Ildikó Piróth
Universalien – im Horizont der Natur der Literatur
Universalien? Annäherungen an die Natur der Literatur. Interdisziplinäre Tagung am Institut für Germanistik der Universität Szeged, 17.–19.05.2012.
Der Umgang mit Literatur, besonders die Rückbesinnung auf ihren Ermöglichungsgrund, war immer durchsetzt von Fragen nach all den Bedürfnissen und Dispositionen, die mit der Produktion und Rezeption ästhetischer Artefakte in Zusammenhang stehen. Das Aufkommen von kulturwissenschaftlichen Ansätzen, die sich zunehmend an den modernen Naturwissenschaften orientierten, hat diesem Interesse neuen Antrieb gegeben und fand in der Natur des Menschen, anders gesprochen: in seiner Biologie, den möglichen Grund von Literatur (Kunst und Ästhetik überhaupt) wieder. Die evolutionär ausgerichteten Kognitionswissenschaften betrachten nämlich Literatur genauso wie den sie hervorbringenden und rezipierenden menschlichen Geist als Produkt der Humanevolution und interpretieren sie von dieser Warte aus. Wie alle gattungsspezifischen evolutiven Leistungen, lassen sich – so die These – selbst die partikulärsten Kulturprodukte auf allgemeine, als Disposition gegebene Strukturen zurückführen und als Wirken universeller, Partikuläres generierender Programme und Mechanismen der menschlichen Kognition erklären.
Mit dieser Argumentation öffnet sich der Blick auf einen universalistischen Anspruch und ein Problem, dessen Reichweite bis zur alten Differenz textualistischer und kontextualistischer Literaturkonzepte zurückreicht. Es handelt sich um eine Bewegung der Literaturwissenschaft zwischen zwei Extremen, wenn zum einen strukturalistische Ansätze dafür plädierten, dass in literarischen Texten bestimmte grundlegende Konstellationen rekonstruierbar sind, zum anderen dies in hermeneutischen und dekonstruktivistischen Zugriffen bestritten und das für Literatur Charakteristische vor allem in diskursiver Kontingenz und Subversivität erkannt wurde. Denn es stellt sich auch in diesem neuen Zusammenhang ein, dass man die literarischen Artefakte einerseits als partikulär und wandelbar betrachtet und das Augenmerk auf jene (sozialen, kulturellen und das heißt auch historisch überformten) Kontexte richtet, die für Variabilität verantwortlich sind, und dass man andererseits bestimmte Konstanten, wiederkehrende Strukturen, gar ›Universalien‹ des Literarischen voraussetzt und die Auffassung vertritt, dass deren Analyse Relevantes über die Natur der Literatur aussagen könne.
Diese Parallelisierung wird einmal mehr zugespitzt, wenn man dabei einerseits die kulturalistischen und kontextualistischen, andererseits die naturalistischen und textualistischen Ansätze zueinander in Beziehung setzt. Durch das Aufkommen kognitionswissenschaftlich orientierter Ansätze werden nämlich in den unterschiedlichsten Zweigen der Disziplin – Gattungstheorie, Rhetorik, Stilistik, Ästhetik, Rezeptionstheorie, Wirkungstheorie, Wertungsforschung etc. – wieder literarische Universalien ermittelt und zum Teil auch mit längst bekannten prototypischen (Tiefen-)Strukturen und Konstanten der traditionellen, auf Philosophie, Linguistik, Rhetorik etc. basierenden Literaturwissenschaft in Verbindung gebracht. Der Horizont der Fragestellung wird allerdings durch den neuen Theorieansatz verschoben bzw. erweitert: Während nämlich strukturalistische Theorien den Text als einzige Argumentationsbasis anerkannten, meinen kognitionswissenschaftliche Ansätze, das Universalistische in der menschlichen Psyche, im menschlichen Geist als Quelle und Respondent des Textes, der als Auslöser fungiert, zu finden.
Diese Überlegungen bildeten gleichsam den konzeptuellen – mal ausgesprochenen, mal unausgesprochenen, mal kritisch, mal zustimmend zitierten – Hintergrund der Tagung, die im Mai in Szeged (Ungarn) stattfand. Sie wurde in Kooperation mit der Ungarischen Akademie der Wissenschaften vom Institut für Germanistik der Universität Szeged veranstaltet und von Dr. Erzsébet Szabó, Dr. Márta Horváth und Dr. Endre Hárs organisiert. Die Veranstaltung hatte fünf thematische Schwerpunkte, zu denen sich die einzelnen Vorträge zuordnen ließen. Die ersten Vorträge widmeten sich generell der interdisziplinären Annäherung, der Suche nach prinzipiellen Berührungspunkten zwischen Literaturwissenschaft und Kognitionswissenschaft (K. Eibl, J. Jacob, G. Lauer, L. Ivaskó et al.). In einer zweiten thematischen Einheit wurden mögliche Themen der hieraus folgenden Literaturtheorie behandelt (Á. Bernáth, M. Horváth, E. Szabó, A. Ehrenreich), die zahlreiche Konsequenzen für die Gattungstheorie mit sich bringt (M. Scheffel, K. Mellmann, M. Orosz, F. Smerilli, N. Lehnert, J. Szabó) und sich auch im Falle metrischer und prosodischer Fragen als besonders fruchtbar (A. Barsch, Th. Eder) erweist. Ein weiterer Block von Vorträgen galt schließlich dem historischen Rückblick, der Vorgängerschaft und der Revision älterer, philosophischer und poetologischer Ansätze, die im thematischen Rahmen der Tagung liegen (E. Hárs, A. Oesterhelt, L. Mitnyán).
1. Die menschliche Werkzeugkiste
Die Leitgedanken der Tagung stellte Karl Eibl (München) in seinem Eröffnungsvortrag »Wie ›allgemein menschlich‹ ist die Dichtung? Über biologische und kulturelle Faktoren der Literatur« zur Diskussion. Er gab eine umfassende Einleitung in die Geschichte des Begriffs ›Universalien‹, wobei er unter anderem auf Ansätze der Universalgrammatik von Chomsky und auf die strukturalistische Ethnologie verwies. Er machte auf drei Probleme in Bezug auf den ethnologischen Universalienbegriff aufmerksam, die sich daraus ergäben, dass verschiedene Typen und Formen von ethnologischen Universalien, die auf keinen Fall unter einen Hut zu bringen seien, oft nicht unterschieden würden: Erstens müsse der Ethnologe reflektieren, ob er einen empirischen oder normativen Universalien-Begriff verwendet, nur so könne nämlich ein verkappter Eurozentrismus vermieden werden. Zweitens erlaube die Ethnologie auch dann, universale Fragen zu stellen, wenn man es nicht mit ›absoluten‹, sondern mit Quasi-, d.h. Fast-Universalien zu tun hat, also mit Phänomenen, die nicht in allen, aber in sehr vielen Kulturen vorhanden sind. Drittens sei es wichtig anzumerken, dass Universalien nicht nur, und nicht in erster Linie als manifeste Kulturphänomene zu identifizieren, vielmehr als universelle Dispositionen gegeben seien, die in den unterschiedlichen Kulturen in unterschiedlicher Form zu beobachten sind. Diese gemeinsamen Grundfähigkeiten des Menschen, die menschliche ›Werkzeugkiste‹ hat nach Eibl evolutionären Ursprung: Die Evolution habe ihre Entstehung und die Bedingungen ihrer vielfältigen Benutzung bestimmt. Diese ›adaptive tool-box‹ habe sich im Pleistozän herausgebildet, und sei durch Selektionswirkungen in verschiedene Umwelten gekommen.
Dieser evolutiv-kulturell bestimmbare Bereich von Universalien kann nach Eibl auch in der Literatur aufgefunden werden. Die fiktionalen, literarischen Welten würden nämlich mit denselben kognitiven Mitteln hergestellt und verstanden, die die Welterfahrung außerhalb der Literatur bestimmen. Dabei hob Eibl das Spiel als eine der zentralen Kategorien der anthropologischen Kulturerklärung hervor. Nach evolutionspsychologischer Ansicht gibt es für das Spiel zwei Bestimmungsmomente: die Funktion, die Einübung durch das Spiel, und die Motivation, also die Lust am Spiel. Eibl erklärte das Spiel mit Grundbegriffen der Evolutionspsychologie: Es sei anzunehmen, dass bestimmten Verhaltensweisen im Organisationsmodus arbeitende Adaptationen zugrunde liegen, deren Funktion allein darin bestehe, eine bestimmte Adaptation einzuüben, zu organisieren und zu optimieren.
Zum Schluss verwies Eibl darauf, dass einige Strukturelemente der Kunst und der Literatur auch mit dem Phänomen der Individualkonkurrenz zu tun haben. Den Menschen interessiere beim Lesen literarischer Werke, z.B. eines Dramas oder eines Romans, auch die Frage: Wer gewinnt in der ganzen Angelegenheit? Die Fragen ›Sieg oder Verlust?‹, ›Gelingen oder Misslingen?‹ stünden also im Zentrum des menschlichen Interesses.
Gerade diese evolutionsästhetische Herangehensweise wurde im Vortrag von Joachim Jacob (Gießen), der als Antwort auf Eibls Beitrag zu verstehen war, kritisiert. Jacob setzte sich mit seinem Vortrag »Ist das Schöne eine Universalie der Literatur?« zum Ziel, den Begriff des Schönen zu definieren und die Funktion der Schönheit zu bestimmen. Dabei nahm er explizit auf die Studie Kultur als Zwischenwelt von Eibl Bezug und bestritt einige seiner Hauptthesen. Eibl teile die Meinung der Evolutionsästhetik, nach der Schönheit wie alles Kulturelle ein evolutionsbiologisches Fundament habe. Dies sei schon von Darwin erkannt worden, der mit seiner Theorie der sexuellen Selektion einen guten Ausgangspunkt für die Erklärung der Schönheit gegeben habe. Nach dieser Theorie entwickeln Tiere bestimmte morphologische Eigenschaften nicht darum, ihre Überlebenschancen zu erhöhen, sondern um bessere Chancen bei der Partnerwahl zu haben. Das wohl bekannteste Beispiel dafür seien die überornamentierten Schwanzfedern des Pfaus. Die Schönheit sei in diesem Verständnis nicht ›nutzlos‹, wie es in der klassischen Ästhetik angenommen werde, sondern verspreche geradezu eine Funktion, und zwar das adäquate Funktionieren des Körpers. Jacob berief sich beim Bestreiten dieser evolutionsästhetischen Thesen in erster Linie auf die Ästhetik von Hegel und baute seinen eigenen Schönheitsbegriff auf dessen Freiheitsbegriff auf. Er behauptete, Schönheit sei auf keinen Fall etwas biologisch Bestimmtes. Geradezu ein Kernelement des Schönheitsbegriffs sei die Freiheit: Sobald etwas als Kunstwerk rezipiert werde, würden die unterschiedlichsten Darstellungsformen und Themen als schön empfunden. Ein weiteres Argument von Jacobs galt den sprachlichen Kunstwerken: Für die Literatur im besonderen, und zwar auf der Grundlage ihres sprachlichen Sonderstatus, reklamierte er Möglichkeiten und Kategorien, für die eine evolutionistische Argumentationsweise nur noch bedingt ausreiche.
Gerhard Lauers (Göttingen) Vortrag »Die Erfindung der Imagination. Zur entwicklungspsychologischen Universalität der altrozentrischen Gestalt von Literatur« griff wiederum die evolutionsbiologische Argumentation auf, den Leitfaden seines Vortrags bildete jedoch die These, dass Literatur über eine zentrale entwicklungspsychologische Funktion verfüge. Dies begründete er mit dem Hinweis, dass beim Menschen eine deutlich längere Kindheits- und Adoleszenzphase zu beobachten ist als bei Tieren. Die entwicklungspsychologische Funktion der Literatur sei in diesem Zusammenhang die Ermöglichung der Aufrechterhaltung der komplexen und uneindeutigen sozialen Situation der Kindheit über einen sehr langen Zeitraum hinweg. Literatur sei danach ein minimal risk medium für die Erprobung unterschiedlicher Typen der sozialen Interaktion und diene zusammen mit körperlicher Nachahmung, Sprache, Spiel und Musik der allmählichen Herausbildung der sozialen Kognition. Lauer verwies darauf, dass die Fähigkeit der theory of mind, also der Perspektivenübernahme, als die wichtigste Fähigkeit in Bezug auf die soziale Kognition von der kognitiven Psychologie und der Entwicklungspsychologie der letzten Jahrzehnte erkannt wurde, und beschäftigte sich demnach schwerpunktmäßig mit ihr. Er skizzierte die wichtigsten Stationen der sozialkognitiven Entwicklung des Kindes und brachte zahlreiche Beispiele, um einzelne Stufen der sozialkognitiven Entwicklung zu veranschaulichen. So verwies er z.B. auf den sog. Smarties-Test, eine Art false belief-Test, der zum Nachweisen von theory of mind-Fähigkeiten entworfen wurde, oder auf den Marshmallow-Test, der die Selbstbeherrschungs- und langfristigen Planungsfähigkeiten des Kindes auf Probe stellt.
Durch zahlreiche solche Beispiele der Entwicklungspsychologie zeigte Lauer, dass der Mensch eine weit über die Mentalisierungsfähigkeiten anderer Primaten hinausreichende Fähigkeit der Perspektivenübernahme hat, die sich in der Adoleszenzphase schrittweise entwickelt. In dieser Entwicklung habe die Literatur die bedeutende Funktion der Einübung. Zu den literarischen Darstellungsweisen, welche es Lesern ermöglichen, die Perspektiven von Figuren zu übernehmen und damit ihre Mentalisierungsfähigkeiten einzuüben, zählte Lauer u.a. Formen der Dialoggestaltung im dramatischen Modus, den in Erzähltexten möglichen Wechsel von diegetischen und mimetischen Passagen, die erlebte Rede, das lyrische Ich, Techniken der Spannungserzeugung sowie die Konzentration auf metrische und klangliche Aspekte von Gedichten. All dies erlaubte es Lauer, die These zu vertreten, dass nicht Themen und Motive der Literatur, sondern ihre altrozentrische Gestalt universell sei.
Lívia Ivaskó, Zsuzsanna Lengyel und Boglárka Komlósi (Szeged) vertraten die Forschungsgruppe für Entwicklungpsychologie und Neuropragmatik der Universität Szeged mit einem Poster über »Humanspezifische Fähigkeiten in der Erzählung und Interpretation von Geschichten«. Die Forschungsgruppe präsentierte die wichtigsten Ergebnisse ihrer Untersuchungen auf drei Gebieten: Erstens wurde die Evolution der Zeichenbenutzung mithilfe von Donald Merlins Origins of the Modern Mind modelliert, zweitens wurden die entwicklungspsychologischen Grundlagen des Verstehens von Geschichten aufgrund der Arbeiten von Csibra und Gergely zusammengefasst und mit eigenen Experimenten der Arbeitsgruppe unterstützt bzw. verfeinert, drittens wurde der neuronale Hintergrund von pragmatischen Fähigkeiten dargestellt. Das spezielle Interesse der Arbeitsgruppe gilt in den letzten Jahren dem Testen von bestimmten Fähigkeiten des Textverstehens bei gesunden und hirnverletzten Menschen sowie ihrer psychischen Entwicklung. Sowohl bei Kindern als auch bei gesunden und mit Hirnverletzung lebenden Menschen wurden Fähigkeiten des Verstehens von idiomatischen Wendungen getestet, wobei die Forschungsgruppe zu dem Ergebnis kam, dass Kinder erst mit etwa drei bis fünf Jahren fähig sind, nichtwörtliche Bedeutungen zu verstehen, und dass dieser Entwicklungsprozess erst im achten Lebensjahr stabilisiert ist. Die theoretische Basis für die Experimente der Arbeitsgruppe bildet die Relevanz-Theorie von Sperber und Wilson, nach der die Grundfähigkeit zum Verstehen von übertragener Bedeutung auch die schon von Lauer behandelte theory of mind ist, die es dem Kind ermöglicht, Absichten des Sprechenden zu verstehen.
2. Universelle Sinngebungsmechanismen
Árpád Bernáth (Szeged) stellte in seinem Vortrag »Literatur und Mathematik: Aspekte einer alten Verwandtschaft« die These von der Analogie zwischen Literatur und Mathematik auf. Dabei ging er von der – wie er es bezeichnete – negativen Bestimmung der Dichtkunst bei Aristoteles aus. In der Poetik würden die Werke der ›schönen Literatur‹ im Vergleich zu den Werken der Geschichtsschreibung als Werke definiert, die zwar handelnde Menschen darstellen, pragmatisch gesehen indes nicht auf die Tatsachen unserer Welt referieren. Ihre Wahrheit beruhe nicht auf der Korrespondenz des sprachlich Ausgedrückten mit den Tatsachen der Welt. Der propositionelle Gehalt ihrer Aussagen sei weder falsch noch wahr. Um diese ex negativo-Definition ins Positive zu kehren und den Erkenntniswert der Dichtkunst bestimmen zu können, muss man laut dem Referenten an das Analogon anknüpfen, das die negativ belegten Begriffe ›Aussage‹, ›Proposition‹, ›Wahrheitswert‹ und ›Korrespondenz‹ nahelegen: an die mathematische Logik. Erst so lasse sich erkennen, dass die Wahrheit der Sprache der Dichtkunst genauso wie die Wahrheit mathematischer Aussagen allein von der Kohärenz, der Widerspruchslosigkeit eines geschlossenen Systems von Postulaten, Axiomen und Definitionen abhängt. Akzeptiere man diese Betrachtung, so müsse man auch akzeptieren, dass Geschichtsschreibung und Dichtung als Darstellungen handelnder Menschen auf der Ebene des Textes nicht zu unterscheiden sind. Ob wir die Werke von Homer oder von Sophokles als Dichtung lesen oder als Dokumente der Geschichtsschreibung, hänge von uns ab. Aber durch unsere Wahl werde auch unser angemessenes Herangehen an die Texte bestimmt, das in der Wahl der anzuwendenden Semantik und in der Wahl der anzuwendenden Wahrheitstheorien zum Ausdruck kommt. Wir betrachten einen Text als Produkt der Geschichtsschreibung, wenn wir ihm eine Semantik mit pragmatischen Komponenten unterlegen und seinen Wert für die Erkenntnis mit einer Korrespondenztheorie der Wahrheit zu ermitteln suchen. Wir betrachten einen Text als Konstruktion der Dichtung, wenn wir ihm eine logische Semantik unterlegen und seinen Wert für die Erkenntnis mit einer Kohärenztheorie der Wahrheit zu ermitteln suchen.
Márta Horváth (Szeged) gab in ihrem Vortrag »Kohärenzstiftende kognitive Mechanismen beim Lesen fiktionaler Erzähltexte« einen Überblick über jene kognitiven Dispositionen, die nach ihrer Auffassung verantwortlich für die Kohärenzstiftung beim Lesen narrativer Texte sind. Ihr Grundkonzept basiert auf der kognitionspsychologischen These, dass der Mensch danach strebt, trotz der Vielfältigkeit und Variabilität der äußeren Umgebung ein physiologisches und psychologisches Gleichgewicht zu bewahren und herzustellen. Dies wurde einerseits durch zahlreiche psychologische Untersuchungen bewiesen, andererseits von der Evolutionspsychologie unterstützt: Kohärenzstiftung habe einen adaptiven Wert, da die Erstellung von kohärenten Welt- und Selbsterklärungen das adäquate Handeln in großem Maße fördere. Horváths Vortrag basierte auf der These, dass der Mensch aus natürlichen biologischen Gründen nach Kohärenz strebe, die beim Leseprozess fiktionaler Erzähltexte genauso wirken wie bei anderen Verstehensprozessen.
Der Herstellung von Kohärenz beim literarischen Lesen liegen nach Horváth vier grundlegende Fähigkeiten zugrunde: das kausale Denken, das intentionale Denken, die Mustererkennung und der Induktions-Instinkt. Damit meinte Horváth nicht alle, aber die grundlegenden kognitiven Mechanismen der Kohärenzstiftung zu erfassen. Sie zeigte in ihren Analysen, wie bestimmte Inferenz-Tätigkeiten des Lesers oft durch minimale Textsignale hervorgerufen werden, und wie der Leser z.B. schon allein aufgrund des Nebeneinanders zweier Sätze die mentale Repräsentation von miteinander in kausaler Beziehung stehenden Ereignissen, also einer Art Geschichte, erstellt oder durch nur eine einmalige Wiederholung z.B. eines Figurenattributs auf eine allgemeine Charaktereigenschaft schließt. Ihre Ergebnisse sind gut mit denen von Ivaskó et al. in Einklag zu bringen, die ebenfalls die kognitiven Grundlagen des Textverstehens mit besonderer Aufmerksamkeit für die Kohärenzstiftung rekonstruierten, mit dem Unterschied, dass Horváth ausgesprochen literarische Narrative zum Untersuchungsgegenstand hatte.
Erzsébet Szabó (Szeged) ging in ihrem Vortrag »Von der Universalität der metarepräsentationellen Struktur der Literatur« von dem Phänomen aus, dass der ›Normalleser‹ bei Erfüllung bestimmter Grundbedingungen – wie ein gesundes neuro-kognitives System, Beherrschung des vom Autor verwendeten Zeichensystems, logische Denkfähigkeit sowie ein solides Weltwissen – ohne besondere Anstrengungen fähig ist, die durch den Text ausgedrückten propositionalen Inhalte als eine von seinem Weltwissen abgekoppelte Einheit zu behandeln, und sie nicht auf die reale Welt, sondern auf die fiktionale Referenzwelt des Textes zu beziehen. Täte er das nicht, wären die durch den Text ausgedrückten Propositionen nicht als eine operationale Einheit behandelt, könnte er weder Behauptungen in Bezug auf die Referenzwelt evaluieren, noch sich in der storyworld orientieren. Und dazu ist er durchaus in der Lage. In Anknüpfung an die Ansätze von Tooby und Cosmides, Leslie, Tomasello und Eibl argumentierte Szabó für die These, dass der Grund für dieses Phänomen im kognitiven Verarbeitungs- und Speicherungsmechanismus der Metarepräsentationsbildung liege. Metarepräsentationen stellen Repräsentation von Repräsentationen dar. Ihre Struktur besteht aus zwei Teilen: aus einer Basis-Einheit und aus einer Proposition oder einem Bündel von Propositionen. Indem der Leser den literarischen Text als einen Text von einem Textproduzenten auffasse, bündele sein Geist den propositionalen Inhalt des Textes wie automatisch in einer Operationseinheit und stelle ihn als Ganzes, als etwas epistemisch Mögliches in den Skopus eines mentalen Zustandes. Wichtig sei, dass sich der Leser normalerweise mit dem Propositionsbündel befasse und ihm diese basale kognitive Struktur erst bei Anomalien oder bei Störungen (z.B. bei logischen Widersprüchen oder bei langen, die Narration unterbrechenden Landschaftsdarstellungen) bewusst werde. Erst in diesen Fällen werde er quasi dazu gezwungen, dem Propositionsganzen von dieser Ebene aus Sinn zu geben.
Wenn es einen Begriff gibt, der dem umfassenden Anspruch einer ›Universalie der Literatur‹ gerecht wird, behauptete Andreas Ehrenreich (Wien) in seinem Vortrag »Zur Analyse des Motivs«, ist das mit Sicherheit der Terminus ›Motiv‹. Nachdem er an die zahlreichen Kontroversen um den Begriff erinnert hatte, rekonstruierte Ehrenreich kurz die Kritikpunkte und überprüfte sie auf ihre Stichhaltigkeit. Bei der gängigen, negativen Auffassung von der Motivforschung, der ein schwaches theoretisches Fundament unterstellt, gar das Existenzrecht abgesprochen werde, so Ehrenreich, handele es sich mehr um eine modische, aber unqualifizierte Meinung, jedoch nicht um substantielle Expertise. Unter Berücksichtigung der in der Germanistik stark rezipierten Motivkonzeptionen von Horst S. Daemmrich, Elisabeth Frenzel und Theodor Wolpers sowie in Hinsicht auf jüngere Beiträge wie die von Michael Andermatt betrachtete er deshalb das literarische Motiv als ein stets zwischen absoluter Abstraktion und individueller Realisation gespanntes literarisches Phänomen, das daher weder in seinem generellen, unbestimmten Konzept noch in seiner konkreten Verwirklichung im einzelnen Text ganz und gar determinierbar sei. Die utopische Vorstellung, Motive seien vollkommen objektiv aus literarischen Werken zu extrahieren und neutral zu indexieren, müsse folglich aufgegeben werden. Diesem althergebrachten, stets gescheiterten Verständnis einer zur naturwissenschaftlichen Exaktheit fähigen Literaturwissenschaft solle ein Eingeständnis des eminent subjektiven Faktors bei der Erfassung des literarischen Motivs folgen. Damit stehe ein vielseitig handhabbares und pragmatisches Instrument zur Diskussion, das die Analyse von Motiven als Universalien der Literatur nicht nur im Rahmen der theoretischen Erörterung, sondern auch in der literaturwissenschaftlichen Praxis, in der Arbeit am Text, ermögliche.
3. Gibt es einen epischen Modus?
Michael Scheffel (Wuppertal) ging in seinem Vortrag »Erzählen als Universalie? Zu den Möglichkeiten einer transgenerischen und transmedialen Narratologie« von Roland Barthes’ oft zitiertem Diktum von der kulturellen und historischen Allgegenwärtigkeit des Erzählens aus. Barthes These, dass Erzählen ein Phänomen nicht nur von transkultureller, sondern auch von transhistorischer Bedeutung sei, ist laut Scheffel nur unter bestimmten Voraussetzungen haltbar. Zum einen sei die Fähigkeit zum Erzählen aus phylo- und ontogenetischer Sicht nicht naturgegeben. Als entwicklungsgeschichtlich bedeutendste Methode des kohärenten Verschnürens und exosomatischen Speicherns von Informationen müsse sie in entsprechender sozio-kultureller Umgebung von jedem menschlichen Individuum erworben und in bestimmter Weise ausgebildet werden. Zum anderen sei sie wie auch der Mensch und seine Kultur kein zeitloses Phänomen, sondern das Ergebnis eines langen historischen Prozesses. Scheffel versuchte in seinem Vortrag, diese Beobachtungen mit der These vom Erzählen als Universalie zu vereinbaren, indem er ein transgenerisches und transmediales Minimalmodell des fiktional-literarischen Erzählens entwarf. Das Modell führt fünf universelle Kriterien zusammen. Erzählen sei nicht einfach nur die Darstellung von »zeitlich aufeinander folgenden Begebenheiten« (Temporalität), sondern auch die motivationale Verkettung der dargestellten Veränderungen (Kausalität). Der Entwurf von Kausalzusammenhängen zwischen Ereignissen in der Zeit werde auf eine historisch und kulturell variable Art und Weise von einer Erzählinstanz (Zwei-Poligkeit) poetisch (Poetizität) vermittelt (zwei Ebenen).
Katja Mellmann (Göttingen) entfaltete in ihrem Vortrag »Gibt es einen epischen Modus?« ihre These, nach der es einen bestimmten Denkmodus des Mythischen, Proto-Fiktionalen, einer literarischen Parallelwelt gebe, also hinter den grammatischen Strukturen des epischen Erzählens sich ein kognitiver Modus verberge. Als Grundlage für diese These diente Eibls Begriff ›Emeritiv‹, den er zur Bezeichnung des Modus der ›entpflichteten Rede‹, also der fiktionalen Redeweise, eingeführt hat. Das Signal des Spielerischen/Unernsten aller in diesem Modus vollführten Handlungen, Äußerungen und Überlegungen sei als Teil einer komplexen kognitiven ›Bereichssyntax‹ (Cosmides/Tooby) aufzufassen, die mit der Fähigkeit zum Spielen, vor allem aber mit der menschlichen Verwaltung kontingent wahrer Informationen entstanden und weiter ausgebaut worden sei. Mellmann bestimmte den von ihr angenommenen ›Epitiv‹ als etwas diesem allgemeinen ›Emeritiv‹ gegenüber Spezifischeres: Er leiste nicht nur eine allgemeine Entpragmatisierung der so gekennzeichneten Information, sondern zudem eine spezielle Form der Symbolisierung. Sie schloss sich damit an Käte Hamburger an, die mit ihrer Begriffsprägung des ›epischen Präteritums‹ nach Mellmann etwas Ähnliches zu fassen versucht habe: Das epische Präteritum sei eben gar kein Tempus, wie die grammatische Oberflächenstruktur suggeriere, sondern eigentlich ein Modus, in dem fiktionales Erzählen funktioniere und sich vom faktualen Erzählen im Präteritum unterscheide. Dieser kognitive Modus sei nach Mellmann für den narrativen Literarizität-Effekt (Abbott) verantwortlich und mache Imitation zu Mimesis.
Im Mittelpunkt des Beitrags »Autor, Erzähler, Figur: eine narratologische Dreieckgeschichte« von Magdolna Orosz (Budapest) stand der fiktive Erzähler. Die Referentin fasste ihn als Äußerungsquelle des Textes mit kommunikativer Funktion auf und vertrat die These, dass die Rolle, die Beschaffenheit und die Varianten des Erzählers allein im Verhältnis zu zwei anderen Elementen eines mehrschichtigen narrativen Kommunikationsmodells, zum Autor und zur Figur, zu definieren seien. Der Erzähler solle als ein Element in einem Komplex von Autor-Erzähler-Figur verstanden werden, in dem diese Elemente stets auch beweglich aufeinander bezogen werden können. Er lasse sich als eine »relationale Universalie« begreifen, deren Stelle im Autor-Erzähler-Figur-Dreieck sowohl historisch als auch strukturell veränderbar sei. Der Beitrag exemplifizierte den theoretischen Problemaufriss durch Beispiele aus E.T.A. Hoffmanns Werk Der goldene Topf, das in dieser Hinsicht als ein Spiel der Besetzung dieser Positionen durch unterschiedliche Formen der Grenzüberschreitungen zwischen der erzählten Welt und der Erzählwelt zu betrachten sei. Dieses Phänomen charakterisiere auch andere Werke von Hoffmann wie z.B. Der Sandmann und Prinzessin Brambilla.
Im Mittelpunkt der Ausführungen von Filippo Smerilli (Wuppertal) stand die Problematisierung der Verwendung des universal wirksamen Schemabegriffs bei der literarischen Figurenanalyse. Im theoretischen Teil seines Vortrags »Vom kognitionswissenschaftlichen Schemabegriff zu neuen Universalien der Literaturwissenschaft? Eine Kritik der Allianz von Figurentheorie und Alltagspsychologie« gab er zunächst einen Überblick über die Definitionen und die Funktionen des Schemabegriffs in den einschlägigen Werken von Ralf Schneider, Fotis Jannidis und Jens Eder, den seiner Auffassung zufolge wichtigsten deutschsprachigen Vertretern kognitivistischer Figuren-Ansätze. Ihre Verwendung des Schemabegriffs bei der Figurenanalyse führe in zweierlei Hinsicht zur Voraussetzung neuer Universalien. Die Auffassung, dass an der Figurenrezeption Schemata beteiligt seien, setze die Existenz einer überindividuellen, kulturunabhängigen und angeborenen Struktur des Denkens voraus. Die Annahme der funktionsfähigen Verwendbarkeit von prototypisch-schematischen Figurenmerkmalen oder Merkmalsbündeln scheine das universelle Vorkommen und die Gültigkeit eines alltagspsychologischen Wissens über Menschenbilder, soziale Kategorien und Prototypen für soziale Rollen und Gruppen, Persönlichkeits- und Verhaltenstheorien usw. zu stärken. Im Zentrum des Vortrags stand die These, dass die Verschiebung der Perspektive vom Text auf die Rezeption, die mentalen Figurenmodelle und auf die Modelle der Alltagspsychologie eine Figurenanalyse im strengen Sinne gar nicht zulasse. Der Referent versuchte im praktischen Teil des Vortrags schließlich, durch Rückgriff auf literarische Beispieltexte von Peter Bichsel zu belegen, dass die individuellen Besonderheiten der Figuren, ihre Einbettung in ein Netz von Motiven, ihre Situierung in einem symbolischen Raum usw. aus dem Fokus geraten, wenn sich das literaturwissenschaftliche Interesse auf die Rezeption von Figuren richte und diese mithilfe alltagspsychologischer Modelle zu beschreiben versuche.
4. Impression und Spannung
Nils Lehnert (Kassel) ging unter dem Titel »›Sehe ich nun gnädig aus?‹ – Eindruckssteuerndes Verhalten, Selbst- und Fremdbilder literarischer Figuren als transepochale ›Universalien‹ der Literatur« der Frage nach, inwieweit es bestimmte neueste Ansätze nahelegen, die literarische Figuren – ab einem gewissen Niveau von literarisch gestalteter ›Psychizität‹ – mit psychologischem Analyserüstzeug zu interpretieren und sie wie ›echte‹ Menschen zu charakterisieren. Hierzu zog Lehnert den Analyseapparat des sogenannten Impression Managements als Beispiel heran, der verbales, non- und paraverbales Verhalten, Kleidung, symboltragende Gegenstände u.dgl.m. in den Blick nimmt und sich für den integrierbaren Gesamteindruck bzw. dessen eindruckssteuernde Wirkung beim Gegenüber interessiert. Insofern die Impression-Management-Forschung Verhalten, Kleidung, Sprache, Gestik, Mimik, Hobbies etc. als symboltragende Objekte und Handlungen untersucht, begebe sie sich in die Nähe zu interpretierenden Disziplinen und stelle der literarischen Figurenanalyse umgekehrt Analyseinstrumente zur Verfügung, die ihre Berechtigung im Feld des Fiktionalen zum einen über dessen durchaus durchlässige Grenzen, zum anderen aber gerade durch die evolutionsbiologische Unterfütterung der Literaturtheorie erhalten könnten. Eindruckssteuerung lasse sich in diesem Sinne als evolutionär gewachsenes und definitiv überindividuelles Phänomen begreifen, das in die Literatur als eigenständiges Narrativ/Thema eingegangen sei und häufig einen genre- und epochenübergreifenden Ansatzpunkt für Figurencharakteristik und Textanalyse liefern könne. Als mögliche Belegstellen führte Lehnert hierzu – bewusst über die Epochenschwellen hinweg operierend – Textbeispiele aus Grimmelshausens Simplicissimus, Tiecks Der blonde Eckbert und Schnitzlers Fräulein Else an.
Judit Szabó (Szeged) sprach über »Spannung in der Tragödie« und konzentrierte sich auf die Theoriesituation, die sich mit der evolutionistisch-kognitivistischen Wende im Bereich der Ethik eingestellt hat. Dabei ließen sich auch im Hinblick auf das Tragödienverständnis neue Gesichtspunkte heranziehen. Die Tragödie werde als Darstellung allgemeinmenschlicher Konflikte durch einen gesteigerten Grad an Spannungserzeugung charakterisiert, was die Theoretiker seit Aristoteles zu affektbestimmten Genredefinitionen bewogen habe. Sie werde auf der anderen Seite als ein historisches Genre begriffen, das über den tragischen Konflikt eine Wandlung von Machtstrukturen sowie die Erschütterung kultureller Praxen und die Krise moralischer Normen andeute. Diese Gesichtspunkte ließen sich nach den neueren Entwicklungen um die Vorstellung einer poetic justice, der notwendigen Rechtfertigung moralischer Urteile im Plot, ergänzen, wodurch die Problematik der Spannungserzeugung nicht nur im Hinblick auf die Sympathielenkung oder die Informationsvergabe, sondern auch auf moralische Gefühle hin untersucht werden könne. In diesem Kontext stellte Szabó eine Parallele im Konsum von Tragödien und Horrorszenarios fest und erweiterte damit den Geltungsbereich poetischer Gerechtigkeit um Fragen nach dem Lustwert des Verlustes.
5. Universalität der Sinne
Achim Barsch (Kassel) beschäftigte sich in seinem Beitrag »Metrik, Literatur und Sprache. Rhythmische Strukturen als Indikatoren menschlicher Universalien« mit der Beziehung von Metrik und Literatur. Die Sprache habe eine metrische Struktur und eine prosodische Struktur. Barsch vertrat die Auffassung, dass die rhythmischen Strukturen Universalien der Literatur seien. Die rhythmischen Strukturen existieren und manifestieren sich aber nicht nur in der Literatur, sondern auch in der Musik, im Tanz, in der Sprache, in der Architektur und im Film. Die grundlegende These des Vortragenden war, dass Menschen über eine generelle Rhythmusfähigkeit verfügen, wodurch sich die prosodischen und metrischen Kompetenzen in den Sprachgemeinschaften manifestieren. Die gebundene Rede gehöre zu den universalen Strukturen, deren Funktionieren sich aufgrund der durch die generative Grammatik ausgemachte metrische Prinzipien (durch die Konstituentenstrukturen der formalen Grammatik sowie durch die Ordnungsrelation zwischen den metrischen Konstituenten) erklären lässt.
Thomas Eder (Wien) befasste sich in seinem Vortrag, der den Titel »Schwache Synästhesie und die Bedeutung formaler textueller Merkmale« trug, mit Synästhesie und mit Lautgedichten. Man könne zwei Formen der Synästhesie unterscheiden, die starke und die schwache. Die schwache Synästhesie sei ein universelles Phänomen der menschlichen Kognitionsleistungen. Sie existiere zwischen den Tönen und den Farben und könne z.B. eine metaphorische Übereinstimmung sein. Im Falle der Onomatopöie gehe es ebenfalls um schwache Synästhesie, weil die akustischen Phänomene die Laute nachahmen. Der Laut sei ein Medium für die Übertragung von Bedeutungen, drücke also selbst Bedeutungen aus. Der Referent behandelte auch die Möglichkeiten, wie das Konzept der Synästhesie angewandt werden kann, um literarische Kunstwerke zu beschreiben.
6. Leibhaftige Poesie
Endre Hárs (Szeged) verwies in seinem Vortrag »Realismus des Gefühls. Anthropologisch-psychologische Dichtungslehre im frühen 19. Jahrhundert« auf historische Parallelen zwischen der anthropologischen Dichtungstheorie der Spätaufklärung und der kognitiven Literaturwissenschaft der Gegenwart. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts habe sich die Theorie der Dichtkunst zahlreiche Ansätze zu eigen gemacht, die im Zeichen der ganzheitlichen Anthropologie standen und auch die ›Versinnlichung‹, die ›Empirisierung‹ literarischen Wissens beförderten. Hárs widmete sich dabei statt der Kerntheorie den Nachzüglern dieser Tendenz, die sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht mehr nur dem rationalistischen Erbe der Aufklärung zu stellen hatten, sondern auch den neuesten Entwicklungen, etwa der nachkantischen Philosophie, dem nachweimarischen Literaturgeschmack, nicht zuletzt der zunehmenden Verwissenschaftlichung und Ausdifferenzierung ehemals harmonisierender Disziplinen. Aus der Nachgeschichte des Anthropologiebooms wurden zum einen »annähernd autonome Direkttheorien«, zum anderen »deutlich heteronome Direktanwendungen« des leibhaftigen Poesieverständnisses rekapituliert. Für erstere diente Karl Heinrich Ludwig Pölitz’ Koppelung von Vermögenslehre und Gattungspoetik (Das Gesammtgebiet der teutschen Sprache, nach Prosa, Dichtkunst und Beredsamkeit, 1825), für letztere Karl Friedrich Beckers anthropologischer Funktionalismus (Die Dichtkunst aus dem Gesichtspunkte des Historikers betrachtet, 1803) als Beispiel. Diese Fälle anthropologischer Nichtunterscheidung des Ästhetischen gehörten, so Hárs, in die Vorgeschichte eines Umgangs mit Literatur, dessen Bedingungsrahmen auch im Rahmen der Tagung behandelt wurde.
Anja Oesterhelt (Gießen) griff in ihrem Vortrag »Kein Universelles ohne Individuelles. Friedrich Schleiermachers Hermeneutik und Kritik« auf das hermeneutische Poesieverständnis des frühen 19. Jahrhunderts zurück und reformulierte es im Kontext der Universalienproblematik. Der Umstand, dass sich das universelle System der Sprache mit jeder individuellen Redehandlung verändere und damit seine sinnschöpferische Potenz entfalte, trete nach Schleiermacher besonders in der poetischen Sprache hervor. Hier erscheine das Problem des individuellen Allgemeinen als von der Norm abweichender Sprachgebrauch und zeige sich in der ständigen Eröffnung (und d.h. auch Realisierung) von neuen Möglichkeiten. Auf die Rezeption poetischer Texte bezogen, würden wiederum die individuellen Leistungen des einzelnen Lesers zu Abweichungen: Die Erweiterungen des Bedeutungsspektrums des Textes seien Paradoxa eines Rahmens, dessen Anspruch immer nur als ein zurückgelassener erhoben wird.
Lajos Mitnyán (Szeged) erläuterte in seinem Beitrag »Überlegungen zum Problem des Literarischen bei Martin Heidegger« das provokative Literaturverständnis des Philosophen erläutert, indem er als Grundlage der Heidegger’schen Literaturauffassung jene sprachphilosophische Denkweise aufgezeigte hat, die auf der Vorstellung einer nichtpropositionalen Sprachlichkeit beruht. Heideggers These nach könne die Sprache nicht als Gesamtheit propositionaler Aussagen verabsolutiert werden, weil dadurch eine authentische Wiedergabe der menschlichen Welterfahrung unmöglich gemacht werde. Die Literatur bietet jene Sprachform, durch welche die nichtpropositionale Seite der Sprache durch Dialogizität, Expressivität und Lebendigkeit hervortreten könne. Heidegger führe in seiner Sprachphilosophie eine Unterscheidung zwischen Literatur und Dichtung ein. Den Hintergrund dieser Differenzierung bildeten die zwei Seinsmodi der menschlichen Existenz: das authentische, denkende Dasein und die unauthentische Seinsvergessenheit. Heidegger spreche also von zwei Grundformen des Weltverhältnisses, die als zwei geschichtliche Formen und Funktionen der kulturellen Praxis zu verstehen seien. Die Unterscheidung zwischen Literatur und Dichtung sei das Ergebnis der Methode der Dekonstruktion, die er bereits in Sein und Zeit ausgearbeitet habe. Die Literatur – vom lateinischen littera (Buchstabe) – werde der Dichtung ‒ vom Lateinischen dicere (Reden/Sagen) ‒ als ein verfallener Modus einer ursprünglich lebendigen Form der Welterschließung gegenübergestellt. Heidegger übe mit seiner Literaturauffassung eine scharfe Kritik an der Kultur: »Nötig ist in der jetzigen Weltnot: weniger Philosophie, aber mehr Achtsamkeit des Denkens; weniger Literatur aber mehr Pflege des Buchstabens.«
7. Fazit
Insgesamt hat die Tagung gehalten, was sie versprochen hat: die theoretische Auseinandersetzung mit Universalien der Literatur aus der Sicht der modernen Kognitionswissenschaften. Die Reihenfolge der Vorträge hat die Kontroverse befördert, scharfe Diskussionen haben dazu beigetragen, klare Thesen der noch jungen Disziplin der kognitiven und evolutionären Literaturwissenschaft zu formulieren und ihren Anwendungsbereich einzugrenzen. So herrschte Konsens darüber, dass Ergebnisse der Kognitionswissenschaften grundsätzlich zur Erforschung von universellen kognitiven und emotionalen Mechanismen des Lesens und zur neuartigen Beantwortung von Grundsatzfragen des Literarischen, wie z.B. der Fiktionalität, beitragen und nur begrenzt als textanalytisches Instrumentarium anzuwenden sind. An diesem Punkt gingen die Meinungen aber schon stark auseinander: Gehört z.B. die entwicklungspsychologische Erforschung des Lesens zum Kompetenzbereich der Literaturwissenschaft, oder entfernen wir uns mit dieser Problemstellung viel zu weit davon, was wir ›Literatur‹ nennen? Welche Relevanz räumen wir den biologischen Grundlagen des Literarischen ein, wenn wir den literarischen Text als etwas grundsätzlich Kontextabhängiges betrachten? Auf diese Fragen werden die Beitragenden noch einmal im geplanten Konferenzband, der 2013 erscheinen soll, zurückkommen.
Szegeder Universität
Institut für Germanistik
2012-09-10
JLTonline ISSN 1862-8990
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