Theresa Schön

Die Person im Spiegel der Emotionen

Internationaler Workshop »Person und Emotion – Beiträge zu einer Pragmatik der Literatur im 18. Jahrhundert«, Halle, 29.–30.03.2012.

Ausgehend von aktuellen Debatten um die Philosophie(n) der Person konzipierten Konstanze Baron (Halle) und Sonja Koroliov (Frankfurt am Main/Innsbruck) den internationalen Workshop, im Rahmen dessen sie den Versuch unternahmen, auf Basis eines integrativen Personbegriffs im historischen Zugriff die Literatur und Philosophie der Aufklärung nach ihren Konzeptionen der Person zu befragen. Der Workshop fand vom 29. bis zum 30. März 2012 in den Räumlichkeiten des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung (IZEA) in Halle statt, das ihn gemeinsam mit der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg ermöglicht hat.

Aufbauend auf der seit dem 19. Jahrhundert geübten Kritik an aufklärerischen Vorstellungen der Person fand der Workshop eine konzeptionelle Basis in der Annahme, dass eine Person nicht nur durch ihr Bewusstsein und ihre Rationalität zu definieren sei, sondern sich darüber hinaus wesentlich durch ihre emotionalen und sozialen Bindungen zu ihrer Umwelt auszeichne. Neben der Untersuchung spezifischer aufklärerischer Philosophien der Person wie z.B. der von John Locke und Immanuel Kant lässt sich die Beziehung der aktuellen philosophischen Debatte zur Epoche der Aufklärung in doppelter Weise rekonstruieren: Einerseits kann man eine bis heute andauernde Kontinuität von in der Aufklärung geprägten Denkmustern feststellen; andererseits können in den soziokulturellen (Um-)Brüchen des Aufklärungszeitalters und den Veränderungen um die Wende zum 21. Jahrhundert Parallelen ausgemacht werden, die wesentlich auf die Konzeptualisierung des Begriffs der Person einwirken. Aus der Perspektive verschiedener Disziplinen wie Literaturwissenschaft, Philosophie, Rechtstheorie und Soziologie reflektierten die Teilnehmer des Workshops den Niederschlag und Zusammenhang von Personalitäts- und Emotionalitätskonzeptionen in literarischen und philosophischen Texten der Aufklärung.

Den Workshop eröffnete Jonathan Lamb (Vanderbilt/Cambridge) mit einem Vortrag zu »Conjectures, Facts, Imagination, and How Persons Lose Civility«, in dem er die Rolle der Fiktion für die Begründung einerseits und Bedrohung andererseits des bürgerlichen Status der Person hervorhob. Anschließend an Alfred Whiteheads 1925 in Science and the Modern World formulierte These, dass der Personbegriff eng mit der Frage nach dem Wesen der Dinge und nach dem sozialen Rahmen verbunden sei, zeigte der Referent, wie Thomas Hobbes die Person als ein im Geist kreiertes Bild (image) behandelte, das im Leviathan seinen wohl wirkmächtigsten Ausdruck findet. Ähnlich verhält es sich bei John Locke, der die Konstruktion von Personalität jedoch nicht der Macht des Souveräns unterstellte, sondern im Selbst und im Bewusstsein lokalisierte. Nachfolgende Philosophen wie Adam Smith und Immanuel Kant betonten neben der sozialen Natur die emotionale und affektive Verfasstheit der Person. Die Romane der Spätaufklärung wie z.B. Jane Austens Northanger Abbey schließlich problematisierten den Genuss von ›wahrscheinlichen Fiktionen‹ (probable fictions), die durch die Ausnutzung der Bereitschaft des Lesers zur Hypothesenbildung (conjectures) den Verlust der civility herbeiführen könnten. Die anschließende Diskussion thematisierte neben dem wechselseitigen Verhältnis von Philosophie und Literatur die Natur und Funktion der Hypothese, die Bedeutungshorizonte von ›Person‹ im Englischen (gegenüber dem Deutschen) sowie die Relevanz des Konzepts der propriety im vorliegenden Kontext.

Mit dem Zusammenhang von Person und Emotion in aufklärerischen Entwürfen des Begriffs ›Person‹ beschäftigte sich Barbara Ventarola (Würzburg) in ihrem Vortrag »Personale Identität in der Vielfalt der Emotionen? Lösungsvorschläge bei Descartes, Locke, Leibniz und Diderot«. Ausgehend von der etymologischen Entwicklung des Personbegriffs von der Rollenmaske zur hypostasis wies die Referentin bereits in Descartes’ vormoderner Vorstellung der Person das intrinsische Verhältnis von Person und Emotion (passions) nach. Demgegenüber entwickelt Locke ein Konzept der Person, das auf der Rolle des Selbstbewusstseins, der Körperlichkeit und der emotionalen Sinnlichkeit beruht. In Leibniz’ Modell verbinden sich Rationalismus und Sensualismus: Indem er die Person gemäß dem Prinzip der ›Faltung‹ als flexible, mehrdimensionale Instanz konzipiert, die über Selbstbewusstsein und einen sensiblen Körper sowie Emotionen verfügt, bietet Leibniz Antworten auf die von Descartes und Locke ungeklärten Fragen (z.B. bezüglich der Identität). Als letzten Ankerpunkt beleuchtete Ventarola die Vorstellung Diderots, die im Neveu de Rameau in der Selbstspaltung des Neffen zum Ausdruck kommt und – gegen die Ansichten von Leibniz – keine Harmonie in der Mehrdimensionalität mehr erkennt. In diesem Sinne, so die Referentin, verbinde sich die aktuelle Situation in ihrem Aufbrechen der statischen Identität mit Positionen, wie sie in Leibniz’ und Diderots Texten bereits im 18. Jahrhundert zum Ausdruck kommen. Diskutiert wurden Montaignes Verhältnis zur vorgestellten Entwicklungslinie sowie die Differenz von Charakter und Person, die in Diderots Text in Erscheinung tritt.

In seinem Vortrag »Gefühl und Vernunft in Laurence Sternes Tristram Shandy: Eine wissenssoziologische Analyse zum Wandel des Personbegriffs im bürgerlichen England des 18. Jahrhunderts« untersuchte Helmut Kuzmics (Graz) Sternes Umgang mit der Rationalität und Emotionalität seiner Figuren, die – mit Norbert Elias – integrale Bestandteile des Bewusstseins und damit der Person repräsentieren. Anhand der Gefühle der Scham und der Liebe sowie des Gewissens zeigte der Referent, wie Sterne –als Soziologe avant la lettre – seinen Figuren einen durch Wohlwollen (Uncle Toby) bzw. Reflexion (Walter Shandy) geprägten sozialen Habitus verleiht, der gleichermaßen unter dem Einfluss von physiologischen Gegebenheiten steht. Entgegen einer weit verbreiteten Forschungsmeinung gelangte der Referent zu dem Ergebnis, dass sich durch die Reflexivität des Ich-Erzählers, die an und durch die den Roman dominierenden digressions im Handlungsverlauf erkennbar wird, das Selbst der Person manifestiert (nicht: dekonstruiert). In dieser Metakommunikation verhandelt das Erzähler-Ich seine Beziehung zum Leser und zeigt auf, wie es seine Wissensstrukturen entwickelt. Die Diskussion berührte verschiedene Aspekte des Vortrags wie das handlungsleitende Prinzip der benevolentia und die personale Kategorie der oddity (Sonderbarkeit) bei Diderot und Sterne.

Einen emotionsphilosophischen, phänomenologischen Ansatz verfolgte Jan Slaby (Berlin) in seinem Vortrag »Möglichkeitssinn und Handlungsbereitschaft: Überlegungen zur emotionalen Verfasstheit der Person«. In seiner Skizze der ›affektiven Intentionalität‹ legte der Referent auf Basis der Philosophie Jean-Paul Sartres dar, wie affektive Hintergrundgefühle wie Melancholie oder Langeweile – in ihrer Selbstbezüglichkeit und Leiblichkeit eng mit dem Handlungsvermögen verwoben – als charakter- und identitätsbildende Strukturen Möglichkeitsräume eröffnen und damit zu Vollzugsformen des Handelns werden. Gegen die weit verbreiteten Annahmen der Mentalitäts- und Individualitätsphilosophie betonte der Referent das lebensweltliche Fundament und den Handlungscharakter der Emotionen, die als ›Verhaltungen‹ einen Einblick in die Normativität und Temporalität der menschlichen Existenz gewähren. Die Diskussion problematisierte einzelne Aspekte des im Vortrag vorgeschlagenen Modells, hierbei besonders das Verhältnis von Selbst und Welt, das spezifische Personkonzept des phänomenologischen Ansatzes, die Gestaltung des individuellen Bewusstseins bei Sartre sowie die Verbindung der Hintergrundgefühle zum Aristotelischen ethos.

Als Gegenstand der Geistes- und Mentalitätsgeschichte stand die widersprüchliche personale Identität Nicolas Chamforts im Mittelpunkt der Ausführungen von Rüdiger Zill (Potsdam). In seinem Vortrag »Als der erscheinen, für den man gehalten sein will: Die problematische Personalität in der Aphoristik Nicolas Chamforts« analysierte der Referent Chamforts Werk, das Einflüsse aus Moralistik, Aufklärungsphilosophie und dem Werk Rousseaus in sich vereint und das Verhältnis von Vernunft und Leidenschaften, von Gesellschaft und Individuum neu definiert. Seine Aphorismen zeugen von dem Versuch, den in der gesellschaftlichen Interaktion offenbarten Inkonsistenzen seiner eigenen Person zu begegnen. Die Textform des Aphorismus mit ihren wesentlich pragmatischen und performativen Eigenschaften erwies sich dabei als besonders fruchtbar: Als Zwischennoten der Konversation im Gestus der plötzlichen Eingebung vermögen die Sammlungen das emotionale ›Schwanken‹ der Person zwischen Gesellschaft und Einsamkeit einzufangen. Die Diskussion gab Gelegenheit, die Hintergründe der Attraktivität des Aphorismus in der Kultur des 18. und des 21. Jahrhunderts sowie dessen Qualitäten als Kulturtechnik und Lebensform zu ermitteln. Darüber hinaus wurde das Werk Chamforts vor dem Hintergrund einer seit dem 17. Jahrhundert gewandelten Auffassung von honnêteté problematisiert.

In ihrem Vortrag »Illness and Personhood in the Travel Writings of Denis Fonvizin« stellte Sara Dickinson (Genua) in einer Fallstudie die Konstruktion von Personalität im Werk des russischen Dramatikers Denis Fonvizin vor. Mit Blick auf die während seiner Europareisen entstandenen Briefe hob die Referentin hervor, wie sich Fonvizin die dramatischen Konventionen zunutze machte, um seine personale Identität in der Entfremdungserfahrung aufrecht zu erhalten. Ebenso wie in seinem dramatischen Schreiben sah Fonvizin in der Reiseliteratur ein Mittel, die Realität zu gestalten. Einen Sonderfall repräsentiert hierbei das Erlebnis von Krankheit und Armut. Die Referentin zeigte, dass infolge des Krankheitsleidens die distanzierte Haltung des Dramatikers gegenüber der Realität aufbricht – mit wesentlichen Konsequenzen für die Konstruktion seiner personalen Identität in einem daraufhin deutlich pointierten Selbst-Bewusstsein. Anschließend wurden Fonvizin als »baroque misanthrope« und seine Rolle als Aufklärer diskutiert.

Mit der prekären Situation der Person in russischen sentimentalistischen Erzählungen befasste sich Sonja Koroliov (Frankfurt am Main/Innsbruck) in ihrem Vortrag »Werden, was man fühlt: Vom Verschwinden der Person im russischen Sentimentalismus«. In ihrer Analyse der Werke verschiedener russischer Autoren wie Karamzin, L’vov und Izmailov stellte die Referentin dar, dass sich die Erzählungen, deren zentraler Gedanke im Erkennen eines essentialistisch gedachten Subjekts und dessen Verteidigung gegenüber der Gesellschaft besteht, von Protagonisten getragen werden, deren hervorstechendes Merkmal ihre Emotionalität ist. Die Dominanz der Emotionalität jedoch führt paradoxerweise zur Reduktion von Personalität, was sich in einer gestörten Zeitwahrnehmung, dem Aufbrechen der die Person konstituierenden Kausalität und einer mangelnden intersubjektiven Verlässlichkeit ablesen lässt. Die Diskussion ermöglichte den Austausch über die Voraussetzungen und die Konsequenzen des Verschwindens der Person – die primäre Existenz der Person einerseits und der Verlust von Identifikationsfiguren für den Leser andererseits.

Einen Einblick in die frühe Geschichte des polnischen Romans gewährte Alfred Sproede (Münster) in seinem Vortrag »Begriffe der Person im französischen und polnischen Roman des ausgehenden 18. Jahrhunderts«. Als Teil des Prozesses der Nobilitierung des Romans in Polen beleuchtete der Referent den 1813 entstandenen Roman Malwine oder Die Intelligenz des Herzens von Maria Czartoryska-Wirtemberska, der ein Vorbild in Sophie Ristaud Cottins Malvine (1801) fand, die Person jedoch grundlegend anders konzipiert. Während sich Cottins Figuren durch ihre Unbeständigkeit und Wechselhaftigkeit auszeichnen und damit identitätslos erscheinen, distanziert sich die polnische Autorin von der fraglich gewordenen Charakterkunde (»bien soutenir son caractère«), indem sie die Zerrissenheit der Personen per Doppelgängermotiv in zwei Einzelfiguren auflöst. Gleichzeitig historisiert sie das Spezifische an einer Person; die Frage nach der Differenzqualität zwischen Personen beantwortet sie mit deren Geschichte (eine/keine Geschichte haben; die Tiefe der Geschichte). Die Diskussion klärte Fragen nach dem Moment der zerfallenden Charakterologie und dem von Maria Czartoryska-Wirtemberska gestalteten Verhältnis der Romanfiguren zum kognitiv-emotional mobilisierten Leser.

In seinem Vortrag »The Aesthetics of the Person in the German ›Kodifikationsstreit‹ from Grimm to Hegel« dokumentierte Charlton Payne (Erfurt) den Personbegriff, wie er in der Debatte um die Kodifizierung des deutschen Rechts im Jahr 1814 zwischen Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Anton Friedrich Justus Thibaut einerseits und der sogenannten ›historischen Schule‹ um Friedrich Carl von Savigny und Gustav Hugo andererseits zum Ausdruck kam. In fundamentaler Uneinigkeit über die seit Montesquieu geläufige Frage, ob Recht Gebräuche und Sitten produziert oder reflektiert, verfolgten beide Parteien das Ziel, die Willkür in juristischen Entscheidungen zu reduzieren. Die Auseinandersetzung spiegelt sich in den grundlegend verschiedenen Konzeptionen der zivilrechtlichen Person wider. So war Jacob Grimm – ein Schüler Savignys – im Gegensatz zu Hegel und Thibaut, die juristische Personalität als abstrahiert von individuellen Gegebenheiten begriffen, um die Integrität der Person mit ihrer physisch-sinnlichen Existenz bemüht. Mit Hilfe mimetischer Konzepte rekonstruierte Grimm anhand historischer Dokumente wie den Liedern der alten Edda die sensorischen Grundlagen des deutschen Rechts und versuchte auf diese Weise, Wege zur Sicherung der rechtlichen Identität von Personen und ihrer Physis aufzuzeigen. In der Diskussion wurden Fragen der historischen Verankerung der Debatte in Bezug auf bereits existente Gesetzestexte wie den Code Napoléon und auf parallele Entwicklungen wie den Positivismus in Frankreich verhandelt.

Fazit

Die Beiträge verdeutlichten den engen Zusammenhang der aufklärerischen Philosophie und Literatur anhand der Konzepte der ›Person‹ und der ›Emotion‹. Dabei wurde klar: Literatur bildet die Person nicht nur ab, sondern sie weist außerdem eine die Person konstituierende Dimension auf (in und durch Fiktion). Von daher scheint es tatsächlich sinnvoll, die Person, wie von den beiden Organisatorinnen angeregt, nicht primär als theoretisches Konzept, sondern gemäß ihren praktischen Vollzügen zu erfassen. Die diskursiven, erzählenden und aphoristischen Texte, die im Rahmen der Vorträge untersucht wurden, offenbaren das gleichermaßen stabilisierende wie disruptive Potential der Emotionen: In ihrem Spiegel entsteht oder verschwindet die Person. Insgesamt malten die Beiträge ein komplexes Bild des Verhältnisses von Person und Emotion in der europäischen Literatur und Philosophie der Aufklärung, dessen systematische Erfassung noch aussteht. Desgleichen lassen sie ein Desiderat im Feld der Literaturtheorie erkennen: Die Analysen belegen, in welchem Maße lebensweltliche Modellierungen von Person(en) und Emotion(en) Eingang in die Literatur der Aufklärung finden und wie sie dort wirksam werden. Die Ergebnisse haben Bedeutung für die traditionelle literaturtheoretische Differenzierung von Figur bzw. Charakter und Person, [1] über die in diesem Licht neu nachgedacht werden muss. Eine Fortsetzung der gemeinsamen Überlegungen im Rahmen einer weiterführenden Tagung ist anvisiert.

Theresa Schön

Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Landesforschungsschwerpunkt Aufklärung-Religion-Wissen

Anmerkungen

[1] Vgl. z.B. Fotis Jannidis, Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie, Berlin/New York 2004. [zurück]

2012-06-19

JLTonline ISSN 1862-8990

This work may be copied for non-profit educational use if proper credit is given to the author and JLTonline.

For other permission, please contact JLTonline.