Natalia Igl / Sonja Zeman

Auf der Suche nach den Grundprinzipien von Narrativität –

transmedial und interdisziplinär

Grundprinzipien von Narrativität: Perspektiven und Perspektivierung in Bild, Sprache, Musik. Workshop, Universität Bayreuth, 22.–23.06.2012.

1. Zum Ausgangspunkt des Workshops – »Narrativity is a vexed issue [...]« [1]

Narrativität ist ein »irritierender« Forschungsgegenstand – dieser Konsens der aktuellen Forschung bildete den Ausgangspunkt für den Workshop »Grundprinzipien von Narrativität: Perspektiven und Perspektivierung in Sprache, Bild, Musik«, der vom 22. bis 23. Juni 2012 an der Universität Bayreuth stattfand und das Forschungsfeld aus einer interdisziplinären Perspektive in den Blick nahm: Ziel des Workshops war es, die in den unterschiedlichen Fachbereichen verorteten Konzeptionen von Narrativität zusammenzuführen und sich durch deren Abgleich einer Definition anzunähern, die sich interdisziplinär wie transmedial als tragfähig erweisen kann. Während innerhalb des narratologischen Kontexts eine solche interdisziplinäre Zielsetzung bereits auf eine lange Traditionslinie zurückblicken kann, [2] stand im vornehmlichen Interesse des Workshops die Diskussion der These, dass sich die Grundprinzipien von Narrativität aus kognitiven wie sprachlichen Perspektivierungsstrukturen ableiten lassen, und dass diese sowohl auf den unterschiedlichen sprachlichen Ebenen als auch innerhalb der einzelnen Medien aufgezeigt werden können. Um diese Ausgangshypothese in einem interdisziplinären Rahmen zur Diskussion zu stellen, führte der Workshop Teilnehmer aus den Bereichen der Sprach- und Literaturwissenschaft, der Älteren deutschen Philologie und der Filmwissenschaft zusammen, die in ihren Vorträgen literatur-, bild-, sprach- und musikwissenschaftliche Aspekte narrativer Perspektivensetzung diskutierten.

1.1. Schwierigkeiten merkmalsbasierter Definitionen von Narrativität

Im Eröffnungsvortrag argumentierten wir – Natalia Igl (Bayreuth) und Sonja Zeman (München) – als Organisatoren zunächst für die zentrale These des Workshops, die als Impuls für die Diskussion der weiteren Beiträge dienen sollte. Unter einer Engführung literaturwissenschaftlicher wie linguistischer Definitionen setzten wir dabei die bekannte Problematik merkmalsbasierter Konzepte von ›Narrativität‹ an den Ausgangspunkt: Merkmale wie ›Sequentialität‹, ›Ereignishaftigkeit‹ etc., die in der narratologischen Literatur hinsichtlich einer »core definition« von Narrativität diskutiert und zu entsprechenden »Merkmals-Sets« zusammengefasst werden, [3] liefern demnach widersprüchliche Ergebnisse, wenn ein konkreter Text hinsichtlich seiner ›Narrativität‹ bewertet werden soll: Anhand eines kurzen Textausschnitts aus Wolf Haas’ Roman Auferstehung der Toten (1996) [4] wurde exemplarisch vorgeführt, dass der (literaturwissenschaftlich geprägte) Blick auf die Makrostruktur der ›Erzählung als Ganzes‹ eine Bewertung des Textes als ›narrativ‹ nahelegt, während der (linguistisch orientierte) Blick auf die mikrostrukturellen Einheiten der Diskursrelation und des Diskursmodus den Textausschnitt als ›nicht narrativ‹ einstufen würde. Eine Definition von Narrativität auf der Basis von Merkmalslisten – so wurde vor diesem Hintergrund deutlich gemacht – steht damit immer in Abhängigkeit von dem fokussierten Phänomenbereich. Gleichzeitig rücken abhängig von der jeweils zugrunde gelegten Definition unterschiedliche Phänomenbereiche in den Fokus. Der Begriff der Narrativität verweist dementsprechend entweder auf mikrostrukturelle Phänomene (›Narration‹ als Diskursmodus) oder makrostrukturelle Phänomene (›Narration‹ als ›Produkt‹/Textganzes).

1.2. Mikro- und makrostrukturelle Erfassung von Narrativität: Zur Rekursivität der doppelten Diskursstruktur

Mit Blick auf das Ziel, eine intermedial tragfähige Definition zu entwickeln, die mikro- und makrostrukturelle Phänomene erfassbar macht, wurde die Relevanz dieser gegenseitigen Abhängigkeit anhand einer Bildanalyse von Benozzo Gozzolis Gemälde Tanz der Salome (1461) deutlich gemacht. [5] Die exemplarische Analyse sollte illustrieren, dass weder die von verbalen Ausprägungen von Narrativität abgeleitete Minimaldefinition der Erzählung als »a representation of an event or a series of events« [6] noch die heterogenen »Zutaten«-Listen [7] eine adäquate Erfassung piktoraler Narrativität leisten können.

Vor diesem Hintergrund wurde von uns für eine Veränderung der Blickrichtung argumentiert: Als Grundannahme fungiert dabei die Überlegung, dass eine Bezugsetzung von Mikro- und Makro-Ebene über die Beschreibung derjenigen Grundprinzipien möglich ist, die sich rekursiv auf den unterschiedlichen Ebenen wiederfinden. Mit anderen Worten: Die Grundprinzipien von Narrativität sind, wie unser Vortrag ausführte, in der Schnittmenge der Strukturen zu finden, die sich sowohl auf der Ebene des Diskursmodus als auch in Bezug auf die Erzählung als ›Ganzes‹ aufzeigen lassen. In dieser Hinsicht ist ›Narrativität‹ als ein relationales Strukturprinzip zu fassen, das sich durch das Verhältnis der Erzählebenen zueinander beschreiben lässt. Die von uns vorgestellte Arbeitsdefinition ist dabei von der Verwendung des Terminus ›narrativ‹ als Textsortenattribut bzw. als Terminus zur Gattungsunterscheidung abzugrenzen.

Während diese Doppelstruktur in vielen Minimal-Definitionen als eines der Charakteristika für ›Narrativität‹ angesetzt wird, zeigten wir exemplarisch auf, dass in bildlichen wie sprachlichen narrativen Darstellungen zudem eine dritte Ebene der Evaluation anzusetzen ist, die sich als konstitutiv für den narrativen Diskurs verstehen lässt. Diese ist in der Regel nicht sichtbar durch formale Mittel markiert, wird aber anhand von Phänomenen der Metanarration wahrnehmbar, bei denen die Ebenen ›auseinanderfallen‹. Am Ende des Vortrags stand damit die These, dass sich die Grundprinzipien von Narrativität nicht durch isolierte Einzelmerkmale erfassen lassen, sondern dass das Verhältnis der Ebenen zueinander das strukturelle Grundprinzip für eine Beschreibung von ›Narrativität‹ stellt. Relevant gesetzt sind damit die Relationen der Ebenen zueinander sowie die damit verbundenen unterschiedlichen Perspektivensetzungen. Damit – so unsere These – erweist sich insbesondere der Blick auf unterschiedliche Perspektivierungsstrukturen für eine transmediale wie interdisziplinäre Erfassung von ›Narrativität‹ als aufschlussreich.

Der Vortrag von Sonja Zeman [8] »Knowing to know they know you know: Perspektivierung, Point of View und Theory of Mind« schloss in dieser Hinsicht unmittelbar an den Eröffnungsvortrag an: Sie stellte zunächst eine Definition von ›Perspektive‹ als visuelles Wahrnehmungsprinzip an den Ausgangspunkt ihrer Überlegungen und setzte diese in Bezug zu den kognitiven Verarbeitungsstrukturen einer Theory of Mind. Vor diesem Hintergrund argumentierte der Vortrag anhand unterschiedlicher grammatischer Point-of-View-Phänomene dafür, dass ›Perspektivierung‹ als ein grundlegendes sprachliches Prinzip zu verstehen sei, dessen relationale Grundstruktur das Grundmuster für Perspektivierungsphänomene auf der Textoberfläche stelle. Zeman vertrat die These, dass sich die Differenzierung einer ›Sprecher‹- vs. ›Beobachter‹-Ebene als eine doppelte Struktur durch den narrativen Diskurs ziehe. Diese Struktur werde in der Regel zwar nicht explizit kodiert, spiegele sich jedoch rekursiv in der narrativen Makrostruktur wider. Anhand der exemplarischen Analyse satzinterner Einbettungsstrukturen argumentierte Zeman zudem dafür, dass der hierarchische Ebenen-Unterschied von Betrachter- vs. Sprecher-Perspektive die Voraussetzung für die Etablierung evaluativer Strukturen darstelle. Diese gingen auf der Ebene von Einzelsätzen mit de re vs. de dicto-Unterschieden einher, während sie sich auf der Textoberfläche als Formen metanarrativer Perspektivierung aufzeigen ließen.

Zemans Vortrag lieferte damit die sprachwissenschaftliche (i.e. mikrostrukturelle) Begründung der Ausgangsthese des Workshops, dass eine transmediale Erfassung der Grundprinzipien von ›Narrativität‹ durch einen Abgleich der diskursiven Mikro- und Makroebene möglich sei. Komplementär ergänzt wurde der Vortrag durch die literaturwissenschaftliche Analyse metanarrativer Strukturen im späteren Vortrag von Igl.

2. Narrativität und Perspektivierung – interdisziplinär und transmedial

Im Folgenden beleuchteten die Teilnehmer des Workshops den Phänomenbereich Narrativität und Perspektivierung u.a. aus literatur-, film-, musik- und sprachwissenschaftlicher Sicht, sowohl mit Blick auf systematische Modellierungen wie auch auf diachrone Entwicklungen.

2.1. Perspektivierungsphänomene in Literatur und anderen Erzählmedien

In ihrem Vortrag »Perspektivierung in Christian Krachts Roman Imperium (2012)« legte Katrin Dennerlein (Bayreuth/Würzburg) den Fokus auf die Frage, welche Perspektivierungsstrategien auf der Figuren- sowie der Erzählerebene zum Tragen kommen. Sie ging dabei aus von zwei exemplarischen narratologischen Definitionen von ›Perspektive‹ (nach Wolf Schmid sowie Burkhard Niederhoff). [9] Dennerlein führte anknüpfend an diese beiden Definitionsversuche am Beispiel von Krachts Roman aus, wie Perspektivierungen auf der Figuren- und der Erzählerebene in ein Spannungsverhältnis zueinander treten können. In diesem Spannungsverhältnis werde eine kritisch-ironische Bewertung des Protagonisten Engelhardt erzeugt.

Die anschließende Diskussion fokussierte insbesondere die Frage, inwieweit die kritische Distanzierung vom Erzählten durch die Erzählinstanz als perspektivisches Prinzip zu verstehen ist, das sich auf den unterschiedlichen Erzählebenen wiederholt aufdecken lässt. In dieser Hinsicht konnten die in Dennerleins Vortrag vorgestellten Textbeobachtungen in der Diskussion an die von uns vorgeschlagene Modellierung angebunden werden, in der die Etablierung einer metanarrativen Evaluationsebene als grundlegend für Narrativität angesetzt wird.

Einen transmedialen Versuch der Modellierung von Narrativität nahm Jean-Pierre Palmier (Bielefeld) in seinem Vortrag »Erzählzusammenhänge. Über unspezifische Perspektiven im Erzählen« vor. Ziel des Vortrags war u.a. die Beantwortung der Frage, wie sich das Grundprinzip der Perspektive in eine medienbewusste Erzähltheorie einfügen lässt. Ausgangsbasis dieser Fragestellung bildeten dabei fünf grundlegende Thesen in Bezug auf Erzählen als Modus sowie Medien des Erzählens. So fasste Palmier (i) Erzählen als sprachunabhängig, (ii) Erzählmedien als Medien, die Geschichten erzählen, sowie (iii) Film als Medium prototypischen Erzählens; ›Erzählungen‹ lassen sich nach Palmier (iv) strukturell treffend als ›Erzählzusammenhänge‹ beschreiben, welche (v) als perspektivenunspezifisch anzusehen seien. Ausgehend von diesen Thesen argumentierte Palmier dafür, dass nicht die Distanz des Erzählers bzw. Rezipienten zum Geschehen als charakteristisch für Erzählungen anzusehen sei, sondern die Variabilität der Mittelbarkeit – also die Möglichkeit, aus erzähltaktischen Gründen zwischen mittelbaren und unmittelbaren Darstellungsmodus zu wechseln.

Gerade an den Beispielen filmischen Erzählens wurde in Bezug auf die Frage nach den konstitutiven Merkmalen von Narrativität die Notwendigkeit deutlich, zwischen funktionalen Grundprinzipien von Narrativität und den formalen Mitteln des Erzählens zu unterscheiden. In der Diskussion wurde diese Unterscheidung insbesondere für transmediale Vergleiche als relevant angesehen, um narrative Perspektivierungsstrategien in den unterschiedlichen Medien in Bezug auf ihre medienspezifischen Charakteristika untersuchen zu können.

2.2. Diachrone Perspektiven auf narrative Perspektivierungsstrategien

Die Vorträge aus der Mediävistik erweiterten die Diskussion um die Grundprinzipien von ›Narrativität‹ um eine historische Dimension und zeigten auf, dass sich die einzelnen Merkmale, die als konstitutiv für ›Narrativität‹ angesehen werden, in Bezug auf ältere Texte als problematisch erweisen: Nadine Hufnagel (Bayreuth) problematisierte in ihrem Beitrag »Daz hat der Glichesere her Heinrich getichtet – Perspektiven von einem und auf einen mittelhochdeutschen Erzähler« anhand der in aktuellen mediävistischen Forschungsbeiträgen zum Teil abgelehnten Differenzierung zwischen ›Autor‹ und ›Erzähler‹ die narratologische Frage »Wer spricht?« in Bezug auf mittelhochdeutsche Erzähltexte. Auf der Basis einer Unterscheidung von vier Facetten der Erzählinstanz im mittelalterlichen Tierepos Reinhart Fuchs argumentierte Hufnagel für die Notwendigkeit der klaren Unterscheidung von Erzähler und Autor in historischen Texten. Erst diese Differenzierung ermögliche es, die Formen perspektivischen Erzählens in Form von Ambivalenzen und narrativen Doppelbödigkeiten überhaupt in den Blick zu bekommen.

Auch in diesem Beitrag erwies sich damit das Verhältnis der Erzählebenen zueinander als relevante Größe. Gleichzeitig wurde aus der diachronen Perspektive deutlich, dass traditionell hinzugezogene Merkmale wie ›Ereignishaftigkeit‹ und ›Sequentialität‹ nicht als allgemeingültige Kriterien für Narrativität angesehen werden können, da diese relational zum historischen Kontext zu bestimmen sind und somit nicht als statische Größen gelten können.

Dass sich die Merkmale, die zur Bewertung der ›Narrativität‹ eines Textes herangezogen werden, nicht ohne Probleme auf historische Sprachstufen übertragen lassen, wurde auch im Vortrag »Fokussierung und metanarrative Elemente im Lanzelet von Ulrich von Zatzikhoven« von Friedrich Michael Dimpel (Erlangen) deutlich. Am Beispiel der Figurendarstellung im Lanzelet skizzierte Dimpel die Techniken der Perspektivensteuerung des Textes und zeigte exemplarisch die Charakterisierung der Figur ›Ade‹ als metanarratives Element auf. Im Rückgriff auf die zuvor von Nadine Hufnagel bereit gestellte Differenzierung wurde dabei in der Diskussion noch einmal unterstrichen, dass ein ahistorischer Blick zu einer problematischen Unschärfe hinsichtlich des Verhältnisses von Autor und Erzähler führt: Die klare begriffliche – bzw. funktionale – Trennung dieser beiden Instanzen ermöglicht es erst, die evaluative Ebene in historischen Texten adäquat zu erfassen.

2.3. Makrostrukturelle Formen (meta-)narrativer Perspektivierung als Ausfaltung einer evaluativen Ebene

Der Vortrag von Natalia Igl nahm noch einmal Bezug auf die narrative Doppelstruktur, wie sie in dem Eröffnungsvortrag als konstitutiv für den narrativen Diskurs dargestellt worden war. Anhand konkreter Textbeispiele argumentierte Igl nun dafür, dass die narrative Doppelstruktur nicht als einfache Binärstruktur – etwa im Sinn der Unterscheidung von histoire und discours – zu verstehen sei, sondern als relationale Doppelstruktur, die ein »Mehrebenen-Modell« erfordere. Das Prinzip der Doppelstruktur zeige sich demnach nicht nur in der Unterscheidung einer Geschehens- vs. Repräsentationsebene, d.h. einer Unterscheidung zwischen Erzählung (récit/discours) und Erzähltem (histoire), sondern spiegele sich gleichermaßen im Verhältnis der Erzählinstanz zu einer dritten Ebene, der des (intendierten) Rezipienten, wider. Diese relationale Doppelstruktur sei gleichzeitig die Ausgangsbasis für die Etablierung einer evaluativen Ebene, von der aus z.B. die Erzählinstanz (explizite wie implizite) Perspektivierungen und Wertungen bezüglich der erzählten Welt und Figuren vornehme.

Zur Illustration dieser These nahm Igl konkrete Formen narrativer ›Metaisierungen‹ in den Blick, an denen sich die diskursive Etablierung einer evaluativen Ebene besonders deutlich zeigen lässt. Am ersten Textbeispiel, E.T.A. Hoffmanns Der goldne Topf. Ein Märchen aus der neuen Zeit (1814), zeigte Igl ausgehend von einer sprachwissenschaftlichen Konzeptualisierung des Phänomens der ›Ironie‹ als Form der doppelt kodierten Rede und damit der Doppelperspektivierung, [10] wie über metanarrative Strategien der Perspektivierung und Evaluation eine »Verschnürung« und Ebenen-Annäherung – sowohl zwischen Erzähler- und Figurenebene wie auch zwischen Erzählerebene und Ebene des (intendierten) Rezipienten – vorgenommen wird. Am Beispiel von Wolf Haas’ Roman Das ewige Leben (2003) zeigte der Vortrag abschließend, wie die in Erzählungen implizit angelegte doppelte Perspektivierungsstruktur im paradoxen Phänomen der Metalepse durch einen »Perspektivierungsclash« offen gelegt wird. Die beiden Beispielanalysen konnten damit verdeutlichen, dass die latent immer angelegte Ebenen-Unterscheidung durch ›Metaisierung‹ explizit gemacht wird.

In seinem Vortrag »Mehr als tausend Bilder. Zur Funktion der Musik in F. Fellinis LA STRADA« knüpfte Martin Huber (Bayreuth) im zweiten Teil des Workshops an die von Igl vorgestellte Modellierung der narrativen Ebenen-Relationen an und führte aus, wie die Musik als Vermittlungs- und Perspektivierungsinstanz im Film fungiert. Musik ist nach Huber nicht nur extradiegetisch als Filmmusik (score) und intradiegetisch als von Figuren rezipierte oder produzierte Musik relevant für filmisches Erzählen, sondern gerade in der (evaluativen) Doppelstruktur, die in Fellinis LA STRADA durch das metaleptische Überschreiten der Ebenen-Grenzen fassbar wird. So »wandere« die Musik von der extradiegetischen zur intradiegetischen Ebene bzw. andersherum. An der Analyse konkreter Filmsequenzen konnte der Vortrag zeigen, dass Musik weder rein der »äußeren Tonspur« noch rein der diegetischen Tonkulisse, sondern als übergeordnete Perspektivierungs- und Evaluationsstrategie der Ebene der (filmischen) Erzählinstanz zuzuordnen ist.

Insgesamt stützte Hubers Analyse auch aus transmedialer Sicht die Ausgangsthese des Workshops, dass die als konstitutiv verstandene narrative Doppelstruktur die Basis für die Etablierung einer evaluativen Ebene bzw. einer Relation zwischen der Erzählung und dem Erzählten bildet. [11]

2.4. Mikrostrukturelle Prinzipien der Perspektivierung in sprachlichen und sprachanalogen Symbolsystemen

Die Frage nach dem narrativen Potential von Musik stand auch im Vortrag »Sprache – Musik. Systemtheoretische Musterbildung, strukturelle Homologie und Narrativität« von Martina Werner (Wien) im Vordergrund. Während Huber zuvor einen ganzheitlichen Blick auf die metanarrative Funktion der Musik im filmischen Erzählen geworfen hatte, näherte sich Werner der Frage von einem mikrostrukturellen Blickwinkel aus: Ausgehend von der Annahme einer strukturellen Homologie von Sprache und Musik argumentierte sie für eine Übertragung der sprachwissenschaftlich fundierten Perspektivierungsprinzipien von Metapher und Metonymie [12] auf die Musik. Dem paradigmatischen Ersetzungsverhältnis der Metaphorik entspreche dabei in der Musik die Melodik, während die syntagmatische Kontiguitätsbeziehung der Metonymie ihre Entsprechung in der Harmonik finde, die damit gleichsam die »Grammatik« der Musik stelle. An konkreten Beispielen zeigte Werner im Folgenden, dass die jeweilige Grundtonart den Bezugsrahmen und damit eine implizite Perspektivensetzung darstelle, wobei Harmoniewechsel eine Veränderung der Perspektivensetzung bedingten. Auf dieser Grundlage illustrierte der Vortrag abschließend anhand von Beispielen der Programmmusik wie Bedřich Smetanas Vltava (Die Moldau, 1874/75) das narrative Potential der Musik, wobei sich auch hier die doppelte Temporalität und die Frage nach einer damit implizit verbundenen evaluativen Instanz als relevant erwies.

Während in der transmedialen Narratologie etwa von Marie-Laure Ryan die Grenzen ›musikalischen Erzählens‹ betont werden, [13] bekräftigte Elisabeth Böhm in der Diskussion aus musikwissenschaftlicher Perspektive die von Werner aufgezeigte ikonographische Funktion von Musik bzw. Instrumentation. Werners semiotisch-systemtheoretischer Zugriff machte deutlich, dass Musik über die Verbindung von Harmonik, Melodik und klanglichen Codierungen wie Instrumenten- oder Form-Semantik ›erzählt‹.

Die Frage nach dem Ausgangspunkt der Perspektivensetzung stand auch im Beitrag von Barbara Sonnenhauser (München) im Zentrum. Ihr Vortrag »Narrativität und die Konstruktion von Perspektivität im Bulgarischen und Makedonischen« arbeitete exemplarisch für den ›Renarrativ‹ im Bulgarischen und den dreifachen Artikel im Makedonischen das Perspektivierungspotential grammatischer Formen auf der Textebene heraus. Ausgehend von einer Problematisierung bisheriger Ansätze zeigte Sonnenhauser auf, dass beide Phänomene, die in der Forschung vor dem Hintergrund der Sprecherdeixis interpretiert werden, das Verhältnis unterschiedlicher Beobachtungspunkte in Bezug auf das jeweilige Beobachtungsobjekt kodieren. Die damit verbundene Offenlegung der Standpunkte erwies sich dabei gleichzeitig als Vorbedingung für Narrativität als einer perspektivischen – und damit relationalen – Textstruktur. In Abgrenzung zum ›mimetischen‹ Textmodus nach Wolf Schmid [14] wurde auch in Sonnenhausers Beitrag deutlich, dass das grundsätzliche Vorhandensein einer (möglicherweise nicht explizit kodierten) Erzählinstanz als relevant für die Erfassung von Narrativität anzusetzen ist.

Anschlussfähig an die im ersten Workshop-Teil vorgenommene Definition von ›Perspektivität‹ von Zeman erwies sich dabei insbesondere Sonnenhausers Modellierung des Konzepts als abstraktes Grundprinzip, das unabhängig von den kommunikativen Rollen beschrieben werden kann. Eine derartige Konzeption ermöglicht so die klare Abgrenzung von einem Perspektivenbegriff, der sich auf die emotional-kognitive Einstellung bzw. die ideologisch-psychologische Disposition eines ›Sprechers‹ bezieht. [15]

2.5. Konturierung des Phänomenbereichs Narrativität und Perspektivierung mit Blick auf dramatische Texte

Einen für die Konturierung des im Workshop behandelten Phänomenbereichs Narrativität und Perspektivierung wichtigen Schritt über die Gattungsgrenze nahm Elisabeth Böhm (Bayreuth) mit ihrem Vortrag »Perspektivierung dramatischer Texte« vor. In Abgrenzung zu Forschungspositionen, die eine in der Narratologie spezifisch für Erzähltexte entwickelte Systematik auf Dramen übertragen wollen, indem sie diese als ›erzählend‹ bzw. ›geschehensdarstellend‹ verstehen, [16] nahm Böhm die Frage in den Blick, mit welchen Textstrategien und auf welchen verschiedenen Textebenen Perspektivierung in dramatischen Texten geleistet wird. Unter ›Perspektivierung‹ verstand Böhm dabei ein dynamisches Prinzip im Sinne der Konstruktion von Relationen zwischen Elementen, wodurch sie die zu enge Fassung des Perspektivierungsbegriffs der ›klassischen‹ Dramenanalyse deutlich machen konnte. So behandelt Manfred Pfister, wie Böhm ausführte, in seinem noch immer relevanten Standardwerk Das Drama (1977) das Thema Perspektivierung ausschließlich unter den zwei Aspekten ›Figurenperspektive‹ und (der vom Autor intendierten) ›Rezeptionsperspektive‹. Böhm führte aus, dass in der aktuellen, stärker theater- und kulturwissenschaftlich ausgerichteten Fachdiskussion die Frage nach der Perspektivierung von bzw. in Dramentexten auf die Optik bzw. die Wahrnehmung reduziert worden sei.

An mehreren Textbeispielen skizzierte Böhm im Folgenden, dass sich Perspektivierungen in dramatischen Texten sowohl im Hinblick auf das Kommunikationssystem (Figurenebene; Perspektivierung über Figurenrede und -interaktion) ausmachen lassen, wie auch auf der Konzeptebene (u.a. Dramenhandlung, Tektonik, Symbolstruktur). Gerade die aus Sicht einer transgenerischen Untersuchung des Phänomens der Narrativität relevante Konzeptebene dramatischer Texte wird, wie Böhm deutlich machen konnte, weder in Pfisters (in der Rezeption simplifiziertem) Modell noch in aktuelleren Modellierungen der Narratologie erfasst.

3. Ergebnisse und Ausblick

In der Abschlussdiskussion des Workshops wurden die in den einzelnen Vorträgen sowie den daran anschließenden Diskussionen wiederkehrenden Fragen noch einmal zusammengeführt. Dabei zeichneten sich gerade mit Bezug auf die (intermedial angelegten) Beiträge aus der Film-, Musik- und Bildwissenschaft (Huber, Igl/Zeman, Palmier, Werner) als Konsens ab, dass die Bewertung des narrativen Gehalts von Bildern, Filmen und Musik anhand einzelner Merkmale als problematisch zu werten ist – ebenso wie die implizite Vorannahme, ›Narrativität‹ sei vornehmlich in Abhängigkeit von einem (natürlich)sprachlichen Zeichensystem zu untersuchen. Analog zur historisch zu verortenden Entwicklung der Zentralperspektive als der im westlichen Kulturraum als ›natürlich‹ angesehenen Perspektivierungsform visueller Darstellung erscheint auch die Vorstellung vom Primat ›sprachlichen Erzählens‹ an medien- und gattungsgeschichtliche Entwicklungen gebunden. Ein stärkerer Einbezug semiotischer Grundlagen wurde in dieser Hinsicht in der Diskussion als vielversprechend angesehen, um diachrone Phänomene von transgenerischen und -medialen Grundprinzipien von Narrativität zu unterscheiden.

Zudem zeigte die im Eröffnungsvortrag vorgeschlagene Modellierung des Phänomenbereichs narrativer Perspektivierung auf makro- und mikrostruktureller Ebene in der Diskussion der einzelnen Beiträge ihr Erklärungspotential, insofern mit ihr analytisch erfassbar wird, wie Perspektivierung ›in den Text‹ bzw. in das jeweilige narrative Medium kommt. Vor allem in den mediävistischen Beiträgen (Dimpel, Hufnagel) wurde zudem deutlich, dass potentielle ›Merkmale‹ von Narrativität nur vor der Folie des historisch-kulturellen (d.h. auch gattungsgeschichtlichen) Kontextes zu interpretieren und damit nicht als absolut zu setzen sind. In Bezug auf die Grundprinzipien von Narrativität erwies sich in den einzelnen Vorträgen immer wieder das Verhältnis zwischen Ereignis- und Repräsentationsebene sowie die darauf basierenden evaluativen bzw. metanarrativen Strukturen als zentral (Huber, Dennerlein, Hufnagel, Igl, Sonnenhauser, Zeman), was uns in der Ausgangsthese des Workshops bestärkt, dass die Erfassung der Evaluations-Ebene im Kernpunkt einer relationalen Definition von Narrativität zu sehen ist.

In Bezug auf einen interdisziplinären Abgleich wurde im Verlauf der Diskussionen mehrfach die Notwendigkeit der Engführung grundlegender Konzepte sowie eines terminologischen Abgleichs bekräftigt. Auch in dieser Hinsicht erwies sich die Unterscheidung zwischen mikro- und makrostrukturellem Fokus sowie der Blick auf das relationale Grundprinzip der Perspektivität als interdisziplinär tragfähige Konzeptbasis – und ›Perspektivierung‹ aus unserer Sicht somit als ein geeignetes Konzept, um sich dem grundlegenden Faktor für die ›Irritation‹ in der Forschungsdebatte anzunähern.

Dr. des. Natalia Igl

Universität Bayreuth

Neuere deutsche Literaturwissenschaft

Dr. Sonja Zeman

LMU München

Germanistische Linguistik

Anmerkungen

[1] H. Porter Abbott, The Cambridge Introduction to Narrative [2002], Cambridge ²2008, 25. [zurück]

[2] Für einen Überblick vgl. Marie-Laure Ryan (Hg.), Narrative Across Media. The Languages of Storytelling, Lincoln, NE 2004. [zurück]

[3] Vgl. grundlegend Shlomith Rimmon-Kenan, Concepts of Narrative, in: Matti Hyvärinen/Anu Korhonen/ Juri Mykkänen (Hg.), The Traveling Concepts of Narrative (2006), http://www.helsinki.fi/collegium/e-series/volumes/volume_1/index.htm (03.09.2012); Marie-Laure Ryan, Toward a Definition of Narrative, in: David Herman (Hg.), The Cambridge Companion of Narrative, Cambridge 2007, 22–35; sowie John Pier, From the Representation of Narrative Actions to Emplotment: Another Look at Narrativity, Poetics Today 32:3 (2011), 593–605. [zurück]

[4] Wolf Haas, Auferstehung der Toten. Roman [1996], Reinbeck b.H. 72003, 34. [zurück]

[5] Vgl. dazu die grundlegende Studie von Wendy Steiner, Pictures of Romance: Form Against Context in Painting and Literature, Chicago 1988. [zurück]

[6] Vgl. u.a. die Konzeptualisierungen bei Gérard Genette, Frontiers of Narrative, in: G.G., Figures of Literary Discourse, New York 1982, 127–144; sowie H. Porter Abbott, The Cambridge Introduction to Narrative [2002], Cambridge ²2008. [zurück]

[7] Vgl. John Pier, From the Representation of Narrative Actions to Emplotment: Another Look at Narrativity, Poetics Today 32:3 (2011), 593–605. [zurück]

[8] Für eine eindeutige Referenz der Pronomina verwenden wir in den Abschnitten zu den von uns nicht gemeinsam gehaltenen Vorträgen die 3. Person Singular. [zurück]

[9] Vgl. Wolf Schmid, Elemente der Narratologie [2005], Berlin/New York ²2008, 129; sowie Burkhard Niederhoff, Perspective/Point of View, in: Peter Hühn et al. (Hg.), Handbook of Narratology, Berlin/New York 2009, 384–397, hier 384. In der Diskussion wurde deutlich, dass Schmids Konzept vor allem auf textuelle Manifestationen von ›Perspektive‹ abzielt, die er als Vorbedingung des Erzählens ansetzt; Niederhoffs Definition ließ sich mit Blick auf den Eröffnungsvortrag einem Narrativitätskonzept zuordnen, das den Aspekt der Repräsentation zentral setzt. [zurück]

[10] Vgl. Helga Kotthoff, Irony, Quotation, and Other Forms of Staged Intertextuality: Double or Contrastive Perspectivation in Conversation, in: Carl F. Graumann/Werner Kallmeyer (Hg.), Perspective and Perspectivation in Discourse, Amsterdam/Philadelphia, PA 2002, 201–229. [zurück]

[11] Der ebenfalls auf makrostrukturelle Aspekte narrativer Perspektivierung ausgerichtete Vortrag »Moving On. Perspektiven autobiographischen Erzählens in den Filmen und Fotobüchern Robert Franks« von Matthias Christen (Bayreuth) musste kurzfristig entfallen. [zurück]

[12] Vgl. Roman Jakobson, Zwei Seiten und zwei Typen aphatischer Störungen, in: R.J./Morris Halle (Hg.), Grundlagen der Sprache [engl. 1956], Berlin 1960, 49–70. [zurück]

[13] Vgl. Marie-Laure Ryan, Narration in Various Media, in: Peter Hühn et al. (Hg.): The Living Handbook of Narratology, Hamburg [22. Jan.] 2012, http://hup.sub.uni-hamburg.de/lhn/index.php?title=Narration_in_Various_Media&oldid=1706 (03.09.2012), 35f. [zurück]

[14] Vgl. Wolf Schmid, Elemente der Narratologie [2005], Berlin/New York ²2008. [zurück]

[15] Vgl. exemplarisch die im Abschnitt zu Katrin Dennerleins Vortrag angesprochenen Begriffsdefinitionen von Wolf Schmid sowie Burkhard Niederhoff (siehe Anm. 9). [zurück]

[16] Vgl. Eike Muny, Erzählperspektive im Drama. Ein Beitrag zur transgenerischen Narratologie, München 2008; Holger Korthals, Zwischen Drama und Erzählung. Ein Beitrag zur Theorie geschehensdarstellender Literatur, Berlin 2003. [zurück]

2012-09-10

JLTonline ISSN 1862-8990

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