Adrian Brauneis

Alter & Ego

Sympathetische Beziehungen in der Methodendiskussion der Literaturwissenschaft

Sympathie & Literatur. Tagung an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, 21.–22.02.2013.

1. Einführung

Es gibt einen Typ von Erfahrung, den die Kultursoziologie als anthropologienahen Tatbestand beschreibt. [1] Mit diesem Begriff wird die Annahme anthropologischer Universalien vermieden. Dadurch findet der Wissensstand der jüngeren Kulturtheorie Berücksichtigung. Bei den Erfahrungen, die die Kultursoziologie mit dem Begriff des anthropologienahen Tatbestandes bezeichnet, handelt es sich um Erfahrungen, die menschliches Leben als solches charakterisieren (oder doch zu charakterisieren scheinen). Wenn davon die Rede ist, dass solche Erfahrungen einen anthropologienahen Tatbestand konstituieren, wird damit zugleich daran erinnert, dass diese Erfahrungen immer auch den soziohistorischen Umständen menschlichen Verhaltens unterliegen. [2] Auch Sympathie konstituiert einen anthropologienahen Tatbestand. Sie ist das Ergebnis der positiven Wertung des Verhaltens eines Menschen (›Alter‹) durch einen anderen Menschen (›Ego‹). Als solches ist Sympathie soziologisch gesehen ein ubiquitäres Phänomen. Wo Menschen andere Menschen beobachten oder als soziale Akteure interagieren, ist Potenzial für Sympathie vorhanden. Die Überlegung, dass Sympathie bei der Beschäftigung mit fiktionaler Literatur eine wichtige Rolle spielen sollte, dürfte daher unmittelbar einleuchten. In fiktionaler Literatur kann Sympathie durch die Darstellung der Interaktion fiktiver Figuren zum Thema werden. Sie kann ferner als Sympathie von Lesern mit fiktiven Figuren auftreten. Auch nach dem Paradigmenwechsel von der Formen- bzw. Strukturgeschichte zur Kulturgeschichte ist das Verhältnis von Sympathie und Literatur nichtsdestotrotz noch weithin unterbelichtet. Gerade weil es sich bei Sympathie jedoch um einen anthropologienahen Tatbestand handelt, hat dieses Versäumnis im Feld der Kulturwissenschaften ein starkes Forschungsdesiderat geschaffen. Um diesem Missstand abzuhelfen, wurde von Claudia Hillebrandt (Jena) und Elisabeth Kampmann (Bochum) die Tagung Sympathie & Literatur ausgerichtet. Veranstaltungsort der Tagung waren am 21. und 22. Februar 2013 die Rosensäle der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

Auftakt der Tagung war eine Einführung der Veranstalterinnen in das Thema der Tagung. In dieser umrissen Hillebrandt und Kampmann den Stand der Forschung zum Verhältnis von Sympathie und Literatur. Am Leitfaden der Fragen und Probleme der Emotionsforschung, die die Veranstalterinnen dabei skizzierten, werden im Folgenden die Beiträge der Tagung vorgestellt: Der erste Abschnitt befasst sich mit Versuchen, Sympathie zu objektivieren. Gegenstand sind hier zudem die Antworten der TagungsteilnehmerInnen auf die Frage nach den Ursachen von Sympathie (vgl. 2.). Im zweiten Abschnitt werden die Antworten dargestellt, die im Verlauf der Tagung auf die Frage nach literarischen Strategien der Sympathielenkung gegeben wurden. In diesem Zusammenhang werden auch die Modelle vorgestellt, die auf der Tagung als Instrumente der Beschreibung literarischer Strategien emotionalisierender Kommunikation präsentiert wurden (vgl. 3.). Im dritten Abschnitt werden diejenigen Beiträge referiert, die konkrete Texte unter dem Gesichtspunkt der Sympathie diskutierten respektive interpretierten (vgl. 4.). Abgeschlossen wird der Tagungsbericht durch einen kurzen Ausblick. Hier wird auf Fragen und Probleme der Emotionsforschung hingewiesen, die im Verlauf der Tagung wiederholt angesprochen, jedoch nicht systematisch beantwortet bzw. entwickelt worden sind.

2. Objektivierung und Ursachen von Sympathie

Eröffnet wurde die Reihe der Tagungsbeiträge durch einen Beitrag Brigitte Scheeles (Köln). Referiert wurde Scheeles Beitrag durch Norbert Groeben (Köln). Unter dem Titel »Empathie und Sympathie bei der Literatur-Rezeption: ein Henne-Ei-Problem?« machte Scheele das Verhältnis von Empathie und Sympathie zum Gegenstand ihres Vortrags. Sie machte dabei den Vorschlag, Empathie und Sympathie in einem Regelkreismodell zu korrelieren. Zu diesem Zweck unterschied Scheele zunächst systematisch zwischen Empathie und Sympathie. Folgende Parameter legte sie ihrer epistemologischen Unterscheidung zugrunde: 1.) Emotions-Fokus (d.i. das Verhältnis von Ego zu Alter); 2.) Realitätsbezug der Emotion (d.i. das die Emotion veranlassende Phänomen); 3.) Dauer. Unter Veranschlagung besagter Parameter charakterisierte Scheele Empathie als die mittelfristige Übernahme der Wertungen von Alter durch Ego (vornehmlich) in Bezug auf Ereignisse und Zustände. Sympathie demgegenüber wurde bestimmt als Wertungsübereinstimmung von mittel- bis langfristiger Dauer zwischen Ego und Alter (vornehmlich) in Bezug auf Eigenschaften und Handlungen. Diese Differenzierung bildete die Grundlage für Scheeles Regelkreismodell. Absicht Scheeles war es, die statische Entgegensetzung von Empathie und Sympathie, wie sie gängige Modelle vornehmen, durch eine dynamische Konzeptualisierung des Verhältnisses von Empathie und Sympathie aufzulösen. Voraussetzung für Sympathie ist nach Scheele Empathie: Wertungsübereinstimmung (Sympathie) kann sich nur dann einstellen, wenn zuvor die Werte von Alter durch Ego identifiziert wurden (Empathie). Vor diesem Hintergrund veranschaulichte Scheele durch ihr Modell, wie Sympathie Empathie intensiviert und diese ihrerseits Sympathie differenziert und stabilisiert. Scheele hat damit eine überzeugende Beschreibung für die Habitualisierung der Disposition sozialer Akteure zur Empathie respektive Sympathie vorgelegt. Die Diskussion nutzte Groeben (stellvertretend für Scheele), um darauf hinzuweisen, dass Scheeles Regelkreismodell keineswegs einen Konflikt von Empathie und Sympathie ausschließt. Vielmehr werde die Möglichkeit, dass sich Empathie und Sympathie in ihrer Intensität auch negativ beeinflussen können, durch das Modell berücksichtigt. Mit ihrem Modell setzte Scheele voraus, moralische Wertungen seien ausschlaggebend für Sympathie. Auch diese These wurde zum Gegenstand der Diskussion; sie blieb jedoch umstritten (s. dazu Pkt. 5.1).

Tilmann Reitz (Jena) ging in seinem Vortrag »Koordiniertes Fühlen. Empfindung und emotionale Zustände in literarischer Kommunikation« von der These Niklas Luhmanns aus, Kunst mache Wahrnehmung kommunizierbar, also im systemtheoretischen Sinne allererst gesellschaftsfähig. Diese These wirft für das Verständnis von Wortkunst die Frage nach dem funktionalen Äquivalent literarischer Werke zur sinnlichen Unmittelbarkeit bildender Kunst auf. Diese Frage lag Reitz’ Erörterung der Möglichkeit literarischer Werke, Emotionen zu kommunizieren, zugrunde. Die Materialität des Mediums von Wortkunst mache es möglich, Emotionen zu kommunizieren: Werke fiktionaler Literatur reproduzierten nicht nur lexikalisiertes Wortmaterial. Sie aktualisierten die konventionalisierte Semantik von Worten durch die Einbettung dieser Worte in einen spezifischen Kotext. Auf diesem Weg kommunizierten literarische Werke durch die von ihnen verwendeten Worte Emotionen, die sich nicht in dem ursprünglichen Konnotationsspektrum dieser Worte erschöpften. Vorbehalte wurden im Anschluss an den Vortrag gegenüber Reitz’ emotionstheoretischer Unterscheidung von bildender und Wortkunst geäußert. Diese wurde zum Gegenstand der Kritik, weil der Referent mit ihr unterstellt hatte, im Fall bildender Kunst erzeuge sinnliche Unmittelbarkeit eine emotionale Reaktion. Demgegenüber sei eine emotionale Reaktion auf Wortkunst nur mittelbar durch die Entschlüsselung der verwendeten Lexeme möglich. Dagegen wurde eingewendet, dass von unmittelbarer Wahrnehmung auch im Fall bildender Kunst nicht die Rede sein könne. Gegenstand der Wahrnehmung sei vielmehr das Bild, das ein Kunstwerk durch die Verwendung von Formen und Farben im Kopf des Rezipienten erzeuge. Der Referent beharrte diesem Einwand zum Trotz auf der Eigenart von Wortkunst. Reitz unterstrich am Ende der Diskussion noch einmal seine Feststellung einer generischen Differenz von bildender und Wortkunst: Die Vorstellungen, die Wortkunst erzeuge, seien sich von Leser zu Leser relativ ähnlich, weil die Semantik des Wortmaterials lexikalisch normiert sei. Für eine solche relativ große Homologie der Vorstellungen, die Wortkunst erzeuge, fehlten im Bereich der bildenden Kunst hingegen die Voraussetzungen. Der Rezipient sehe sich immer wieder auf die sinnliche Unmittelbarkeit der bildenden Kunst zurückgeworfen. Diese erzeuge eine Vorstellung, die letztlich intersubjektiv unzugänglich bleibe. Im Fall bildender Kunst fehle eine den Lexemen der Wortkunst vergleichbare Normierung der Bedeutungsträger.

Wie Scheele hat auch Tilmann Köppe (Göttingen) die These vertreten, dass Sympathie Empathie zur Voraussetzung hat. Sympathie begriff Köppe als Ergebnis der Übernahme fremder Eigenschaften durch Ego. Die Identifikation der Eigenschaften von Alter ist dementsprechend Voraussetzung für Sympathie. Die Frage, ob auch mit Blick auf fiktive Personen sinnvoll von Sympathie die Rede sein könne, war Gegenstand von Köppes Vortrag »Sympathie mit fiktiven Personen. Theoretische Perspektiven«. Wenn Sympathie als komplexe Verhaltensstruktur definiert wird (wie etwa Freundschaft), dann müsse diese Frage eindeutig verneint werden: Weil man mit den fiktiven Figuren fiktionaler Literatur nicht interagieren könne, sei Sympathie apriori ausgeschlossen. Dieses Ergebnis ist freilich unbefriedigend. Allenthalben lässt sich beobachten, dass Rezipienten fiktionaler Literatur Sympathie für fiktive Personen empfinden. Um diesen Tatbestand erklären zu können, entwickelte Köppe die These, Sympathie für fiktive Figuren stelle sich im Akt der Vorstellung fiktiver Welten ein. Dabei definierte Köppe zwei Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit sich Sympathie mit fiktiven Figuren einstellt: 1.) Der Rezipient müsse sich für die Dauer der Rezeption die Werte zu eigen machen, die für die fiktiven Figuren verpflichtend sind. 2.) Die fiktiven Figuren handeln diesen Werten entsprechend. Sind diese beiden Bedingungen erfüllt, so ist auch die conditio sine qua non für Sympathie erfüllt. Nun kann sinnvoll von Wertungsübereinstimmung zwischen Ego (dem Rezipienten) und Alter (den fiktiven Figuren) gesprochen werden. Im Verlauf der Diskussion wurden insbesondere Zweifel an der Bestimmung von Sympathie als einer komplexen Verhaltensstruktur geäußert. Grund der Kritik war die Kategorie der Interaktion. Gegen Köppe wurde eingewendet, sie widerspreche Intuitionen über die Ursachen von Sympathie. Dieser Einwand ließ die Vermutung aufkommen, Köppe habe das Problem allererst geschaffen, das er in seinem Vortrag gelöst hat. Diesem Einwand steht allerdings der explanatorische Mehrwert des Sympathiekonzepts Köppes gegenüber (s.u.). Seine Theorie zur Sympathie mit fiktiven Personen erlaubte es Köppe zu erklären, warum Rezipienten fiktionaler Literatur auch dann Sympathie empfinden, wenn die Werte einer fiktiven Person nicht ihren eigenen Werten entsprechen.

3. Strategien der Sympathielenkung und Modelle ihrer Beschreibung

Tom Kindt (Jena) und Kai Sina (Göttingen) rekonstruierten die sympathetische Wirkungskonzeption der Filme Woody Allens. In ihrem Vortrag »Sympathie und Komik. Zu Woody Allens Menschenfreundlichkeit« gingen sie von der These aus, Allen reagiere auf die Erfahrung von Vereinzelung und Orientierungslosigkeit unter den Bedingungen der Moderne. Seine Filme seien Medium der Vergemeinschaftung. In diesem Sinne ziele die Wirkungsintention der Filme Allens auf etwas ab, was sie auf der Ebene der Handlung selbst darstellten: ein emphatisches Kunsterlebnis als Quelle von Sympathie. Sympathie wurde dabei dem ursprünglichen Wortsinne nach als Gemeinschaftsgefühl begriffen. In der zwischenmenschlichen ›Wärme‹ der Gemeinschaft vermittle sich dem Rezipienten eine Vorstellung vom glücklichen Leben. Indem sie die Möglichkeit dieser ›Wärme‹ behaupteten, versuchten die Filme Allens, die Nihilismusdiagnose der Moderne zu relativieren. Der zweite Teil des Vortrags war dem sympathetischen Verhältnis zwischen den Rezipienten der Filme Allens und den komischen Figuren dieser Filme gewidmet. Den komischen Effekt der Komödien Allens erläuterte Kindt. Grundlage seiner Überlegungen war Lessings dramentheoretisches Konzept des Mitlachens. Die Figuren Allens, so Kindt, wirkten komisch aufgrund der Inkongruenz zwischen den Erfahrungen dieser Figuren und ihren Reaktionen auf diese Erfahrungen. Dabei stelle sich durch die Sympathie des Zuschauers mit den Figuren Allens auf Seiten des Rezipienten ein Prozess kritischer Selbstreflexion ein. Wenn der Rezipient über die Neurosen dieser Figuren lache, dann werfe das für ihn zugleich die Frage nach der Angemessenheit seiner Reaktion auf die vielfach beschworene transzendentale Obdachlosigkeit des modernen Subjektes auf. Auf diese Weise übe die komische Unterhaltung der Filme Allens einen therapeutischen Effekt aus. In der Diskussion wurde die Frage nach dem Konservatismus der Lustspiele Allens sowie ihrer werkimmanenten Reflexion gestellt. Diese Frage drängt sich in Anbetracht der forcierten Versöhnlichkeit der Filme Allens nachgerade auf. Mit ihr wurde eine Perspektive für zukünftige Untersuchungen des filmischen Œuvres von Woody Allen eröffnet.

Katharina Prinz und Simone Winko (beide Göttingen) präsentierten mit ihrem Vortrag »Sympathielenkung und textinterne Wertungen. Methodische Überlegungen« ein Modell der Sympathiepotenziale fiktionaler Literatur. Mit diesem Modell entwickelten sie ein Instrument, das es erlaubt, die Lenkung der Sympathie von Lesern fiktionaler Literatur mit fiktiven Personen durch die Bestimmung texteigener Wertungen zu rekonstruieren. Die Referentinnen legten dabei denselben Sympathiebegriff wie auch Scheele und Köppe zugrunde: Sympathie stelle sich durch die positive Wertung des Handelns von Alter durch Ego ein. Voraussetzung hierfür sei die empathische Bezugnahme von Ego auf Alter. Im Vortrag selbst wurde besagtes Modell als werkzentriertes Beschreibungsinstrument vorgestellt. In der anschließenden Diskussion erörterten die Referentinnen die intentionalistische Bedeutungskonzeption ihres Modells: Prinz und Winko betonten in diesem Zusammenhang mit wünschenswerter Deutlichkeit, dass sie sich mit der Rede von der Werteordnung eines literarischen Werks auf die Werte des empirischen bzw. hypothetischen Autors bezogen. Der literarische Text selbst wurde in diesem Sinne als Medium begriffen, das die Werte eines empirischen oder hypothetischen Autors vermittelt. Der soziokulturelle Kontext der Produktion respektive Adressierung literarischer Werke sei daher bei der Bestimmung texteigener Wertungen fiktionaler Literatur nicht zu vernachlässigen. Er stellt den axiologischen Bezugsrahmen der Autoren fiktionaler Literatur dar. Wo dieser Kontextbezug fehlt, erschließe sich dem Interpreten die Werteordnung eines literarischen Textes und dessen Sympathiepotenzial nicht: Werte und damit Sympathie sind soziokulturell variabel. Der Bezug auf die Lebenswelt der Autoren fiktionaler Literatur ist mithin unabdingbar, wenn das Ziel die Bestimmung texteigener Wertungen sein soll. Wo auf ihn verzichtet wird, setzt sich der Rezipient der Gefahr einer präsentistischen Deutung aus. In diesem Fall hat er nicht die Werte eines literarischen Texts bestimmt, sondern lediglich seine eigenen Werte aus diesem herausgelesen. Die Kenntnis der Werte der Autoren fiktionaler Literatur ist also Voraussetzung für die Bestimmung texteigener Wertungen. Ob sich tatsächlich Sympathie einstellt, hängt dann davon ab, ob der Rezipient die Werte teilt, die ein literarisches Werk durch seine positive Wertung einer fiktiven Person zum Ausdruck bringt. Texteigene Wertungen seien über die Informationen zu erschließen, die ein literarischer Text über seine fiktiven Figuren vergibt. Zu berücksichtigen sei überdies auch die Weise der Informationsvergabe. Zu bedenken sei dementsprechend, wer Informationen vergibt und wie dies geschieht. Mittel der Sympathielenkung sei ferner die Menge der vergebenen Informationen sowie ihre Platzierung in der Chronologie der Darstellung. Diskutiert wurde auch die Frage nach dem Einfluss der ästhetischen Qualitäten literarischer Texte auf ihr Sympathiepotenzial. Prinz und Winko verneinten diese Frage: Die ästhetischen Qualitäten eines literarischen Texts nähmen keinen Einfluss auf sein Sympathiepotenzial. Dieses lasse sich unabhängig von den ästhetischen Qualitäten fiktionaler Literatur über die Figureninformationen bestimmen, die ein literarisches Werk vergibt.

Die Bestimmung des Sympathiepotenzials fiktionaler Literatur war auch Gegenstand von Thomas Anz’ (Marburg) Vortrag »Regeln der Sympathielenkung. Normative und deskriptive Poetiken emotionalisierender Figurendarstellung«. Wie Prinz und Winko ging es Anz um die intendierten Wirkungspotenziale fiktionaler Literatur. Daher spielten hier wie auch in den anderen Tagungsbeiträgen empirische Rezeptionszeugnisse keine Rolle. Anz ging in seinen Überlegungen von der Poetik des Aristoteles aus. Auf ihrer Grundlage entwickelte er eine allgemeine Theorie emotionalisierender Kommunikation. Diese Theorie hat Anz in Form eines Regelkanons dargestellt. Die erste und wichtigste Maxime dieses Regelkanons lautete: Ob eine Handlung Sympathie weckt, wird nicht dadurch beeinflusst, ob das Subjekt der Handlung real oder fiktiv ist. Ausschlaggebend ist eine Korrespondenz der Werte von wahrnehmendem Ego und handelndem Alter. Und die kann sich auch dann einstellen, wenn Alter fiktiv ist. Daher ist die Pointe des Vortrags: Fiktionale Literatur schaffe Sympathiepotenzial, indem sie allgemein geteilte Wertungsdispositionen bediene. Anz’ Theorie erlaubte es allerdings nicht, Sympathie für fiktive Figuren zu erklären, deren Werte nicht denen des Rezipienten entsprechen. Vor diesem Hintergrund erweist sich der explanatorische Mehrwert der These Köppes von der Übernahme fremder Eigenschaften. Wenn eine fiktive Person den für sie verpflichtenden Werten gemäß handelt, erklärt die Übernahme der Eigenschaften von Alter durch Ego die Sympathie mit Figuren, deren Handlungen nicht mit den lebensweltlichen Wertestandards der Rezipienten kompatibel sind. Ob sich eine allgemeine Theorie emotionalisierender Kommunikation auf der Grundlage eines antiken Texts wie der Aristotelischen Poetik sinnvoll formulieren lässt, erscheint also fraglich. Dem Interesse moderner Literatur an der Darstellung moralisch ambivalenter Figuren wird die Poetik des Aristoteles schlechterdings nicht gerecht. Das unbestreitbare Verdienst des Vortrags von Anz besteht demgegenüber darin, auf ein literaturgeschichtlich wirkungsmächtiges poetologisches Regelwissen hingewiesen zu haben. Auch wenn sie für die Formulierung einer allgemeinen Theorie emotionalisierender Kommunikation also ungeeignet ist, kann die Aristotelische Poetik im Bemühen um die Rekonstruktion der Wirkungspotenziale konkreter literarischer Texte dennoch sinnvoll Berücksichtigung finden.

4. Heuristische Fruchtbarkeit der Frage nach Sympathieeffekten

Der mediävistische Vortrag Friedrich Michael Dimpels (Erlangen), »Tabuisierung und Dunkelheit – Probleme der Sympathiesteuerung in der Melusine Thürings von Ringoltingen«, stellte eine Studie zu den sympathetischen Wirkungspotenzialen der Melusine vor. Über eine detaillierte Analyse von Handlungs- und Darstellungsebene des vormodernen Texts gelangte Dimpel zu der Erkenntnis, dass sich keine eindeutige Strategie textimmanenter Sympathielenkung rekonstruieren lasse. Das intendierte sympathetische Wirkungspotenzial des Textes bleibe buchstäblich im Dunkeln. Dimpel führte diese Dunkelheit der Textbedeutung namentlich auf Beschränktheit und Inkohärenz der Informationen zurück, die der Rezipient über die Figur der Melusine erhält, sowie darauf, dass auch die Kommentare der Erzählstimme keine verlässliche Orientierung böten. Mithin bestätigen die Textbefunde Dimpels anschaulich die von Prinz und Winko diskutierte Relevanz der Figureninformationen für die Sympathie mit fiktiven Personen.

Andreas Degen (Potsdam) eröffnete mit seinem Vortrag »Sympathie und Faszination. Zum Verhältnis zweier wirkungsästhetischer Konzepte im Anschluss an Moses Mendelssohn« eine Perspektive auf die historische Tiefendimension der systematischen Bemühungen um die Konzeptualisierung von Sympathieeffekten. Quellengrundlage der Überlegungen Degens bildeten Mendelssohns Arbeiten Über die Empfindungen (1755) und Über das Erhabene und Naive in den schönen Wissenschaften (1758). Sympathie bestimme Mendelssohn als Mitleid. Als solches stelle sie sich durch die Erfahrung des Mangelzustands von etwas Vollkommenem ein, das aufgrund seiner Vollkommenheit Bewunderung finde. Darüber hinaus erweiterte Degen die Methodendiskussion der Tagung mit der Vorstellung von Mendelssohns Konzept der Faszination. Wie im Fall von Mitleid lasse sich auch Aufmerksamkeitsbindung durch Faszination durch das Bedürfnis nach einem Lusterlebnis auf Seiten des Rezipienten erklären.

Die Möglichkeit der Sympathie für eine unmoralische Figur diskutierte Julia Genz (Tübingen) am Beispiel von Heinrich Manns Professor Unrat. Ihr Vortrag trug den programmatischen Titel »›Sympathischer Unsympath‹ – Heinrich Manns Professor Unrat«. Sympathie begriff Genz dabei als Sonderform der Empathie. Auch ihr Vortrag entsprach damit dem von den TagungsteilnehmerInnen allgemein geteilten Sympathiebegriff: Sympathie wurde als eine positive Wertschätzung Alters durch Ego begriffen, die auf der Identifikation der Werte einer handelnden Person beruht. Im Anschluss an die Klärung ihres Sympathiebegriffs rekonstruierte Genz das sympathetische Wirkungspotenzial von Manns Roman. Die Referentin unterschied drei Phasen der Entfaltung dieses Wirkungspotenzials: 1.) Antipathie; 2.) Mitleid; 3.) Sympathie. Mitleid stelle sich ein, wenn der Leser vermittels interner Fokalisierung einen unverstellten Einblick in den Gefühlshaushalt des Professors Rat erhalte. In diesen Passagen vermittle sich ein Eindruck von der Unbeholfenheit und Naivität Unrats im Umgang mit seiner Umwelt. Diese Eigenschaften wiesen ihn als ewigen Schüler des Lebens im Allgemeinen sowie in Sachen der Liebe im Besonderen aus. Dadurch sei die Voraussetzung für Sympathie geschaffen. Auf Seiten des Lesers, so Genz’ Hintergrundannahme, könnten persönliche Erfahrungen mit der Rolle des Schülers vorausgesetzt werden. Diese geistige Verwandtschaft disponiere zur Sympathie mit einer aufs Ganze gesehen unsympathischen Figur. Genz’ Vortrag zeichnete sich insbesondere durch eine überwiegend überzeugende narratologisch fundierte Analyse einzelner Passagen des Mann’schen Romans aus. Die Frage nach dem heuristischen Mehrwert dieser Analyse blieb jedoch offen. Wünschenswert wären einige Bemerkungen zum Nutzen von Genz’ Rekonstruktion des Sympathiepotenzials von Manns Professor Unrat für eine Gesamtinterpretation des Romans gewesen.

Abgeschlossen wurde die Tagung durch Jens Ewen (Jena) mit dem Vortrag »Deutungsangebote mit Sympathiepunkten. Zu einigen narrativen Strategien in Thomas Manns Doktor Faustus«. Bei seiner Interpretation des Doktor Faustus wählte der Referent einen problemgeschichtlichen Deutungsansatz. Mit dem Doktor Faustus, so Ewens These, habe Mann versucht, eine Erklärung für die faschistische Barbarei des Nationalsozialismus zu geben. Dabei sei Mann von der These der Kollektivschuld ›der Deutschen‹ am nationalsozialistischen Faschismus ausgegangen. Vor diesem Hintergrund fragte der Referent nach den narrativen Darstellungstechniken, derer sich Mann bedient habe, um seine Kollektivschuldthese zu entwickeln. Das Sympathiekonzept bildete den Ausgangspunkt von Ewens Deutung. Thematisch werde Sympathie im Roman im Verhältnis von Serenus Zeitblom und Adrian Leverkühn. Und weil jener zugleich homodiegetischer Erzähler des Romans ist, wirke sich Sympathie nicht nur auf der Handlungsebene des Doktor Faustus, sondern auch auf der Darstellungsebene des Romans aus. Die Problematisierung des sympathetischen Verhältnisses von Zeitblom und Leverkühn durch den Rezipienten veranlasse Mann durch die axiologische Unzuverlässigkeit der Erzählerfigur. Durch die Unzuverlässigkeit des Erzählers schaffe der Roman eine Distanz zwischen dem vermeintlich sympathischen Zeitblom und dem (aufmerksamen) Leser. Die Distanz zwischen Darstellung und Rezipient bilde ihrerseits die kognitive Voraussetzung für ein kritisches Hinterfragen der Werte, die die Sympathie Zeitbloms für den Künstler Leverkühn motivieren. Freilich mache die Erkenntnis, dass der Erzähler als unzuverlässiger nicht Repräsentant der Werteordnung des Romans als solchem (und seiner Geschichtsdeutung) ist, die Suche nach textexternen Quellen der Hypothesenbildung über die normative Werteordnung des Doktor Faustus unumgänglich. Sie finde der Leser in den parallel zum Roman erschienenen Reden und Aufsätzen Thomas Manns, in denen dieser seine Kollektivschuldthese vorträgt. Mit diesem Wissen ausgestattet, lasse sich die Sympathie des Erzählers für Leverkühn als Exemplifikation der Faszination lesen, die der kulturkritische Diskurs der Weimarer Republik (nach Mann) auf das deutsche Bildungsbürgertum ausgeübt habe.

5. Ausblick

Die programmatische Einführung von Hillebrandt und Kampmann ebenso wie die Vorträge und Diskussionen der Tagung wiesen auf einige Forschungsprobleme hin, die während der Tagung nur am Rande thematisiert worden sind. Zum Abschluss des vorliegenden Berichts seien mit ihrer kursorischen Benennung Perspektiven für zukünftige Forschung angedeutet:

  1. Es wurde die Frage aufgeworfen, ob Sympathie stets in erster Linie das Ergebnis einer moralischen Wertschätzung ist. In diesem Zusammenhang wurde auch das Verhältnis von Moral und Ästhetik diskutiert. Die Frage, ob ein Autor fiktionaler Literatur moralisch fragwürdige Figuren durch die Ästhetik seiner Darstellung dieser Figuren sympathisch machen kann, wurde dabei m.E. noch nicht befriedigend geklärt. Der Versuch, eine Antwort auf diese Frage zu geben, könnte an den angloamerikanischen Ethical Criticism anschließen. Namentlich Mary Deveraux hat gezeigt, dass die Ästhetisierung der Vergabe von Figureninformationen gezielt eingesetzt werden kann, um eine bestimmte Deutung fiktiver Personen nahe zu legen. [3]

  2. Weitgehend unterbelichtet blieb das Verhältnis von Literatur und Sympathie in gattungsgeschichtlicher Hinsicht. In dieser Hinsicht setzte nur Tilman Reitz einige Schlaglichter. Dieser beendete seinen Vortrag mit einer These zum Zusammenhang von Emotionsgeschichte und der Evolution der Gattung des Romans: Die Romanform, so Reitz, habe sich als symbolisches Instrument der Vermittlungen von Empfindungen im Kommunikationszusammenhang der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft der Moderne entwickelt. Die systematische Verknüpfung von Emotions- und Gattungsgeschichte stellt hingegen auch nach der Tagung noch ein Desiderat der Forschung dar. Zu fragen wäre etwa nach der Eignung einer bestimmten Gattung als Instrument emotionalisierender Kommunikation.

  3. Wie aus dem vorliegenden Bericht hervorgegangen sein sollte, waren die Beiträge der Tagung überwiegend werkzentriert. Dementsprechend unberücksichtigt blieb die Selbstinszenierung des empirischen Autors in den Diskussionen des Verhältnisses von Sympathie und Literatur. Es wurde zwar der zweifellos berechtigte Vorbehalt gegenüber der biographistischen Lektüre fiktionaler Literatur geäußert. Dieser Vorbehalt sollte jedoch nicht dazu verleiten, die Bedeutung der Selbstinszenierung von Autoren mit Blick auf das Verhältnis von Sympathie und Literatur unbesehen zu verneinen. Insbesondere eine Untersuchung des literarischen Feldes des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts sollte die öffentliche Selbstinszenierung von Autoren fiktionaler Literatur berücksichtigen. Die Positionierung von Autoren der Gegenwartsliteratur vermittelt sich schließlich nicht nur durch Printmedien. Sie drängt sich den Rezipienten literarischer Werke durch Radio, Fernsehen und vor allem das Internet nachgerade auf. Mit Hilfe von Pierre Bourdieus Feldtheorie sollte eine Klärung der Bedeutung der Selbstinszenierung von Autoren für die Wahrnehmung ihrer Werke möglich sein. Bourdieus Kunstsoziologie erlaubt es, die Frage danach zu stellen, inwiefern das symbolische Kapital von Autoren fiktionaler Literatur, das diese in den Medien demonstrativ zur Schau stellen, die Rezeption ihrer Werke beeinflusst und somit zumindest mittelbar auch Einfluss nimmt auf das Verhältnis von Sympathie und Literatur.

Adrian Brauneis

Friedrich-Schiller-Universität Jena

Institut für germanistische Literaturwissenschaft

Anmerkungen

[1] Der Begriff stammt von Wolf Lepenies, Geschichte und Anthropologie. Zur wissenschaftshistorischen Einschätzung eines aktuellen Disziplinenkontakts, Geschichte und Gesellschaft 1 (1975), 325–343, hier 338. [zurück]

[2] Vgl. ebd., 330 und 338. [zurück]

[3] Vgl. Mary Devereaux, Beauty and Evil. The Case of Leni Riefenstahl’s Triumph of the Will, in: Jerrold Levinson (Hg.), Aesthetics and Ethics. Essays at the Intersection, Cambridge, U.K. et al. 1998, 227–256. [zurück]

2013-05-15

JLTonline ISSN 1862-8990

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