Elisabeth Böhm/Katrin Dennerlein
Das generische Feld des Bildungsromans
Der Bildungsroman im literarischen Feld. Neue Perspektiven auf eine Gattung mit Bourdieus Feldtheorie. Internationale, DFG-finanzierte wissenschaftliche Tagung. Universität Bayreuth, 19.–21.04.2013.
Die Feldtheorie Pierre Bourdieus hat in die Literaturwissenschaft Eingang gefunden. Neuere Einführungen in methodisches Arbeiten oder aktuell relevante Literaturtheorien stellen sie vor und präsentieren sie zum Beispiel als Möglichkeit, die Sozialgeschichte der Literatur neu zu denken. In der literaturwissenschaftlichen Verwendung von Bourdieus Feldtheorie standen bisher der literarische Markt, Sozioanalysen fiktionaler Welten, die Positionierung von Autoren im Feld mittels ihrer Texte und Analysen des Literaturbetriebs im Vordergrund. Die Tagung zum Bildungsroman im literarischen Feld nahm dagegen ihren Ausgangspunkt bei der Gattungsgeschichtsschreibung und setzte sich zum Ziel den Mehrwert der Bourdieu’schen Konzepte für die Beschreibung von Innovationsleistung und Gattungsbezug einzelner Bildungsromane zu überprüfen. Der Gegenstand bot sich dafür auf Grund seiner Relevanz im disziplinären Kanon ebenso an wie wegen der offensichtlichen Aporien in seiner Erforschung: Bereits mehrfach wurde die Gattung im Anschluss an ein normatives Gattungsverständnis im Hegel’schen bzw. Dilthey’schen Sinne als ›unerfüllt‹ (und offenbar unerfüllbar) erklärt bzw. der des europäischen Entwicklungsromans einverleibt. Als Etikett und Gegenstand der Forschung erfreut sie sich aber dennoch ungebrochener Beliebtheit. Hier sollte eine Konzeption der Gattung als literarisch-soziales Ereignis die Kontroversen aufbrechen, die von einer primär merkmalsbezogenen Sichtweise bestimmt sind. Zum anderen besteht eine auffällige Diskrepanz zwischen der Problematisierung der Gattung in der deutschsprachigen Germanistik und ihrer Apostrophierung als der deutschen Gattung schlechthin in der internationalen Germanistik. Die Möglichkeit mit Bourdieu von verschiedenen nationalen literarischen und wissenschaftlichen Feldern auszugehen, die jeweils ihrer eigenen Logik gehorchen, erwies sich zur Erklärung dieser Unterschiede als besonders hilfreich.
Die ersten Beiträge der Tagung beschäftigten sich mit dem Phänomen der Gattungsbegründung. Statt auf Merkmale oder auf die Konstanz bzw. Relevanz einzelner Motive zu fokussieren, wie in der bisherigen Forschung üblich, standen folgende Aspekte der Feld-Organisation im Zentrum: Wie ist das literarische Feld beschaffen und inwiefern baut ein Autor, indem er einen Text in einer bestimmten Weise gestaltet, eine spezifische Differenz zu anderen Texten des Feldes auf? Aus welcher Position heraus strebt ein Akteur des Feldes eine bisher nur im virtuellen Raum des Möglichen präsente Feldposition an und wie ist die Positionierung (der Text als ästhetisches Werk, seine Publikation, die begleitende Kommunikation) beschaffen, d.h. wie unterscheidet sie sich von bisherigen, ggf. ja durchaus ähnlichen? Welcher Text begründet eine Tradition in dem Sinn, dass der Anschluss an ihn symbolisches Kapital verspricht?
In den weiteren Beiträgen wurde deutlich, dass eine feldtheoretische Konzeption darüber hinaus die Möglichkeit bietet, den Wandel der Gattung Bildungsroman sowohl in Relation zu den aktuellen Strukturen des Feldes als auch als innovative Fortschreibung einer Traditionslinie zu beschreiben. Ausgehend von der Beobachtung, dass gerade diejenigen Autoren Bildungsromane verfassen, welche eine starke, auf Führung ausgerichtete Feldposition anstreben und verteidigen, ließ sich der innovative Einsatz der Gattung als Positionierungsstrategie verstehen. Aspekte der Form (mediale Komponenten, Erzähltechniken) und der Bedeutungsproduktion (Motive, Symbole etc.) ließen sich als Strategeme und so als spezifisch textuelle Dimension sozialer Kommunikation deuten.
Der Gattungsbeginn war Thema in Katrin Dennerleins (Würzburg) Vortrag »Wilhelm Meisters Lehrjahre als erster Bildungsroman«. Sie verfolgte in ihrem Beitrag eine doppelte Fragestellung: Zum einen fragte sie nach dem Mehrwert einer feldtheoretischen Gattungskonzeption gegenüber bisherigen sozialgeschichtlichen Ansätzen, insbesondere der Konzeption von Gattungen als ›literarisch-sozialen Institutionen‹. Zum anderen widmete sie sich der Frage, ob sich der Beginn der Gattung Bildungsroman bereits sinnvoll mit Wielands Geschichte des Agathon ansetzen lasse. Sie zeigte, dass Goethes und Wielands Romane trotz einiger Gemeinsamkeiten und dem Vorbildcharakter Wielands für Goethe als recht unterschiedliche literarische Ereignisse verstanden werden müssen. Wielands Geschichte des Agathon werde zwar als Erneuerung des deutschsprachigen Romans rezipiert, werde dennoch trotz ihrer Vorbildfunktion nicht zum Prototyp einer neuen Gattung, weil man in Produktion und Rezeption immer noch stärker an englische Vorbilder anschließe und Wieland demnach eher in seiner Adaptionsleistung nachahme. Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre werde dagegen nach einer anfänglichen Phase der Ratlosigkeit als bahnbrechende Neuerung ohne Vorbild gehandelt, die es in vielerlei Hinsicht nachzuahmen und dabei zu übertreffen gelte. Dennerlein zeigte, dass die Unterschiede im Entwicklungs- bzw. Bildungskonzept, die Art der Bedeutungskonstitution, die Erzählweise und die divergierende habituelle Prägung der beiden Autoren für diese Positionierung von großer Bedeutung sind. Als ausschlaggebend identifizierte sie allerdings die je unterschiedliche Positionierung des Autors im Feld: Während Wieland mit der Schließung des Feldes zur Arrière-garde erklärt wird, nimmt Goethe mit Wilhelm Meisters Lehrjahre analog zu seiner ersten Revolution im Feld (mit dem Werther) die Position des Erneuerers und Traditionsbegründers ein. Hinsichtlich der Frage nach dem Nutzen verschiedener sozialgeschichtlicher Modellierungen zeige sich folgendes Ergebnis: Um die Rezeption der Geschichte des Agathon zu erfassen, reicht es aus, mit Vosskamp textuelle Merkmale, Lesererwartungen und historische Problemstellungen zu berücksichtigen. Will man das Phänomen Wilhelm Meisters Lehrjahre beschreiben und in Abgrenzung zum Agathon erfassen, erlaubt die spezifisch für relativ autonome Felder entwickelte Theorie von Bourdieu jedoch eine tiefer gehende und adäquatere Analyse.
Norbert Christian Wolf (Salzburg) schloss direkt an, indem er die frühromantische Reaktion auf Wilhelm Meisters Lehrjahre an Novalis’ theoretischen und praktischen Auseinandersetzungen mit Goethes Roman analysierte (»›…wird und muß übertroffen werden.‹ Novalis’ Heinrich von Ofterdingen als Antwort auf Goethes Gattungsbegründung«). Er zeigte den Widerlegungs- und Überbietungswillen von Novalis in textuellen Mikro- und Makrostrategien. Die wichtigsten Unterscheidungen las er als Abgrenzung vom als Wegmarke begriffenen Wilhelm Meister, aber auch als genuin romantische Positionierung. Dazu gehört die Verlegung der Handlung ins Mittelalter, um der Orientierung am Prosaischen und der Ökonomie im Wilhelm Meister eine Welt entgegen zu stellen, die ganz von der Poesie bestimmt ist und in der das Gottesgnadentum und die Religion im Allgemeinen restituiert werden. Trotz einiger Gemeinsamkeiten mit Wilhelm Meisters Lehrjahren (zum Beispiel der Konzentration auf die Form und die Schwärmer-, Melancholie- und Hypochondriekur) überwiegen die Verschiedenheiten. Wie eng dabei Text- und Autorstrategie verzahnt sind, zeigte Wolf an der Konzeption der Figuren, die im Roman des altadligen Friedrich von Hardenberg aus adliger Sphäre stammen und so den bürgerlichen Figuren Goethes, des neu Geadelten, überlegen scheinen, indem sie dem Zwang, sich ökonomisch etablieren zu müssen, enthoben agieren können.
Peer Trilcke (Göttingen) widmete sich in seinem Beitrag »Pustkuchens Feldzug. Die Pseudo-Wanderjahre in der Feldgeschichte des Bildungsromans« den von J.F.W. Pustkuchen in den 1820er Jahren veröffentlichten Fortschreibungen des Wilhelm Meister-Stoffes. Während diese Texte bisher auf Grund einer primär merkmalsorientierten Forschung nicht als Bildungsromane gelesen worden seien, müssten sie aus feldtheoretischer Perspektive wegen ihrer expliziten Anknüpfung an Goethes Roman und dessen Fortschreibung notwendig innerhalb der Genregeschichte behandelt werden, wobei zwei Aspekte von besonderem Interesse seien: Erstens wurden die Texte Pustkuchens im Feld zu einem Ereignis, das Stellungnahmen gezeitigt habe und so auch poetologische Positionierungen motivierte, und zweitens zeugen die Schriften von ihrem Ziel, ihren Bezugspunkt zu demontieren und Goethes führende Position im literarischen Feld zu negieren.
Trilcke konzipierte Gattungen als generische Felder, die eine gewisse Bandbreite gleichzeitiger Positionierungen erlauben, aber auch Positionierungen verunmöglichen. Innerhalb ihrer Grenzen funktionierten generische Felder homolog zum literarischen Feld, in dem sie ein Subfeld darstellten. Die Kämpfe, was die Gattung jeweils ausmache und wer zu ihr beitragen dürfe, würden innerhalb des Feldes nach jeweils spezifischen Regeln und Maßstäben geführt. Im Falle Pustkuchens lasse sich beobachten, dass Texte eines spezifischen Autors nicht als Bildungsroman anerkannt worden seien, obwohl die Textstrategien eindeutig die Zugehörigkeit zum generischen Feld des Bildungsromans beanspruchten.
Wolfgang Bunzel (Frankfurt am Main) beschäftigte sich in seinem Beitrag »Positionierung ex post. Ludwig Tiecks ›Novelle‹ Der junge Tischlermeister (1836) in feldtheoretischer Perspektive« mit der Selbststilisierung dieses Textes im Vorwort. Tieck versuche hier an Goethes Feldposition anzuschließen, indem er die Entstehung der »frühesten Entwürfe« zum Jungen Tischlermeister auf das »Frühjahr 1795« datierte. Dass diese Behauptung den Tatsachen entspricht, erscheint als sehr unwahrscheinlich. Mit der Vordatierung verlegt Tieck Plan und Konzeption seines Romans jedenfalls auf die Zeit unmittelbar vor Erscheinen der ersten Bände von Wilhelm Meisters Lehrjahre zurück, dem gattungskonstituierenden Mustertext, der die Bezugsfolie für alle anderen Werke dieses Erzähltyps darstellt. Faktisch emanzipiert sich der Autor damit nachträglich von Goethe als der dominierenden Schriftstellerinstanz um 1800 und reklamiert einen eigenen, genuin romantischen Zugang zu dem entscheidend von der Ästhetik der Weimarer Klassik geprägten Genre. Der Text selbst wirkt wie ein in literarischer Hinsicht zwar ambitionierter, aber hoffnungslos unzeitgemäßer Nachzügler des klassisch-romantischen Bildungsromans. In Kombination mit der Vordatierung in der Vorrede muss er allerdings als für das Feld um 1795 geschriebener Roman gelesen werden. Zugleich diente diese Schreibstrategie aber der (Selbst-) Positionierung des Autors im literarischen Feld der dreißiger Jahre. Zu diesem Zeitpunkt war Tieck längst ein arrivierter Schriftsteller, der nicht mehr um soziale Anerkennung kämpfen musste und insofern eine stabile Feldposition innehatte. Wenn er Einfluss nehmen wollte, dann auf den kollektiven Gedächtnisspeicher, als der das literarische Feld ja auch angesehen werden kann.
Mit Fontanes Besprechung von Gustav Freytags Soll und Haben, die den Roman zur »erste[n] Blüte des modernen Realismus« erklärt, scheint kurz nach der Veröffentlichung die Kanonisierung eines Werks einzusetzen, das bis heute als der realistische Programmroman der Jahrhundertmitte und zugleich als einer der wenigen Bildungsromane gilt, in dem der Protagonist die Bildungsvorstellungen des Romans erfülle und mit der Welt versöhnt sei. Philipp Böttcher (Göttingen) zeigte in seinem Beitrag »Die Poesie des Prosaischen. Zur Literaturpolitik der Grenzboten und der feldstrategischen Positionierung von Gustav Freytags Soll und Haben«, dass dieses Urteil als Effekt einer Selbstetablierungs- bzw. Selbstkanonisierungsstrategie der Grenzboten-Herausgeber Gustav Freytag und Julian Schmidt verstanden werden kann. Zu dieser Strategie gehört Schmidts Wilhelm Meister-Kritik, die nur wenige Wochen vor Soll und Haben in Die Grenzboten erschien und in der Schmidt Goethes Darstellung des Werner beklagte – jener Figur also, die Freytag als Blaupause für seinen Helden Anton Wohlfahrt diente und dessen Poesiefähigkeit der Roman zu beweisen versuchte. Auch Böttchers Vortrag erwies die Möglichkeit, mit feldtheoretischem Zugriff Wertungen vermeiden zu können, indem Praktiken beobachtet werden. Die durchaus erfolgreiche Strategie, Soll und Haben zu positionieren, ist schon zeitgenössisch erkannt und karikiert worden, doch unterscheidet sich das Publikum des Romans von demjenigen, das die Kritik daran goutiert. Die heutige Forschung kann den Roman als Ereignis im Feld wahrnehmen und schätzen ohne seine moralischen Wertungen zu teilen.
Lynne Tatlock (St. Louis) untersuchte in ihrem Beitrag »Zwischen Bildungsroman und Liebesroman: Fanny Lewalds Die Erlöserin im literarischen Feld nach der Reichsgründung« die unterschiedlichen Positionen dieses Romans im deutschen und amerikanischen literarischen Feld. Während er im deutschen Feld nur einer von vielen Romanen von Frauen für Frauen war, kam ihm in den USA durch das Erscheinen in der Reihe »Popular Novels from the German« ein wichtiger Platz als weiblicher Bildungsroman zu. In dieser Reihe hatte die Übersetzerin Annis Lee Wister 39 deutsche Romane ausgewählt, die eine Mischung aus Bildungsroman, Liebesgeschichte und domestic fiction darstellten und mit dem Konzept ›Bildung‹ operierten. Auf diese Weise etablierte sie ein weibliches Subgenre des deutschen Bildungsromans. Lewalds Erlöserin erzählt die märchenhafte Geschichte von Hulda, der Tochter eines Pfarrers und einer befreiten litauischen Leibeigenen, die sich in den Feudalherrn Emmanuel von Falkenhorst verliebt und ihn trotz einiger Widerstände schließlich heiratet. Die damals angesehene Autorin und frühe Frauenrechtlerin Lewald führt die Handlung zum Happy End, indem Hulda Karriere beim Theater macht, die weibliche Hauptrolle in Theaterstücken von Lessing, Goethe und Schiller spielt und sich dabei bewusst bildet; eben durch diese ›ästhetische Erziehung‹ wird sie dem Baron kulturell ebenbürtig. Insofern weist Lewalds Roman nicht nur den Einfluss von Goethe auf, sondern steht auch im literarischen Umfeld von mehreren 1867–1882 erschienenen Romanen von Frauen, in denen die Bildung der weiblichen Hauptfigur ausschlaggebend für ein Happy End ist. Innerhalb des Wunschbilds solcher Romanwelten gingen also weibliches Eheglück und weibliche Bildung Hand in Hand. Lynne Tatlock markierte in ihrem Vortrag sehr deutlich die Differenzen zwischen der Positionierung des Textes im deutschen und amerikanischen literarischen Feld. In der Diskussion zeigte sich die Stärke ihres feldtheoretischen Zugriffs gerade darin, dass Texte und Textstrategien im Rahmen der Geschichte des generischen Feldes zwar zeitgenössisch zu fassen sind, die Bewertungen und Zuschreibungen aber nicht für aktuelle Forschung übernommen werden müssen.
Elisabeth Böhm (Bayreuth) eröffnete in ihrem Beitrag mit dem Titel »›… es war nicht alles so, wie’s sein sollte.‹ Effi Briest als Bildungsroman« eine neue Perspektive auf diesen Roman und seine Positionierung im Feld. Sie entwickelte vor dem Hintergrund der zunehmenden Breite der als bürgerlich zu bezeichnenden Literatur des 19. Jahrhunderts die Frage, ob die Übernahme spezifischer Versatzstücke des Bildungsromans einen Text schon zu einem solchen machen könne. Dabei ging Böhm zunächst von der Beobachtung aus, dass die einflussreich gewordene Definition der Gattung von Wilhelm Dilthey diese schon als historisch geworden konzipierte und damit den Modus des Umgangs mit Bildung als Bildungsgut, wie er in den kanonischen Texten des 19. Jahrhunderts gestaltet wurde, auch auf die Gattungskonzeption selbst übertrug. Im Anschluss daran ließen sich verschiedene Handlungsmomente wie etwa die Hochzeitsreise Effis und Innstettens nach Italien, die Funktion der Protagonistin als Wahrnehmung und Wertung steuernde Instanz, die trotz offenkundiger Irrtümer und Fehler von der Erzählinstanz nicht explizit kritisiert wird, die Entwicklungs- und Bildungsgeschichte Innstettens oder Alonzo Gießhübler, dem als einziger Figur Menschlichkeit als Resultat einer künstlerischen und akademischen Bildung zugesprochen wird, als Hinweise auf eine Auseinandersetzung mit der Gattung Bildungsroman lesen. Ein Blick auf andere Romane Fontanes und auch auf Friedrich Spielhagens Zum Zeitvertreib, dem die gleiche Skandalgeschichte zugrunde liegt, kann die Orientierung am Narrativ des Bildungsromans erkennbar machen. Dabei agiert der Akteur Fontane am Ende des 19. Jahrhunderts noch immer im Spannungsfeld zwischen Journalismus, Kritik und eigentlicher Schriftstellerei. Mit Effi Briest gelingt ihm erst spät in seiner Karriere ein Erfolg bei Rezensenten und Publikum, der zur Kanonisierung führt. Die Anknüpfung an den Bildungsroman lässt sich dann auch auf der Ebene der Autorstrategie erkennen, wenn Fontane Goethes Agieren zu wiederholen versucht. Die Differenzierung der einzelnen Romangenres allerdings erweist sich an dieser Stelle ebenso notwendig wie der Blick auf konkrete Feldpositionen und -zustände.
Liaoyu Huang (Peking) entwickelte im Vortrag »Der Zauberberg – Ein Bildungsroman über die Aufklärung« die Perspektive der internationalen Germanistik auf den Bildungsroman. Er machte darauf aufmerksam, dass die deutsche Literatur selten allein im Zentrum des Interesses derselben stehe, weil eine Verknüpfung mit sozialen, landeskundlichen und aktuellen Themen für die interkulturelle Arbeit oftmals wichtiger sei. In diesem Sinne schloss Huang seine Interpretation des Zauberbergs an die Ausstellung »Die Kunst der Aufklärung« an, die 2011 als Kooperationsprojekt chinesischer und deutscher Museen in Peking gezeigt worden war, und arbeitete die im Roman vermittelten Ideen von Aufklärung heraus. Bezüglich der Gattungszugehörigkeit kam er dabei zu dem Ergebnis, dass der Zauberberg als Anti-Bildungsroman zu verstehen sei, da Hans Castorp nichts lerne und zum Schluss in den Krieg ziehe. Huang schloss mit der Bemerkung, dass der Bildungsroman als genuin deutsche Gattung für die chinesische Germanistik ein sehr wichtiger Gegenstand sei. Große Schwierigkeiten bereiteten jedoch sowohl die Vermittlung des Konzepts der ›Bildung‹ an chinesische Studenten als auch die Übersetzung der Begriffe ›Bildung‹ und ›Bürger‹.
Martin Huber (Bayreuth) nahm in seinem Beitrag »Wachstum im Güterwagen – Günter Grass’ Blechtrommel als Bildungsroman im literarischen Feld des Jahres 1958« ein Ereignis in den Blick, an dem sich besonders gut zeigen lässt, inwiefern Literatur ein soziales Ereignis ist: Den Aufstieg von Günter Grass zum weltberühmten Autor und die institutionelle Stärkung der Gruppe 47 im Anschluss an Grass’ Lesung aus der Blechtrommel beim Treffen der Gruppe 47 im Jahr 1958. Grass wählte zwei Kapitel aus, die den Roman vor allem über ein spezifisch gebrochenes Muster des Bildungsromans in Erscheinung treten lassen. H.W. Richter hatte für dieses Treffen nach drei Jahren erstmals wieder einen Literaturpreis ausgelobt. Dass dieser an einen kaum bekannten Autor und seinen umfangreichen Roman ging, der offensichtlich respektlos mit literarischer Tradition umging, dafür aber sprachliche Brillanz und provozierende Brutalität ausstellte, wurde zum Medienereignis, von dem die anwesenden Kritiker (u.a. W. Kaiser [SZ], M. Reich-Ranicki [Die Kultur]) umgehend in den Feuilletons berichten. Die Kombination des Erzählmusters Bildungsroman mit dem Ereignis der Lesung vor einem spezifisch zusammengesetzten Publikum erwies sich hier als ausschlaggebend sowohl für eine Positionierung von Günter Grass als Erneuerer des Feldes als auch für die Etablierung einer Institution des literarischen Lebens: Verleger, aber auch die Literaturkritik bemühten sich in der Folge um den überraschend prämierten Autor und etablierten dabei das neue Muster der künftigen Gruppentreffen: Die Treffen der »Gruppe 47« sind ab diesem Zeitpunkt ein literarischer Markt, auf dem nicht mehr die Autoren, sondern die Kritiker, Vertreter von Rundfunk und Presse sowie Verleger die Mehrheit der Anwesenden stellen.
Adrian Brauneis (Jena) analysierte vor dem Hintergrund des Medienwechsels in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts und in Auseinandersetzung mit philosophischen und medientheoretischen Positionen der Weimarer Republik diejenigen Konstellationen des literarischen Feldes der Zeit, die für Arnolt Bronnens Roman Barbara la Marr von zentraler Bedeutung waren (»›Schauspiel der im Leeren kreisenden Kreise‹. Von der Bildung zur Dezision in Arnolt Bronnens Zeit-Roman Barbara la Marr (1928)«). Brauneis verwies zum einen auf die Präsenz des Lebensbegriffs bzw. der Lebensphilosophie, stellte zum anderen aber heraus, wie offen für verschiedene Konzeptionen und Vorstellungen diese Begriffe geworden waren. Bronnens Text rückt nun eine Figur ins Zentrum, die ganz in ihrer Zeit lebt und deren Bedingungen zwar formulieren kann, aber dabei letztlich die Differenz zwischen aktivem Handeln und reaktivem Verhalten ebenso zur Beobachtung ausstellt wie die Unmöglichkeit von Bildung, indem an ihre Stelle vermeintlich ontologische Zuschreibungen gesetzt werden. Brauneis arbeitete sowohl die diachrone Auseinandersetzung mit Wilhelm Meisters Lehrjahre als generisches Muster als auch die Abgrenzung von zeitgenössischen Positionen, wie etwa Keuns Das kunstseidene Mädchen, heraus.
Thomas Wegmann (Innsbruck) ging in seinem Beitrag von der These aus, dass Christian Kracht mit seinem Debütroman Faserland sich mit einer Strategie im literarischen Feld zu etablieren versuchte, die ganz der Tradition des Bildungsromans und einem bildungsbürgerlichen Habitus verpflichtet ist (»Bildungsroman als Popliteratur? Christian Krachts Faserland«). Wegmann zeigte diesen Bezug gerade an solchen Stellen des Textes, die scheinbar gegen die entsprechenden Regularien verstoßen, wie etwa die ostentative Nähe zur Marken- und Konsumkultur im Roman sowie die damit verbundene »überzogene Aufmerksamkeit für die feinen Unterschiede« (Gustav Seibt) oder die Kürze der erzählten Zeit, die kaum eine Entwicklung der Hauptfigur zulässt. Doch Krachts Faserland endet nicht nur hochverdichtet mit einer nächtlichen Suche nach dem Grab von Thomas Mann, er thematisiert vielmehr das ganze Arsenal bundesrepublikanischer Identitätsbildung in der Nachkriegszeit, auch wenn die wertenden Vorzeichen mitunter verkehrt werden. Dabei nimmt der Roman die blinden Flecke bildungsbürgerlicher Selbstbeobachtung in den Blick, wenn er etwa über die distinguierende Funktion von Kleidung oder die verdrängte nationalsozialistische Vergangenheit erzählt. Wegmann zeigte, dass das, was auf den ersten Blick als Lifestyle-Roman eines Zeitgeist-Journalisten erscheint, sich bei genauerem Hinsehen als ein im Subfeld der eingeschränkten Produktion operierendes und auf Kanonisierung abzielendes Werk, als literarisches Update bürgerlicher Themen und Verhaltensweisen erweist. Wegmann wies abschließend darauf hin, dass nicht von ungefähr immer wieder die Rollen von Erbe, Erben und Erbstücken, nicht zuletzt auch die Gattung des Bildungsromans und die mit ihr verbundenen Identitäts- und Wertvorstellungen thematisiert würden. Dies sei möglicherweise der Grund dafür, dass der Roman es trotz seines irritierenden Potentials auf diverse Lehrpläne geschafft habe.
Simone Schiedermair (Greifswald) fragte »Uwe Tellkamps Der Turm – ein Bildungsroman? Zur Rezeption des Romans in Deutschland und Norwegen«. Ausgangspunkt war die Beschreibung von Tellkamps prominenter Positionierung im literarischen Feld der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur mit seinem Roman Der Turm, die sich in der großen Anzahl von Besprechungen, Preisen, Bearbeitungen für Theater und Fernsehen und zahlreichen Übersetzungen manifestierte. Schiedermair stellte die Frage, ob durch die deutlichen Hinweise dieses Textes auf Goethes Wilhelm Meister dem Bildungsroman neues symbolisches Kapital zukomme bzw. inwiefern Tellkamps Text als neue Formulierung des alten Textmusters rezipiert wurde. Sie verwies darauf, dass diese Spur im deutschen Feuilleton verfolgt wurde und dem Text eine spezifische Relevanz für Seminare der germanistischen Literaturwissenschaft zukomme. In der norwegischen Rezeption des Romans, auf die Schiedermair im zweiten Teil ihres Vortrags einging, wurde der Bezug zum Bildungsroman nicht hergestellt, obwohl die Gattungsbezeichnung und auch der Begriff der ›Bildung‹ im Norwegischen existieren. Der Text wurde dort als DDR-Roman rezipiert, wobei die Funktion des Romans, den Leser zu bilden, durchaus betont wurde. Durch die vergleichende Betrachtung der beiden nationalen literarischen Felder brachte Schiedermairs Beitrag die Grenzen der jeweiligen literarischen Felder und die divergierenden Beschreibungen in der wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Rezeption in den Blick.
Yvonne Delhey (Nijmegen) zeigte in ihrem Beitrag »Wiederentdeckung klassischer Bildungswerte oder Rebellion gegen die Übermacht der Verhältnisse? Judith Schalansky, Ingo Schulze und die ostdeutsche Avantgarde«, wie sich Schalansky und Schulze im literarischen Feld der Gegenwart unter Berufung auf die Gattung des Bildungsromans positionierten. Schalansky schreibe einen Roman, der den Untertitel ›Bildungsroman‹ trage, die Gattungserwartungen allerdings höchstens insoweit erfülle, als er dem Leser Wissen aus dem Bereich der Artenlehre vermittle und eine Bildungsinstitution zum Thema habe. In anderer Hinsicht entspreche er dem Schema gerade nicht, weil es sich um eine zumeist rückblickende, aus pessimistischer Haltung formulierte Bilanz einer Biologielehrerin an einer Schule kurz vor deren Schließung ohne Entwicklung der Protagonistin handle. In den Rezensionen habe man den Roman vor allem auf den Zustand des Schulsystems hin, als Geschichte verkrüppelter Individuen vor dem Hintergrund der DDR-Gesellschaft und als Ablehnung jedweder teleologischen Muster gelesen. In Ingo Schulzes Roman 33 Augenblicke des Glücks. Aus den abenteuerlichen Aufzeichnungen der Deutschen in Piter entwickelte Delhey die Zeitstruktur und die kommunikative Anlage des Textes, an denen sie eine spezifisch modifizierte Auseinandersetzung mit Bildungskonzepten aufzeigen konnte. Die Frage nach einer Aktualisierung des Bildungsromans aus spezifisch ostdeutscher Perspektive ließ sich dabei sowohl als Text- als auch als Autorenstrategie beobachten.
Fazit
Während die Frage nach der Zugehörigkeit einzelner Texte zur Gattung Bildungsroman bisher merkmalsorientiert diskutiert und der Gattungswandel dadurch erklärt wurde, dass in Reaktion auf gesellschaftliche Veränderungen etablierte Motive und Themen modifiziert werden bzw. neue hinzukommen, hat die Tagung gezeigt, inwiefern eine feldtheoretische Konzeption es ermöglicht, Entstehung und Wandel in Beziehung zu anderen literarischen Texten und zu literaturbezogenen Kommunikationsakten zu setzen. Im Fokus standen dabei immer die jeweils aktuellen Strukturen des Feldes einerseits und die Innovativität in der Fortschreibung einer Traditionslinie andererseits. Deutlich wurde, dass sich bei Bourdieu an mehreren Stellen Aussagen zu Gattungen finden, der Stellenwert von Gattungen im literarischen Feld aber noch klarer zu fassen ist. Ein Vorschlag war deshalb, Gattungen selbst als Felder zu beschreiben, in denen in Positionierungskämpfen jeweils neu verhandelt wird, wie die Gattung definiert wird und welche Texte als zugehörig anzusehen sind. Die einzelnen Analysen sind in diesem Sinne als Momentaufnahmen des jeweiligen historischen Feldzustandes zu verstehen. Der Bezug zur diachronen Perspektive der Gattungsgeschichte wurde in den einzelnen Beiträgen hergestellt, aber aus dem Gesamt dieser Bezüge sollte und konnte sich keine kontinuierlich entwickelte Gattungsgeschichte ergeben. Vielmehr wurde deutlich, wie mit Bourdieu Gattungsbezug und Gattungsverständnis jeweils nur radikal historisch und in Abhängigkeit von der jeweiligen Konstellation im Feld zu fassen sind.
Als methodisch unstrittig erwies sich die explizite Gattungszuordnung in Paratexten, Rezeptionszeugnissen, poetologischen und literaturgeschichtlichen Darstellungen. Zur Debatte stand allerdings immer wieder die Frage, in welchem Verhältnis die Rekonstruktion der jeweiligen historischen Kämpfe um die Gattungszugehörigkeit zu einer inhaltlich-textuellen Bestimmung derselben – etwa über Erzählmuster, über ein gemeinsames Bezugsproblem oder die Zentralstellung des Bildungsromanmusters in einem Roman – aus heutiger literaturwissenschaftlicher Perspektive steht.
Universität Bayreuth
Universität Würzburg
2013-07-22
JLTonline ISSN 1862-8990
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