Mirco Limpinsel

Unverstandene Klassikerin

Käte Hamburger im Kontext. Wissenschaftliches Kolloquium im Rahmen der Jüdischen Kulturwochen Stuttgart, 08.11.2012.

Die Literaturwissenschaftlerin Käte Hamburger zählt zu den »kanonischen« Protagonisten der Nachkriegsgermanistik, eine ganze Generation von Literaturwissenschaftlern ist durch sie geprägt worden. Ihr Buch Die Logik der Dichtung, 1957 erstmals erschienen, ist zwar bis heute weithin bekannt – was nicht heißt, dass es auch entsprechend häufig gelesen wurde. So gibt es trotz des seit einiger Zeit erstarkenden Interesses an der Fachgeschichte kaum aktuelle Auseinandersetzungen mit Hamburger und ihrem Werk. Die erste große Hamburger-Tagung, der auch die Publikation eines Sammelbandes folgte, [1] wurde seinerzeit anlässlich des zehnten Todestages veranstaltet und liegt nunmehr zehn Jahre zurück. Seitdem sind zwar mehrere Aufsätze erschienen, eine systematische Auseinandersetzung mit Hamburgers Theorie steht aber nach wie vor aus. Geboten wäre sie durchaus, stehen einer leichten Zugänglichkeit ihres Werks doch die komplexe Terminologie, der eigenwillige Umgang mit der Tradition und die weitgehende Unbekanntheit der Kontexte entgegen.

In Stuttgart, dem Wirkungsort Hamburgers seit 1956, wurde nun wiederum eine Konferenz zu »Käte Hamburger im Kontext« veranstaltet. Die beiden Initiatorinnen Andrea Albrecht (Stuttgart) und Claudia Löschner (Berlin) unternahmen den Versuch, Hamburgers Werk aus heutiger Perspektive, das heißt vor allem: frei von den zahlreichen bestehenden Stereotypen und Vorbehalten, einer Relektüre zu unterziehen. In Form eines konzentrierten Kolloquiums wurden Aspekte von Hamburgers Werk beleuchtet, seine Kontexte erörtert und teils auch die Diskussion mit Hamburger selbst aufgenommen. Bezugspunkt war nicht allein Hamburgers theoretischer Entwurf einer Logik der Dichtung und seine Entwicklung, sondern auch kleinere Aufsätze, in denen sie als Interpretin in Erscheinung trat. Dass, trotz der jahrzehntelangen Bekanntschaft mit Hamburgers Texten, ganze Komplexe ihres Werks heute rätselhaft und wenig nachvollziehbar erscheinen, belegt die Schwierigkeit des Themas und verweist darauf, dass hier durchaus Aussicht auf neue Erkenntnisse besteht, die nicht nur einen Betrag zur Hamburgerforschung im engeren Sinne liefern, sondern auch zum Verständnis der Fachgeschichte im 20. Jahrhundert beitragen: Hamburgers »Ruhm« speist sich nicht zuletzt daraus, dass man ihr bis heute eine Schlüsselrolle für die so genannte »Verwissenschaftlichung« der Literaturwissenschaften zuschreibt, also für die Transformation der alteuropäischen, als kongeniale Praxis aufgefassten philologischen Kunst in eine moderne, an Theorien und interdisziplinärem Dialog orientierte Literaturwissenschaft.

Bereits der Eröffnungsvortrag lenkte den Fokus auf den teilweise rätselhaften Charakter von Hamburgers Theorieprogramm: Jörg Schönert (Hamburg) kontrastierte den theoretischen Anspruch Hamburgers mit ihrer eigenen interpretativen Praxis (»Zur literaturwissenschaftlichen Praxis der Literaturtheoretikerin (1947–1976)«). Inwiefern löst Hamburger ihr theoretisches Programm aus der Logik der Dichtung, das ja vor allem in Opposition gegen die damals üblichen ästhetischen Ansätze stand, in ihren eigenen Interpretationen ein? Schönert verwies auf die Unschärfe vieler von Hamburgers Leitbegriffen, die oftmals nur mithilfe metaphorischer Umschreibungen expliziert würden, und bezweifelte, dass sich aus Hamburgers Fiktionalitäts- und Gattungstheorie unmittelbare methodologische Konsequenzen ergäben. Anhand von Textbeispielen demonstrierte er, wie Hamburger in vielen ihrer Aufsätze die sprachlogische Perspektive vielmehr mit einer ganz dem philologischen Zeitgeist der 1950er Jahre angepassten Redeweise hybridisiere. So sei beispielsweise oft die Rede vom »Geheimnis der Dichtung«, dem sie mittels sprachlogischer Instrumente beikommen wolle. Insbesondere vor dem Hintergrund der strikten Opposition zu den »ästhetischen« Ansätzen Emil Staigers oder Wolfgang Kaysers, die Hamburger behauptet und die auch ihre Rezipienten einstimmig konstatieren, ist dieser Befund überraschend. Schönerts Befunde weisen darauf hin, dass die literaturwissenschaftliche Praxis weniger unter dem strikten Dirigat von Theorie und Methodologie steht, als es das szientifische Ideal erfordern würde, sondern dass es bestimmte zeittypische Fachtopiken gibt, die die konkrete Praxis maßgeblich strukturieren, ohne dass es den Beteiligten unmittelbar einsichtig würde. Wegen ihrer betont szientifischen Ausrichtung ist gerade der Fall Käte Hamburgers hier besonders aufschlussreich.

Eine aus heutiger Sicht wenig nachvollziehbare Argumentationsweise war auch Gegenstand des Referats von Jørgen Sneis (Stuttgart) über »Quasi-Urteile und/als Fiktion. Zur Kontroverse zwischen Roman Ingarden und Käte Hamburger«. Sneis rekonstruierte die Diskussion zwischen Hamburger und dem Husserl-Schüler Roman Ingarden, der, wie Hamburger, Themen wie die Fiktionalität und die spezifischen Charakteristika literarischer Texte vor dem Hintergrund philosophischer Analysen behandelte. Obwohl Hamburger sich, wenngleich an eher marginalen Stellen, konstant auf Ingarden beziehe, bleibe unklar, worin der Streitpunkt eigentlich genau bestehe: Hamburger räume der »Als«-Struktur literarischer Texte eine zentrale Rolle in ihrer Explikation der logischen Struktur der Dichtung ein und grenze sich dabei strikt von Ingardens Konzept der »Quasi-Urteile« ab. Wie Sneis deutlich machte, seien die inhaltlichen Differenzen aber eher graduell, so dass unverständlich bleibe, weshalb die Auseinandersetzung derart scharf geführt wurde. Tatsächlich müsse man davon ausgehen, dass Hamburger und Ingarden nicht nur keine Einigung in der Sache finden konnten, sondern dass auch die Frage, über welches Problem eigentlich Dissens bestehe, offen geblieben sei. Wie schon angesichts der von Schönert vorstellten Rekonstruktionen drängte sich so auch hier der Eindruck auf, dass weniger unterschiedliche theoretische Positionen gegeneinanderstehen, als vielmehr unterschiedliche, gleichsam inkompatible Redeweisen über Literatur.

Eine Erklärung für Hamburgers diskursive Außenseiterstellung wurde in den Diskussionen vorgeschlagen, vor allem von Seiten der beiden Veranstalterinnen: Die Konstellation sei demnach weniger anhand der konkreten Situation in den 1940er und 1950er Jahren zu diskutieren, sondern vielmehr mit Rückgriff auf die 1920er Jahre, in denen Hamburger und Ingarden akademisch sozialisiert wurden. Die Zäsur des Zweiten Weltkriegs habe dazu geführt, dass Hamburgers Argumente nicht mehr voll verständlich waren. Demnach sei Hamburgers Position in Auseinandersetzung mit dem spezifischen Diskussionsstand der 1920er Jahre entwickelt worden, also in engem Bezug auf damals gebräuchliche und von der Lehrergeneration entwickelte Konzepte. Nach dem Krieg, nunmehr ohne die Lehrer, seien diese Diskussionen den jüngeren Zeitgenossen gar nicht mehr präsent gewesen, so dass dieser diskursive Ballast von der Generation der Junggermanisten einfach abgeworfen worden sei. Hamburgers eigene Diktion war dann zwar für sich kohärent, aber kontextlos und damit in ihrer vollen Bedeutung unverständlich. Hamburger profilierte ihre Position demnach gar nicht so sehr an anderen zeitgenössischen Ansätzen, sondern an früheren Diskussionen – genannt wurden unter anderem die Würzburger Schule der Denkpsychologie, der Philosoph Paul Hofmann (Hamburgers Verlobter) und vor allem der Neukantianer Hermann Cohen. Diese Perspektive auf Hamburgers Konzeption fragt folgerichtig nicht so sehr nach der Bewertung der vorgebrachten Argumente, sondern eher nach ihrer historischen Nachvollziehbarkeit. Ihr Gewinn liegt dann einerseits in einer schlüssigen Erklärung der Argumentationen, andererseits aber auch darin, Aufschluss über die Art und Weise zu gewinnen, wie literaturwissenschaftliche Diskussionen praktisch ablaufen bzw. abgelaufen sind.

Hamburgers Positionierung innerhalb der philologisch-philosophischen Diskussion der Nachkriegszeit war auch Gegenstand des Referats »Zum Begriff der Wahrheit und der ästhetischen Wahrheit bei Käte Hamburger« von Alexander Bareis (Lund). Am Konzept der »ästhetischen Wahrheit« machte Bareis Hamburgers Diskussionsverhalten transparent – konzeptionell wie auch rhetorisch. »Ästhetische Wahrheit« war traditionell das Konzept, mit dessen Hilfe die Kommensurabilität von Wissen und Kunst gerechtfertigt wurde. Dies ist insofern zentral, als die Literaturwissenschaft nicht zuletzt hieraus ihre Legitimität bezieht. Hamburger positioniere sich nun recht deutlich gegen diese Tradition und versuche, die ästhetische Wahrheit als begriffslogische Unmöglichkeit zu erweisen. Schon die logische Struktur der Dichtung impliziere, so Hamburger, die notwendige Distanz solcher Rede von jeglichem Bezug auf »Wahrheit«. Es zeichnet nach Hamburgers Konzept die Dichtung gerade aus, dass sie sich von der »Wirklichkeitsaussage« kategorisch unterscheide. Hintergrund sei Hamburgers strikter Wahrheitsbegriff, den sie allein auf das beschränke, was »der Fall ist«. Da Fiktionalität aber nach Hamburger von vorn herein von aller Referenzialität suspendiert sei, sei die literarische Rede per definitionem überhaupt nicht wahrheitsfähig. Auch hierin liegt indes eine für heutige Leser schwer nachvollziehbare Option: Bareis zeigte, dass Hamburger die Diskussionen um die ästhetische Wahrheit beinahe mutwillig missverstanden und mithin einen Kampf gegen Pappkameraden geführt habe. Dabei hob der Referent insbesondere die rhetorischen Strategien hervor, mit denen Hamburger zu suggerieren versuchte, dass ihre »Gegner« falsche Schlüsse aus falschen Prämissen zögen, etwa wenn sie Adornos Wahrheitsbegriff als »leer« bezeichnete oder Heidegger anhand eines besonders absurden Textzitats vorführte. Verwunderlich bleibe, weshalb Hamburger überhaupt inhaltlich argumentierte – und nicht einräumte, dass es ihr eben nicht um Kunstphilosophie gehe. Auch dieser Befund ist indes ein Hinweis auf den spezifischen Eigensinn literaturwissenschaftlicher Diskussionen, der terminologische Distinktionen gegenüber inhaltlich Vorgebrachtem in den Vordergrund rückt.

Dass diese Konstellationen auch inhaltliche Implikationen haben und etwa für Hamburgers Interpretationsarbeit eine Rolle spielen, zeigte Matthias Löwe (Jena) in seinem Vortrag über »Kontext und Funktion von Käte Hamburgers Humanitäts-Begriff«. Hamburger habe bereits 1932 den Wunsch geäußert, sich bei Rudolf Unger mit einer existenzphilosophisch orientierten Arbeit über Thomas Mann zu habilitieren. Anders als die Logik der Dichtung zeige dieses Vorhaben (mit dem Schlagwort »Existenz« im Untertitel) deutliche Bezüge zum Zeitgeist, Hamburger drohte demnach beinahe, so Löwe, zum »fashion victim« zu werden. Löwe rekonstruierte Hamburgers Konzeption des Zusammenhangs von Existenz und Humanität, das sie bei Thomas Mann verwirklicht sah. Hamburgers nicht zuletzt wertende Aussagen über Manns Romane stünden vor diesem Hintergrund. So habe sie Manns Joseph-Romane als Höhepunkt der Gattung angesehen, den Doktor Faustus, weil er zu diesem existenzphilosophischen Überbau nicht passte, aber abfällig rezensiert. Hieran zeige sich, so Löwe, dass Hamburger für gegenwärtige literarische Phänomene gleichsam »blind« gewesen sei. Dass Thomas Mann selbst das disziplinäre framing von Hamburgers Wissenschaftsprosa nicht entging, zeigt ein Tagebucheintrag: Während er Hamburger brieflich für die Zusendung ihres Mannbuches überschwänglich dankte, notierte er im Tagebuch, das Buch sei langweilig, schwerfällig und »sehr geisteswissenschaftlich«.

Neben diesen eher am diskursiven Kontext interessierten Beiträgen gab es aber auch Referate, die bestimmte Konzepte bei Hamburger einer inhaltlichen Analyse unterzogen. So rekonstruierte Sabine Eickenrodt (Bratislava) Hamburgers Analysen zur Struktur des Humors bei Jean Paul und Cervantes. Hamburger wollte Jean Pauls Humor am Don Quijote verstehen. Den Bezug auf Jean Paul stellte sie vor allem durch die Zueignung ihrer Studie an den Jean Paul-Herausgeber Eduard Berend her, während die Analyse selbst sich ausschließlich auf Cervantes bezog. In der Epik sah Hamburger eine besonders geeignete Form zur Darstellung des Humors, da er hier nicht nur subjektives Geplauder sei, sondern in der Struktur der erzeugten Wirklichkeit selbst liege. Das signifikante Merkmal des Humors sei die Inadäquatheit: Etwas zeigt sich als etwas, das es eigentlich nicht ist, was wiederum auf den Maßstab des Eigentlichen verweise. Sei dieser Maßstab die Wirklichkeit selbst, so handele es sich um das Komische. Insofern erhebe Hamburger den Anspruch, den Humor anhand objektiver Merkmale zu erfassen – und erkläre ausgerechnet Jean Paul zum Muster eines solchen objektiven Humors.

Beinahe komisch wirkten auch Hamburgers Verdikte gegen den Menschen Rilke, die Claudia Löschner (Berlin) zum Ausgangspunkt ihres Vortrags »›Ein sehr großer Dichter und schwacher Mensch.‹ Käte Hamburger über Rilke« nahm. Löschner zeigte den konzeptuellen Zusammenhang dieser Einlassungen auf, indem sie Hamburgers Modell der Dichtung als Erzeugen von »Nicht-Wirklichkeit« rekonstruierte. Demnach gebe es eine Gradation von Objekt- und Subjektbezug in unterschiedlichen Aussagetypen: Die (mathematisch-)wissenschaftliche Rede sehe vom Subjekt weitgehend ab und fokussiere primär das Aussageobjekt. Das Mischverhältnis werde ausgewogener bei philosophischen Texten und bei Autobiographien; den Endpunkt dieser Skala markiere die Lyrik mit ihrem ausgeprägten Subjektbezug. Erst jenseits dieser Formen stehe nach Hamburger der Bereich der (fiktionalen) Dichtung, kategorial durch den vollständigen Verzicht auf jeden Bezug zur Wirklichkeit ausgezeichnet. Die Dichtung unterteile sich daher nicht in drei, sondern nur in zwei Gattungen – Epik und Drama –, während die Lyrik als exzentrischer Pol der normalen Alltagsrede gleichsam die »letzte Haltestelle vor der Fiktion« darstelle. Löschners Rekonstruktion machte nicht nur die Äußerungen über Rilke nachvollziehbar, sondern konnte zudem als Hinweis auf Aspekte genommen werden, die Hamburger anschlussfähig an viel modernere Diskussionen über die spezifische Medialität der Literatur macht. Das besondere Medium der Literatur sieht Hamburger demnach gar nicht in der Sprache (die emphatische Rede von »sprachlichen Kunstwerken« ist ein Topos, der es aus den 1950er Jahren weitgehend unbeschadet in unsere Gegenwart geschafft hat), sondern in der Darstellung alternativer Wirklichkeiten – Hamburger spricht so auch nicht von »Sprach-«, sondern von »Vorstellungskunst«, wo es um die fiktionale Literatur geht. Unabhängig von den einigermaßen problematischen Klassifikationsfragen bezüglich der Stellung der Lyrik liegt die Instruktivität dieses Modells darin, dass es Literatur und Film auf eine Stufe stellt. Erscheinen beide als reichlich entfernt, wenn man das Medium der Literatur in der Sprache sieht, so kann man mit Hamburger sagen, dass beide tatsächlich Formen in ein und demselben Medium sind. Eine solche Sichtweise relativiert die recht kontraintuitive Distanzierung von Film und Literatur und hat weitreichende theoretische Konsequenzen für die nach wie vor gern diskutierte Frage, was das »Eigene« der Literatur sei.

Dass die Fragen, denen Hamburger ihr akademisches Leben gewidmet hat, nicht bloß mehr oder weniger historisch interessante Artefakte der Vorgeschichte heutiger Literaturwissenschaft sind, demonstrierte das Referat über »Kritik am Kompositionalismus. Zu Vorstellungen fiktional-faktual gemischter Texte, zu Semifiktionalität und zu Gradationen der Fiktionalität« von Lutz Danneberg (Berlin). Danneberg wies auf Hamburgers Ablehnung eines fiktionstheoretischen Kompositionalismus hin, der Auffassung also, an Texten ließen sich fiktionale und faktuale Elemente unterscheiden, und unternahm den Versuch, Hamburgers richtige Intuition mit Argumenten zu rechtfertigen. Da man Sätzen prinzipiell nicht ansehen könne, ob sie fiktional oder faktual seien, komme es, so Danneberg, auf den Umgang mit den Elementen an, der sich aber immer auf das Textganze bezieht, nicht auf einzelne Sätze. Auch sei die Unterscheidung von fiktionalen und faktualen Sätzen keine Frage der Referenzialität, da auch fiktionale Sätze in der faktualen Welt wahr sein könnten und umgekehrt das Wissen über fiktionale Welten ein normaler Teil der gewöhnlichen Realität sei (so wisse man beispielsweise, wie ein Pegasus aussieht). Das Wissen über die reale Welt erfülle schließlich eine hermeneutische Funktion für fiktionale Texte, die, wie Danneberg betonte, immer nur durch Interpretation zugänglich seien. Aus dieser Konstellation entwickelte Danneberg eine Funktionsbeschreibung philologischer Arbeit: Das Geschäft der Philologie sei es, sinnvolle Fragen an fiktionale Texte einzukreisen. Die Frage beispielsweise, ob Don Quijote ein Marrano sei, also ein zum Christentum konvertierter Jude, der heimlich immer noch seinem alten Glauben anhängt, scheine zunächst sinnlos, zumal sich im Roman keinerlei explizite oder implizite Hinweise darauf fänden. Durch zusätzliches Wissen über die reale Welt – hier etwa über die Essgewohnheiten von Marranos, von denen berichtet wird, sie äßen gern unbeobachtet – könnten solche Fragen aber, sofern man seine Darstellungen im Text auffinde, zu sinnvollen Fragen werden. Dass der Philologie die Arbeit ausgeht, ist angesichts der potentiell unendlichen Anzahl sinnloser Fragen demnach kaum zu befürchten.

In der allein thematischen Bindung von Dannebergs Referat bestand zugleich der deutlichste Hinweis auf Hamburgers Aktualität. Er rief in Erinnerung, dass die Diskussionen über die diskursiven Verflechtungen der Fachgeschichte und das inhaltliche Interesse an konkreten Phänomenen zwei Seiten derselben Medaille sind und dass auch die wissenschaftliche Rede über die Phänomene nicht unabhängig von den historisch-sozialen Umständen stattfinden kann. Durch eine Rekonstruktion solcher Umstände eröffnete die Konferenz Zugänge zu einem besseren Verständnis der historischen Debatten. Zugleich machten die Beiträge klar, dass diese Umstände konkrete inhaltliche Konsequenzen haben, und dass entsprechend auch die Argumente selbst unverständlich werden, wenn sie aus ihren historischen Zusammenhängen gelöst werden. Dass dies ausgerechnet an Hamburgers Wissenschaftsprosa vorgeführt wurde, also an Texten, die einem für die Literaturwissenschaften ungewöhnlichen Objektivitätsideal verpflichtet sind, verleiht diesem Befund zusätzliches Gewicht.

Vor allem die in den Diskussionen vorgenommene Analyse der unterbrochenen Traditionslinien erlaubte auch inhaltlich einen neuen Blick auf Hamburgers Texte. Sie stellte zugleich eine überzeugende Verbindung zwischen den fachgeschichtlichen und den rekonstruierend-systematischen Beiträgen her. Diese standen hier nicht, wie es mitunter auf Konferenzen vorkommt, bloß nebeneinander, sondern ergänzten sich zu einem erhellenden Gesamtbild. Die Konferenz vermehrte in diesem Sinne nicht nur das Wissen über Einzelaspekte an Hamburgers Werk, seine historischen Kontexte und über die Gegenstände, von denen es handelt, sondern beleuchtete exemplarisch die zeittypischen Prägungen literaturwissenschaftlicher Theoriebildung.

Mirco Limpinsel

Freie Universität Berlin

Friedrich-Schlegel-Graduiertenschule

Anmerkungen

[1] Vgl. Johanna Bossinade/Angelika Schaser (Hg.), Käte Hamburger. Zur Aktualität einer Klassikerin, (Querelles. Jahrbuch für Frauen- und Geschlechterforschung 8) Göttingen 2003. [zurück]

2013-03-01

JLTonline ISSN 1862-8990

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