von Standards für die Interpretation literarischer Texte«) die Debatte um eine mediävistische bzw. praxeologische Perspektive. Grubmüller machte für die Interpretation mittelalterlicher Texte mehrere besondere Schwierigkeiten aus. Da diese oft nur aus mündlicher Überlieferung stammten, fragmentarisch seien, außerdem mehrfach und teils unzuverlässig bearbeitet worden seien, sehe sich der Interpret mittelalterlicher Literatur mit spezifischen Interpretationsproblemen konfrontiert, die etwa einen Intentionalismus in der von Reicher-Marek vertretenen Form sinnlos erscheinen ließen. Anhand eines exemplarischen Blicks auf eine Passage aus dem Erec Hartmanns von Aue versuchte Grubmüller deutlich zu machen, dass schon das Verständnis von Interpretation als Suche nach der Bedeutung des Textes bzw. als Suche nach der Bedeutung bestimmter Passagen für das Textganze problematisch sein müsse, weil es nicht ohne Weiteres zulässig sei, überhaupt von der Kohärenz des Interpretandums auszugehen. Die tendenziell kritische Diskussion des Vortrags machte auf die latente Konfundierung epistemologischer und ontologischer Fragestellungen aufmerksam – dass die Intention eines mittelalterlichen Autors aufgrund diverser Faktoren nicht zugänglich ist, spielt keine Rolle für die Frage, ob eine solche Intention existiert und bedeutungsrelevant ist. Außerdem wurde der Vorschlag gemacht, statt von einer Suspendierung von interpretativen Kohärenzunterstellungen besser von einer historischen Kontextualisierung interpretativer Kohärenzunterstellungen zu sprechen.

Schönerts praxeologischer Zugang zum Thema Interpretation nahm das Verhältnis von interpretationstheoretischen Fragen und der fachkulturellen Praxis in den Blick. Ausgehend von der Frage, inwieweit in der Theorie Geltungsansprüche für literaturwissenschaftliche Interpretationen erhoben und methodologische Vorgaben gemacht werden, analysierte Schönert dann speziell die Umsetzung dieser Vorgaben in der einschlägigen Einführungsliteratur für das literaturwissenschaftliche Studium. Schönert war vor allem daran gelegen, zu fragen, inwiefern die Erkenntnisse kodifizierender Publikationen (z.B. Handbücher) in normativer Hinsicht maßgeblich für die Einführungsliteratur sind und ebendort thematisiert oder sogar aktiv umgesetzt werden. Im Anschluss an Schönerts Vortrag wurde besonders die Notwendigkeit der Sicherung wissenschaftstheoretischer Grundlagen im Rahmen literaturwissenschaftlicher Einführungsliteratur diskutiert, die sich noch vor disziplinspezifischen Fragestellungen mit der Vermittlung allgemeiner wissenschaftlicher und argumentationstheoretischer Standards (Was ist eine Hypothese? Wie argumentiert man rational für eine Hypothese? etc.) befasst.

Carlos Spoerhase (Berlin) beschloss die Tagung mit einem Vortrag (»Gegenwartsliteratur interpretieren? Methodologische und epistemologische Fragen«), der sich mit den speziellen Anforderungen der Interpretation von Gegenwartsliteratur befasste. Spoerhase ging von gegen Ende des 19. Jahrhunderts angestellten Überlegungen Berthold Litzmanns aus, um in der Folge die Interpretation von Gegenwartsliteratur aus der Perspektive der Wissenschaftsgeschichte, der Methodenlehre der Literaturgeschichtsschreibung und der Methodenlehre der Textinterpretation zu analysieren. Nach Spoerhases Ansicht könnten mehrere Problemkon-stellationen identifiziert werden, die speziell für die Interpretation von Gegenwartsliteratur relevant seien und der Aufmerksamkeit der Interpretationstheorie bedürften. Neben der geschichtsphilosophisch prekären Feststellung, dass es sich bei Gegenwartsliteratur sozusagen um einen »lebendigen« Untersuchungsgegenstand handle, sei das Verhältnis zwischen Literat und Literaturwissenschaftler spezifisch zu konzeptualisieren, da aufgrund der Zeitgenossenschaft eine gegenseitige Bezugnahme möglich sei. Dies sei gerade deshalb problematisch, da diese Bezugnahme die Gestalt konkreter Beeinflussung annehmen könne und der Literaturwissenschaftler damit möglicherweise sogar in der Lage sei, Belege für seine interpretativen Hypothesen gewissermaßen selbst zu produzieren – etwa dadurch, dass er den Autor eines interpretierten Textes dazu bringt, eine bestimmte dem Text zugeschrieben Bedeutung retrospektiv als die von ihm auch tatsächlich intendierte Bedeutung zu qualifizieren. Die in der Diskussion ergänzten Hinweise, dass diese Probleme zum Teil schon durch gesteigerte »wissenschaftliche Sauberkeit« gelöst werden könnten und dass eine Hypothese über die Autorintention dadurch, dass sie vom Autor selbst formuliert wird, nicht ihren Status als grundsätzlich fallible Hypothese verliert, konnten insgesamt aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine präzise deskriptive Rekonstruktion der benannten Problemkonstellationen und deren Rezeption in der interpretativen Praxis als Desiderat der Forschung zu gelten hat.

4. Fazit

Insgesamt bleibt festzuhalten: Die Vorträge der umsichtig organisierten Tagung waren thematisch sehr heterogen, was sich auch in der ab und an konstruiert wirkenden Zuordnung zu den entsprechenden Tagungssektionen zeigte (vgl. die obigen Anmerkungen zum Vortrag Schneiders). Dem engagierten Diskussionsklima hat dies allerdings in keiner Weise geschadet – die an die Vorträge anschließenden Debatten waren in den allermeisten Fällen ausgesprochen lebhaft und konstruktiv. Aufgrund der meist sehr klaren und unmissverständlichen Art, in der die jeweiligen Thesen vertreten wurden, werden sich viele der Beiträge mit Sicherheit als fruchtbar für Anschlussforschung erweisen.

Eine gute Idee wäre es gewesen, die Promovierenden des TMTG-Programms nicht nur als Organisatoren in die Tagung einzubinden, sondern ihnen ebenfalls Gelegenheit zu geben, die eigenen Forschungsprojekte im Rahmen eines Beitrags zur Diskussion zu stellen. Damit hätte eine noch engere Verzahnung von etablierten Forschern und Nachwuchswissenschaftlern erreicht werden können. Möglicherweise kann dies im Rahmen einer an die Tagung anschließenden Publikation, zu der erfreulicherweise alle Vortragenden ihre Überlegungen beitragen wollen, noch nachgeholt werden.

Thomas Petraschka

Universität Regensburg

Neuere deutsche Literatur

Anmerkungen

[1] Exemplarisch ist diese Spezifikation methodologischer und praxeologischer Arbeitsfelder abgebildet in dem voraussichtlich Ende 2013 erscheinenden, von Andrea Albrecht, Lutz Danneberg, Olav Krämer und Carlos Spoerhase herausgegebenen Sammelband zu Theorien, Methoden und Praktiken des Interpretierens. Vgl. zu den methodischen Grundlagen weiterhin Carlos Spoerhase, Autorschaft und Interpretation. Methodische Grundlagen einer philologischen Hermeneutik, Berlin/New York 2007, zur praxeologischen Dimension etwa Steffen Martus/Carlos Spoerhase, Praxeologie der Literaturwissenschaft, Geschichte der Germanistik 35/36 (2009), 89–96. [zurück]

[2] Vgl. Tom Kindt/Hans-Harald Müller, Wieviel Interpretation enthalten Beschreibungen? Überlegungen zu einer umstrittenen Unterscheidung am Beispiel der Narratologie, in: Fotis Jannidis/Gerhard Lauer/Matías Martínez/Simone Winko (Hg.), Regeln der Bedeutung. Zur Theorie der Bedeutung literarischer Texte, (Revisionen 1) Berlin/New York 2003, 286–304. [zurück]

[3] »Gegen den Positivismus, welcher bei dem Phänomen stehen bleibt, ›es giebt nur Thatsachen‹, würde ich sagen: nein, gerade Thatsachen giebt es nicht, nur Interpretationen.« (Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. 12: Nachgelassene Fragmente 1885–1887, 7 [60], hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1980, 315). [zurück]

[4] Vgl. Axel Spree, Kritik der Interpretation. Analytische Untersuchungen zu interpretationskritischen Literaturtheorien, Paderborn 1995, 44–51. [zurück]

[5] Mit dieser Unterscheidung bezog sich Reicher-Marek implizit auf Jerrold Levinson, der eine analoge Unterscheidung in »categorial intentions« und »semantic intentions« vorschlägt und wie Reicher davon ausgeht, dass speziell die ersteren bedeutungsrelevant sind: »Semantic intentions […] do not determine meaning, but categorial intentions, such as concern a literature maker’s basic conception of what is made, do in general determine how a text is to be conceptualized and approached on a fundamental level and thus indirectly affect what it will resultingly say or express.«. (Jerrold Levinson, Intention and Interpretation in Literature. in: J.L., The Pleasures of Aesthetics. Philosophical Essays, Ithaca, NY 1996, 175–213, hier 188f.; vgl. insbesondere 188–191.) [zurück]

[6] Vgl. Dagfinn Føllesdal, Hermeneutics and the Hypothetico-Deductive Method, Dialectica 33:3–4 (1979), 319–336. [zurück]

[7] Scholz rekurrierte an dieser Stelle in erster Linie auf Peter Lipton, Inference to the Best Explanation [1991], London ²2004. [zurück]

2013-06-27

JLTonline ISSN 1862-8990

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