Stefan Descher/Anna Magdalena Fenner

Ungleiche Schwestern?

Emotionale Expressivität in Lyrik und Musik

Emotionsausdruck in Lyrik und Musik. Tagung am Courant Forschungszentrum »Textstrukturen«, Georg-August-Universität Göttingen, 8.–9.11.2013.

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit emotionalen Phänomenen ist auch in den Geisteswissenschaften längst keine Randerscheinung mehr. Neben der Psychologie, den Kognitionswissenschaften, der Evolutionsbiologie, der Soziologie, der Linguistik und der Philosophie haben auch die Wissenschaften, die sich primär mit literarischen, musikalischen oder bildnerischen Kunstwerken beschäftigen, das Thema »Emotionen« in den letzten zwei Jahrzehnten für sich entdeckt. Dabei werden nicht selten interdisziplinäre Ansätze gewählt, um sich einem komplexen und noch lange nicht zur Genüge erforschten Phänomen zu nähern. Die Interdisziplinarität der von Christoph Dennerlein und Tilmann Köppe (Göttingen) organisierten und von der Fritz Thyssen Stiftung geförderten Tagung Emotionsausdruck in Lyrik und Musik lag jedoch auch aus einem anderen Grund nahe. Sowohl Lyrik als auch Musik gelten als Kunstformen, die in ausgezeichneter Weise dazu geeignet sind, Emotionen auszudrücken. Zudem scheint zwischen Lyrik und Musik eine besondere Art von Verwandtschaft zu herrschen. In keiner anderen literarischen Gattung spielen Lautqualitäten eine vergleichbar wichtige Rolle wie in der Lyrik. Einige Werke wie Schwitters Ursonate scheinen die Grenzen zwischen Lyrik und Musik sogar vollständig zu verwischen. Daher lag es nahe, Literaturwissenschaftler, Musikwissenschaftler und Philosophen am Göttinger Courant Forschungszentrum »Textstrukturen« zu versammeln, um gemeinsam über Grundfragen emotionaler Ausdrucksqualitäten von Lyrik und Musik und über Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den beiden Gattungen zu diskutieren.

Nach einer Begrüßung durch die Veranstalter führte zunächst Christoph Dennerlein in das Thema ein und steckte das zu untersuchende Terrain durch eine Reihe leitender Fragen ab. Die wichtigste und von zahlreichen Vorträgen aufgenommene Frage lautete, wie es überhaupt zu verstehen sei, dass Musik bzw. Lyrik Emotionen ausdrücken oder bestimmte Ausdrucksqualitäten besitzen könne. Weiterhin sei zu fragen, wie das Verhältnis von Emotionsausdruck und emotionaler Wirkung zu bestimmen sei. Denn offensichtlich könne ein Kunstwerk Trauer oder Freude ausdrücken, ohne dass es ebendiese emotionalen Wirkungen beim Rezipienten hervorrufen müsse. Ferner: Worin unterscheiden sich Lyrik und Musik im Hinblick auf ihre Ausdrucksmöglichkeiten? Lassen sich bestimmte Aspekte von Emotionen (kognitive, phänomenale, artikulatorische, etc.) besonders gut oder auf je spezifische Weise in diesen Kunstformen gestalten? Wie hängen die Ausdrucksqualitäten musikalischer oder lyrischer Werke von anderen Merkmalen, etwa strukturellen oder performativen ab? Welche psychologischen Prozesse begleiten die emotionale Rezeption solcher Werke, inwiefern sind sie historisch bedingt oder abhängig von außerästhetischen Kontexten? Nicht zuletzt stellten sich auch Fragen nach der Rechtfertigung der Zuschreibung von Ausdrucksqualitäten. Was macht Behauptungen wie »Dieses Musikstück bzw. dieses Gedicht ist traurig« richtig oder falsch, wie können sie begründet werden und inwiefern sind sie intersubjektiv überprüfbar? – Diese Fragen markieren ein weites Forschungsfeld, zu dessen Erkundung auf der Tagung erste Schritte gewagt werden sollten.

Wie ist musikalische Expressivität zu erklären? Eine mögliche Antwort darauf skizzierte Peter Rinderle (Tübingen/Konstanz) in seinem Vortrag Die Persona-Theorie der musikalischen Expressivität. Im Zentrum von persona-Theorien steht die These, dass sich kompetente Hörer eines Musikstücks eine Person vorstellen, die sich in einem bestimmten emotionalen Zustand befindet und diesen mit den Mitteln des Musikstücks ausdrückt. Rinderle verteidigte die persona-Theorie gegen konkurrierende Theorien (arousal-Theorien, denen zufolge die Ausdrucksqualitäten von den emotionalen Reaktionen der Hörer abhängen, sowie biographischen Theorien, denen zufolge die Emotionen des Komponisten maßgeblich sind) und betonte, dass sie zwar zunächst im Rahmen der analytischen Musikphilosophie entwickelt wurde, sich aber auch auf andere expressive Künste wie etwa die Lyrik übertragen lasse.

Simone Winko (Göttingen) stellte in ihrem Vortrag »… es ist das traurigste Gedicht, das ich kenne, und doch so wunderschön.« Zur Frage der Ausdrucksqualitäten von Lyrik Überlegungen dazu vor, unter welchen Bedingungen es sinnvoll sein könnte, vom »Ausdruck von Emotionen« in Gedichten zu sprechen. In einem deskriptiven ersten Teil untersuchte Winko, auf welche Weise eine Behauptung wie »Das Gedicht ist traurig« sowohl in der Laienkommunikation (untersucht wurden exemplarische Fälle aus Literatur-Blogs) als auch in professionellen literaturwissenschaftlichen Arbeiten verwendet wird. Anschließend differenzierte sie fünf mögliche Lesarten dieser Behauptung: 1. Traurigkeit sei eine Eigenschaft des Gedichts. 2. Das Gedicht vermittle den Eindruck von Traurigkeit. 3. Das Gedicht mache den Leser traurig (wirke demnach auf reale Leser) 4. Das Gedicht sei in der Lage, den Leser traurig zu machen (hätte demnach ein bestimmtes Wirkungspotenzial) 5. Das Gedicht drücke Traurigkeit aus. Dem Thema der Tagung entsprechend beschränkte Winko die Diskussion auf die fünfte Lesart. Diese sei ihrerseits auf zweifache Weise zu verstehen: 5a. Das Gedicht sei Ausdruck von jemandes Trauer, d.h. der Trauer einer Person. 5b. Das Gedicht zeige Trauer als identifizierbaren emotionalen Zustand, ohne diesen einer bestimmten Person zuzuschreiben. Als vorläufiges Fazit hielt Winko fest, dass die Rede vom »Ausdruck von Emotionen« in literarischen Texten nur dann sinnvoll sei, wenn es einen Sprecher gebe, der eigene Emotionen ausdrücke.

In ihrem Beitrag Was fühlen wir in und durch Musik wirklich? Zu einer empirisch gestützten Theorie ästhetischer Emotionen stellte Melanie Wald-Fuhrmann (Frankfurt am Main) zum einen Ergebnisse der jüngeren emotionspsychologischen Forschung vor und berichtete vom Versuch Genfer Emotionspsychologen, ein Modell bzw. eine Typologie von Emotionen zu entwerfen, die für Musik spezifisch seien (The Geneva Emotional Music Scales [GEMS]). Zum anderen skizzierte sie Überlegungen zu einer »Theorie genuin ästhetischer Emotionen«. Dabei ging Wald-Fuhrmann von der Annahme aus, die in der Kunsterfahrung erlebten Emotionen seien von prinzipiell anderer Art als diejenigen Emotionen, die wir im Alltag erleben. In der anschließenden Diskussion wurde diese Annahme skeptisch beurteilt. U.a. würde sie erklärungsbedürftig machen, weshalb die Beschäftigung mit Kunstwerken für uns attraktiv sein kann, wenn es darin lediglich um artifizielle Emotionen ginge, die zudem nur in einem ganz speziellen Kontext auftreten und ansonsten kaum Verbindungen zu unseren Alltagsemotionen aufweisen würden.

Beate Kutschke (Leipzig) kritisierte in ihrem Vortrag Redeweisen über ›Musik/Lyrik und Emotion/Ausdruck‹ – Warum die Voyager1-Mission bisher so erfolgreich war eine Reihe irreführender Redeweisen, die das Verhältnis von Musik bzw. Lyrik und den Ausdruck von Emotionen betreffen. Analog zur geläufigen, aber wörtlich genommen falschen Behauptung »Jeden Morgen geht die Sonne auf« seien auch solche Aussagen falsch, denen zufolge ein musikalisches oder lyrisches Werk Emotionen besitze oder ausdrücke. Kutschke schlug vor, solche Redeweisen zumindest in wissenschaftlichen Kontexten durch die Rede von Zuschreibungen zu ersetzen. Ausdrucksqualitäten würden Musik und Lyrik lediglich zugeschrieben werden, ohne dass damit Aussagen über die tatsächliche Beschaffenheit der jeweiligen Kunstwerke gemacht würden. Statt der Frage, welche Emotionen musikalische oder lyrische Werke ausdrückten oder gar besäßen, sollten wir sinnvoller danach fragen, welche Eigenschaften von Werken daran beteiligt sind, dass wir beim Hören bzw. Lesen dieser Werke bestimmte Emotionen haben. In der Diskussion wurde gefragt, inwiefern eine solche Zuschreibungstheorie damit vereinbar sei, dass ein Kausalverhältnis zwischen Musik bzw. Lyrik und den emotionalen Reaktionen des Rezipienten bestehe. Wenn nur noch von Zuschreibungen die Rede sei, werde unklar, wie Kunstwerke überhaupt noch emotional auf uns wirken könnten. Kutschke betonte daraufhin, dass ein Kausalverhältnis prinzipiell nicht geleugnet werde. Vielmehr solle ein monokausales Modell, nach dem Musik auf den Hörer einwirke und eine bestimmte Reaktion hervorriefe, durch ein multikausales Modell ersetzt werden, dem zufolge viele Faktoren an den emotionalen Reaktionen von Rezipienten beteiligt seien, die durchaus nicht alle im Kunstwerk selbst verortet werden müssten.

Unter dem Titel »[D]apple-dawn-drawn Falcon« – Literaturwissenschaftliche Praxis und Probleme der Zuschreibung emotionaler Ausdrucksqualitäten zur Lautstruktur lyrischer Texte sprach Claudia Hillebrandt (Jena) über die Zuweisung von Ausdrucksqualitäten an lyrische Texte. Hillebrandt zeigte anhand von Interpretationen Emil Staigers, Richard Alewyns und Reuven Tsurs, auf welche Weise lyrischen Werken für gewöhnlich bestimmte Ausdrucksqualitäten zugesprochen werden. Insbesondere machte sie auf solche Zuweisungen aufmerksam, die die Ausdrucksqualität eines lyrischen Textes mit dessen Lautstruktur korrelierten. In der Regel werde die Zuschreibung solcher Qualitäten jedoch auf der Grundlage einer vorhergehenden semantischen Analyse vorgenommen. Der Lautstruktur werde somit oft erst in einem zweiten Schritt und im Lichte der zuvor erfassten Bedeutung eines lyrischen Textes eine bestimmte Ausdrucksqualität zugewiesen.

Tom Cochrane (Sheffield) stellte in seinem Beitrag Emotional Feelings in Music and Metaphor eine Emotionstheorie vor, der zufolge Körpergefühle (bodily feelings) selbst einen Bedeutungsgehalt (meaningful content) besäßen, insofern sie einen »state of self« präsentieren würden. Körperliche Gefühle seien jedoch von körperlichen Reaktionen (bodily reactions bzw. bodily changes) zu unterscheiden. Körperliche Reaktionen seien ein konstitutiver Teilaspekt von Emotionen, körperliche Gefühle hingegen nicht. Letztere spielen Cochrane zufolge eine große Rolle bei der Wahrnehmung des »state of self«. Eine der zentralen Fähigkeiten von Musik ebenso wie poetischer Sprache (Verse aus Hamlet stellten Cochranes bevorzugtes Beispiel dar) liege nun gerade darin, solche »states of self« zu präsentieren und den Bedeutungsgehalt von Körpergefühlen anschaulich zu machen. In der Diskussion wurde die Frage aufgeworfen, wie es sich mit Emotionen verhalte, die allem Anschein nach nicht mit körperlichen Reaktionen oder Gefühlen einhergingen wie etwa »Neid«. Cochrane deutete lediglich an, dass s.E. sämtliche Emotionen mit körperlichen Vorgängen verbunden seien, ohne dass diese These im Zeitrahmen der Diskussion begründet werden konnte.

Über das Verhältnis von künstlerischer Stilisierung und emotionalem Ausdruck sprach Alexander Becker (Düsseldorf) in seinem Vortrag Musikalische Expressivität und Stilisierung. Becker argumentierte gegen die weit verbreitete musikästhetische Überzeugung, je »natürlicher« (d.h. weniger ästhetisch stilisiert) eine Musik strukturiert sei, desto stärker sei ihre emotionale Ausdruckskraft. Den Grund dieser Überzeugung lokalisierte er in der Annahme, dass Musik gerade dann expressiv sei, wenn sie in einem mimetischen Verhältnis zu »natürlichen« menschlichen Ausdrucksformen stehe. Nachahmungstheorien, die auf dieser Annahme beruhen, wies Becker mit dem Hinweis darauf zurück, dass reale Emotionen in vielfältigen alltäglichen Zusammenhängen auftreten würden und somit »kontextgebunden« seien, während zumindest das »verständige Hören« von Musik (d.h. eine aktive, konzentrierte Rezeption) sich von alltäglichem Verhalten grundlegend unterscheide und Alltagskontexte darin weitgehend ausgeblendet würden. Um zu erläutern, weshalb Musik dennoch als expressiv gelten und reale emotionale Reaktionen bei Hörern hervorrufen könne, führte Becker eine Unterscheidung zwischen Gefühlen einerseits und Emotionen andererseits ein. Gefühle, die beim Hören von Musik hervorgerufen werden, würden erst durch den Hörer zu bestimmten Emotionen gemacht, indem sie gewissermaßen »angereichert« bzw. kontextualisiert würden. Abschließend plädierte er für ein Verständnis musikalischer Expressivität, wonach diese nicht notwendig im Gegensatz zu ästhetischer Stilisierung stehen müsse. Letztere könne, wie Becker am Beispiel des Rezitativs Dormono entrambi aus Bellinis Norma vorführte, vielmehr zur »Artikulation« der vom Hörer erlebten Gefühle beitragen, etwa indem sie das Erleben der Gefühle strukturiere und diese voneinander abgrenze.

Frank Hentschel (Köln) sprach über Das Hymnische in der Musik des langen 19. Jahrhunderts. Unter dem »Hymnischen« verstand Hentschel einen spezifischen »Ausdruckstyp«, der für die Musik des (langen) 19. Jahrhunderts charakteristisch sei und den er im Folgenden durch eine Reihe von Merkmalen näher bestimmte. Zunächst sei das Hymnische als Unterkategorie der »festlichen« Musik zu verstehen, die u.a. durch formale Merkmale wie hohe Lautstärke, Verwendung von Dur-Tonarten, eine hervorgehobene Rolle der Blechbläser, durch getragenes Tempo, (Volks-)Liedhaftigkeit u.a. charakterisiert sei. Zudem würden hymnische Passagen charakteristischerweise ein bis zur Entrückung reichendes Hochgefühl ausdrücken, das nicht selten religiöse oder auch nationalistische Färbung erhalte. Insbesondere sei es das Gemeinschaftsgefühl, das im Hymnischen zum Ausdruck komme. Hentschel machte jedoch deutlich, dass solche inhaltlichen Bestimmungen keine intrinsischen Eigenschaften der jeweiligen musikalischen Werke seien, sondern ihnen aufgrund ihres Gebrauchs in bestimmten historischen Konstellationen und Kontexten zugeschrieben wurden.

Die Tagung ließ vor allem zwei Dinge deutlich werden. Zum einen wurde von einigen Teilnehmern ein Unbehagen gegenüber der Rede vom »Emotionsausdruck« artikuliert. So wurde diese Rede in Bezug auf musikalische oder lyrische Werke mitunter vollständig abgelehnt, es wurden alternative Redeweisen vorgeschlagen oder zumindest Lesarten angeboten, die dazu beitragen sollten, Missverständnisse und problematische Implikationen eines solchen Sprachgebrauchs zu vermeiden. Andere Teilnehmer dagegen wollten an diesem Begriff festhalten, solange damit nicht gemeint sei, dass es sich bei Kunstwerken, die bestimmte Emotionen ausdrücken, um äußere Manifestationen eines inneren Zustands handle. Zum anderen wurde deutlich, dass es sich bei den »Schwesterkünsten« Lyrik und Musik bei aller Nähe um durchaus ungleiche Schwestern handelt, insofern sich bei der Analyse des Emotionsausdrucks unterschiedliche Probleme ergeben. So scheinen etwa emotionsbezogene Analysen der Lautaspekte lyrischer Texte nur unter Bezugnahme auf weitere (insbesondere semantische) Ebenen und deren Interaktion sinnvoll zu sein – ein Umstand, der im Falle (absoluter) Musik keine Rolle spielt.

Das Ziel der Tagung allerdings, zum Dialog zwischen den beteiligten Disziplinen anzuregen, wurde fraglos erreicht. Dass dieser Dialog auch Probleme und Dissense offenbarte, die nicht nur in den Gegenständen (Lyrik und Musik), sondern auch in den unterschiedlichen disziplinären Herangehensweisen und nicht zuletzt in abweichenden, ggf. fachspezifischen Begriffsgebräuchen begründet waren, kann ebenfalls als positives Ergebnis gewertet werden. Viele Fragen, die von den Veranstaltern zu Beginn skizziert wurden, konnten allenfalls am Rande zur Sprache kommen, etwa solche nach der Rechtfertigung der Zuweisung von Ausdrucksqualitäten. Es kamen sogar weitere Fragen hinzu – etwa ob es eine besondere Art von »ästhetischen Emotionen« gebe, die in Kunstwerken zum Ausdruck kommen können. Damit war die Tagung das, was sie sein sollte: eine Ouvertüre, der zu wünschen ist, dass ihre Themen in nachfolgenden Akten aufgegriffen werden.

2013-12-13

JLTonline ISSN 1862-8990

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