Elisabeth-Christine Gamer
Interpiktorialität – mehr als ein Dialog von Kunstwerken:
Interdisziplinäre Ansätze zu einer aktuellen Forschungsdiskussion
Interpiktorialität – der Dialog der Bilder, Ruhr-Universität Bochum, 04.–05.11.2011.
1. Ein interdisziplinärer Diskurs
»The topic of intertextuality in painting is almost as broad as the field of art history itself, for even the most formalistic pictorial analysis makes reference to painting-painting or painting-literature relations.« So konstatiert die Literaturwissenschaftlerin Wendy Steiner schon 1985 in ihrem Aufsatz »Intertextuality in Painting«. [1]
Als Phänomen sind Beziehungen zwischen Kunstwerken oder auch ›Kunst über Kunst‹ nichts Neues, ganz im Gegenteil, sie gehören untrennbar zur Geschichte der Kunst, wenngleich sie sich in mancherlei Hinsicht in den letzten Jahrzehnten einer ungleich größeren Beliebtheit zu erfreuen scheinen als dies zuvor der Fall war. Verschiedene kunsthistorische Konzepte nähern sich diesen Bezügen, um Einflüsse, Traditionsstränge und direkte Übernahmen offenzulegen und zu deuten, man denke hier etwa an Konzepte wie die Ikonographie oder die Praxis des ›Vergleichenden Sehens‹. [2] In den letzten drei Jahrzehnten wurde nun von literaturwissenschaftlicher und kunsthistorischer Seite immer wieder der Versuch unternommen, die theoretischen Einsichten und Instrumentarien der poststrukturalistischen bzw. der strukturalistischen Intertextualitätstheorie für diesen besonderen Aspekt der Kunstgeschichte fruchtbar zu machen – unter Oberbegriffen wie ›Interpiktorialität‹/›Interpikturalität‹, ›Interikonizität‹, ›Intervisualität‹, ›Interbildlichkeit‹ oder einfach ›Intertextualität von Kunstwerken‹. Je nach Schule variieren die Definitionen etwas; als Beispiel sei hier nur Valeska von Rosens Begriffsbestimmung genannt: Sie versteht unter ›Interpikturalität‹ oder ›Interpiktorialität‹ »Relationen zwischen Bildern sowie die Modi ihrer Transformation von einem in ein Anderes«. [3] Auch wenn sich diese Definition in einem Lexikon findet, ist die ›Intertextualität von Kunstwerken‹ im kunsthistorischen Methodenkanon keineswegs etabliert. Nachdem es recht lange gedauert hatte, bis eine wissenschaftliche Diskussion über das Thema überhaupt entstanden war, scheint sie in den letzten Jahren mit einer größeren Anzahl von Kolloquien, Tagungen und Workshops sowie entsprechenden Publikationen jetzt langsam Fahrt aufzunehmen.
Der Diskurs ist dabei ein interdisziplinärer. Dies betrifft sowohl den Gegenstand (einen Theorie- und Methodentransfer) als auch die Protagonisten. Literatur- und Kunstwissenschaft scheinen gleichermaßen an der Frage der Interpiktorialität interessiert zu sein, wenngleich sich die Literaturwissenschaft wohl vielfach noch in einer Art Vermittlerposition wähnt. Dass dies nur mehr eingeschränkt der Fall sein kann und sich die Kunstgeschichte der Thematik mittlerweile recht selbstbewusst nähert, zeigte auch die Tagung »Interpiktorialität – der Dialog der Bilder«, die am 04. und 05.11.2011 an der Ruhr-Universität Bochum stattfand. Organisiert wurde sie von dem Amerikanisten Guido Isekenmeier (Bochum/Heidelberg). Das disziplinenübergreifende Interesse an der Interpiktorialität ist vielleicht gerade eine besondere Chance für diesen Diskurs, bietet er doch die Möglichkeit, sich über Unterschiede und Gemeinsamkeiten in den jeweiligen Wissenschaftskulturen zu verständigen und Klarheit über die – fachspezifischen und fächerübergreifenden – Fragestellungen und Erkenntnisinteressen zu erlangen, die man damit verbindet.
Vor diesem Hintergrund formulierte Isekenmeier, nachdem er die Interpiktorialität als Theorie und Methode kurz vorgestellt hatte, einige Thesen und Fragen für die gemeinsame Arbeit, zentral darunter die folgenden:
-
(Wie und auf welcher formalen Basis) lässt sich die Interpiktorialität angesichts medialer Unterschiede überhaupt von der Intertextualität ableiten? Welche Konsequenzen hat dies für die Konzeptualisierung von ›Text‹ und ›Bild‹?
-
Wie lassen sich Bild-Bild-Bezüge systematisch oder im Vergleich zu Kategorien der ›Intertextualität‹ bzw. ›Intermedialität‹ fassen? [4]
2. Kritische Stimmen
Die beiden Einführungsvorträge der Kunsthistorikerinnen Hanne Loreck (Hamburg) und Susanne von Falkenhausen (Berlin) setzten sich mit dem Gegenstand der Tagung und seiner literaturwissenschaftlichen Perspektivierung differenziert und kritisch auseinander und schärften so den Blick für die nachfolgenden Diskussionen.
Loreck stellte zunächst in »›Die Einbildungen der anderen‹: Interpiktorialität – Interpretation – komparative Ikonographie« ihr durchaus ambivalentes Verhältnis zur Interpiktorialität als systematisierender Theorie von Bildbeziehungen dar. Vor dem Hintergrund poststrukturalistischer Theoriebildung (vornehmlich Julia Kristevas) befasste sie sich mit dem möglichen Nutzen einer Interpiktorialitätskonzeption, besonders aber auch mit den Problemen, die sich ihrer Ansicht nach bislang stellen. [5] Gerade bei der zeitgenössischen Kunst, die sich auf visuelles Material aus allen kulturellen und künstlerischen Zusammenhängen beziehe, könne eine Beschränkung der Bezüge auf Kunst-Kunst-Relationen nicht angehen – eine Meinung, die im weiteren Verlauf der Tagung noch einige Male geäußert wurde. Eine Interpiktorialitätsauffassung, die letztlich in eine klassische Motivgeschichte münde, sei zu eng gefasst; sie müsse vielmehr offen für eine Vielfalt möglicher Bedeutungen und Bezüge sein. In manchen Fällen sei es, so z.B. bei der Appropriation Art, auch nicht damit getan, lediglich Vor-Bilder zu ermitteln, da es um weit mehr gehe als das jeweils angeeignete Werk, nämlich um bestimmte kulturelle Implikationen oder die Institutionalisierung von Kunst – letztlich das System, dessen Teil das Vor-Bild ist. Loreck verdeutlichte ihre Überlegungen anhand von Peter Friedls The Zoo Story (2006) und Picassos Buste de femme (1943) und akzentuierte dabei, wie sich Interpiktorialität in diesem Fall durch den temporären politischen Zusammenhang der Arbeiten über den Ort Ramallah konstituieren lasse. Abschließend formulierte sie noch einmal zusammenfassend Kriterien, die eine sinnvolle Interpiktorialitätskonzeption ihres Erachtens erfüllen müsse. Sie sollte in der Lage sein, Verbindungen zu beschreiben, die auf anderen Ebenen als der formalen und der visuellen angesiedelt sind, nämlich auf der des Kontexts oder der symbolischen Konnotationen. Zumindest aber sollte sie, wenn es um eine Systematisierung von Bezügen gehe,
das Wuchern von Assoziationen, die grundsätzliche Unabgeschlossenheit und mediale Vielfältigkeit ihres Materials und dessen multipler Verbindungen anerkenn[en] und sich dabei nicht auf einen positiven, mithin in irgendeiner Form materialisierten visuellen Stoff beschränk[en], sondern die dazwischenfahrenden Züge von Einbildungen, Vorstellungen oder des Imaginären jenseits ikonographischer Vexierbilder und historischer Genealogien als ihre Produktivkraft einbegreif[en].
Von Falkenhausen widmete sich einem Thema, das für viele Kritiker aus der Kunstwissenschaft von zentralem Interesse ist: »Alte Fragen in neuem Gewand? Die alte Tante Kunstgeschichte und die Interpiktorialität«. Von der Frage nach dem Verhältnis von Bild und Text und einer semiotischen Fassung ihrer Ähnlichkeiten und Unterschiede distanzierte sie sich jedoch von vorneherein. Eine Deutung der einzeltextorientierten Intertextualitätskonzeption als »diskurshistorische[s] Modell« ermöglichte es ihr, den sprachlichen und den visuellen Ausdruck als diskursive Praktiken aufzufassen, womit sich die »Notwendigkeit [...], eine Analogie zwischen Text und Bild als Begründung konstruieren zu müssen«, erübrige. So lasse sich Intertextualität in Interpiktorialität überführen. Sie betonte die grundsätzliche Abhängigkeit von Gegenstand und Theorie bzw. Methode vom jeweiligen Erkenntnisinteresse, weshalb – gerade auch im Falle der Interpiktorialität – Theorie und Gegenstand nicht unabhängig voneinander betrachtet werden könnten. Der Einzelfall und seine historische Betrachtung sei stark verallgemeinernden Systematiken allemal vorzuziehen.
Dem Argument, dass eine Interpiktorialitätskonzeption Systematisierungen visueller Bezugnahmen ermögliche, die der Kunstwissenschaft bislang noch fehlten, setzte sie die »altmodischen Klassifizierungsmodelle der Kunstgeschichte« entgegen und stellte einen engen Zusammenhang zum ›Vergleichenden Sehen‹ her. Sie kam zu dem Schluss, »dass erst durch die Einstellung in einen interpiktorialen Zusammenhang heutige Fragen der Kunstgeschichte mit der nötigen Trennschärfe verfolgt werden können, und zwar ungeachtet dessen, um welche Epoche es sich handelt«. So wurde deutlich, dass es sich für sie eben nicht nur um eine »alte Frage in neuem Gewand« handelt. Ähnlich wie Loreck äußerte von Falkenhausen die Ansicht, dass Interpiktorialität auch in anderen Dimensionen als der reinen Visualität zum Ausdruck kommen könne. Interpiktorialität liege im vergleichenden Erkenntnisinteresse begründet und könne sowohl auf Motiven, formalen oder technischen Aspekten basieren als auch auf dem Kontext. Als Beispiel diente ihr der Vergleich eines Entwurfes für einen Calendrier des Femmes Libres für 1795 mit einem Almanach National (mit Kalender) für das Jahr 1791 von Philibert Louis Debucourt. Obwohl die Blätter selbst sehr unterschiedlich seien, konstituiere sich Interpiktorialität hier in Gattung und Thema.
3. Theorie, Fallstudien und Systematiken
In der ersten der vier Sektionen des zweiten Veranstaltungstages, »Intertextualität/Interpiktorialität«, sprach ich selbst mit theoretischem Fokus über »Intertextualität und Kunst(geschichte). Abgrenzungen und Neuordnungen jenseits der Metapher«. Ich skizzierte, inwiefern das metaphorische Sprechen vom Bild als Text als eines der Kernprobleme des Theorietransfers zu betrachten ist, und auch zu einer mitunter heuristisch fragwürdigen Abhängigkeit der kunsthistorischen Theoriebildung von der literaturwissenschaftlichen führt. [6] Dies ist insbesondere an den Stellen zu beobachten, an denen die einzeltextorientierte Intertextualitätstheorie für die Analyse von zitathaften Beziehungen zwischen Kunstwerken fruchtbar gemacht werden soll. [7] Daher plädierte ich für den Versuch, eine Interikonizitätskonzeption in Abgrenzung gegen einen weit gefassten Textbegriff zu entwickeln, der auch Bilder mit einbezieht, und sich mit den Konsequenzen einer solchen Perspektive konstruktiv auseinanderzusetzen. Abschließend skizzierte ich drei Bereiche, in denen sich die Interikonizität qualitativ von der Intertextualität unterscheidet und als eigenständiges Konzept in den Vordergrund treten kann: im Zitatbegriff, in der Intermedialität und in ›interikonischen Leerstellen‹, letzteres ein Konzept, das ich vor einiger Zeit entwickelt habe. Ich verstehe darunter bedeutungskonstitutive Relationen zwischen Kunstwerken, die im engeren Sinne keinen bildlichen Inhalt aufweisen. Als Beispiel hierfür wählte ich Daniel Burens museale Installation À partir de là... von 1975 und das Environment, in das Raum Nr. 8 dieser Installation 1982 umgearbeitet worden ist.
Die Referenten der nächsten Sektion – »Das kurze 18. Jahrhundert« – widmeten sich anhand von visuellem und kunsttheoretischem Material spezifischen Aspekten von Interpiktorialität am Ende des ›kurzen 18. Jahrhunderts‹. Martin Miersch (Gießen) präsentierte mit seinem Vortrag »Der Abschied Ludwigs XVI. von seiner Familie. Intermediale Metamorphosen eines Bildmotivs« einen »Musterfall politischer Interpikturalität«. Für seine Fallstudie griff er ein Historiengemälde heraus, das in den sechs Jahren nach seiner Entstehung 1793 zu einer »Ikone der Royalisten und der Gegenrevolution avancierte«. Er zeigte, wie sich die immense Popularität von Charles Benazechs Historiengemälde La dernière entrevue de Louis XVI avec sa famille la veille de son exécution in einer großen Zahl von Reproduktionen und Adaptionen niederschlug, und wie diese Bildfindung international nicht nur im künstlerischen oder (gebrauchs)graphischen Zusammenhang kursierte, sondern auch auf Gegenstände des alltäglichen Lebens übertragen wurde, z.B. auf Porzellan, Schnupftabaksdosen, Knöpfe oder Ähnliches. Er zeigte also u.a., welchen Prozessen der interpiktorialen Transformation zwischen high und low akademische Kunst schon im ausgehenden 18. Jahrhundert unterliegen konnte.
Harald Klinke (Göttingen) sprach über »Imitation als Interpiktorialität. Die Bildtheorie Joshua Reynolds«. Ausgangspunkt war für ihn dabei »Discourse III« aus Reynolds Seven Discourses on Art (1797). Klinke stellte dar, dass gerade im Klassizismus Bildbezüge von besonderer Bedeutung seien und entsprechend auch bei Reynolds das »Aufgreifen von Bildformeln« eine besondere Rolle spiele. Er setzte Reynolds Überlegungen zur imitatio mit Gemälden seiner Zeitgenossen in Zusammenhang und profilierte dessen Theorie so als Symptom einer spezifischen Auffassung von Interpiktorialität im späten 18. Jahrhundert. Nachahmung sei für Reynolds die »Adaption von Bilderfindungen«, wobei er die Werke der älteren Kunstgeschichte als Gemeingut auffasse, das man als Basis für eigene Arbeiten nutzen könne. Deutlich wurde dabei, dass Vorstellungen vom Bildzitat nicht auf jede Epoche gleichermaßen angewendet werden können, sondern vor dem spezifischen kulturhistorischen Hintergrund betrachtet werden müssen. Dies hat natürlich signifikante Auswirkungen auf die Validität von interpiktorialen Klassifizierungsversuchen. Auch Klinke unterstützte somit das Argument, dass Systematiken, will man historisch sinnvoll vorgehen, nicht mit universellem oder absolutem Anspruch entworfen werden können, sondern vom jeweiligen Objekt und seiner kontextuellen Verankerung ausgehen müssen.
Thema der folgenden Sektion war die »Interpiktorialität in der Gegenwartskunst«. Christian Spies (Basel) beleuchtete zunächst eine besondere interpiktoriale Strategie, »Das Zitieren des Zitats. Jasper Johns gesehen von Louise Lawler«. In ihren Arbeiten Monogram (1984) und Board of Directors (1989) bezieht sich die Künstlerin prominent auf Jasper Johns, der in White Flag (1955) ebenfalls das Motiv der amerikanischen Flagge aufgreift, also selbst schon einen interpiktorialen Bezug aufbaut. Für seine Annäherung an die Interpiktorialität wählte Spies damit also die »Potenzierung« des Zitats und zudem ein »prägnante[s] Beispiel dafür [...], wie sich einzelne Künstler dem kunsthistorischen Denken in Motivketten sogar explizit widersetzt haben«. Spies demonstrierte, dass gerade in der jüngeren Kunstgeschichte das kunsthistorische Streben nach Motivgeschichten, das mit der Frage nach der Interpiktorialität eng zusammenhänge, eine präzise Beschreibung von bestimmten künstlerischen Bestrebungen hintertreibe. Es sei daher notwendig, Aspekte wie Material, Medium und besonders auch Medienwechsel zu betrachten. Auch dies ein Beispiel dafür, dass es nicht ausreicht, auf einer formalen Ebene Bild und Vor-Bild zu ermitteln und es dabei bewenden zu lassen. Eine historische Situierung ist unabdingbar, damit aus den formalen Gegebenheiten die richtigen Schlüsse gezogen werden können.
Die Kunsthistorikerin Viola Hildebrand-Schat (Wuppertal) untersuchte in ihrem Vortrag »Nachahmung, Appropriation oder Imitation? Zur Funktion und Absicht interpiktorialer Bezüge in der zeitgenössischen russischen Kunst« die interpiktorialen Strategien zweier neoakademischer Künstlerinnen, Olga Tobreluts und Tania Antoshina. Gerade unter den St. Petersburger Neoakademisten sei es gängige Praxis, mit der digitalen Kombination alter und neuer Bilder und Kunstwerke zu arbeiten um damit eine künstlerische Selbstverortung vorzunehmen und bestimmte Aussagen zu unterstreichen. Während Tobreluts etwa in Reflections of the Empire (1993–94) eher allgemeine interpiktoriale Referenzen nutzt, bezieht sich Antoshina in Museum of a Woman (1997) bewusst auf berühmte Werke der (west)europäischen Kunstgeschichte. Sie vertauscht dabei die Geschlechterrollen und situiert die Szenen in einem russischen Umfeld. Das Gemälde wird in ein tableau vivant umgesetzt und dann fotografiert, womit das Ergebnis, so Hildebrand-Schadt, dokumentarischen Charakter annehme. Die Serie sei als feministischer Kommentar zur Kunstgeschichte und deren männlichem Blick auf den weiblichen Körper zu verstehen. Antoshina nutze die Kunstgeschichte dabei als Ausgangspunkt und als Argumentationsbasis für ihre Beobachtungen, die sie dann in Form von interpiktorialen Bezügen zum Ausdruck bringe.
Auch Nina Gerlach (Basel) unterstrich in ihrem Vortrag »Kunst als systemische Interikonizität & paradoxaler Modernismus des netzwerkbasierten Bewegtbildes« wie wichtig es sei, Interikonizität kunsthistorisch zu systematisieren und entsprechende Terminologien zu entwickeln. Das Konzept sei allerdings, verstanden als Relationen zwischen Kunstwerken, zu eng gefasst und müsse auch andere – z.B. massenmediale – Bildlichkeit einbeziehen. Ein weiteres Problem sei eine Festlegung der Interikonizität auf die Bildimmanenz des Verweisungszusammenhangs. Fragen der Materialität und der Gattung seien besonders zu berücksichtigen. Sie interessierte sich dafür, wie sich junge Kunstformen wie die Online-Videokunst über interikonische Affirmations- und Abgrenzungsprozesse konstituieren und dieses Selbstverständnis kommunizieren. Zu diesem Zweck zog sie Luhmanns Systemtheorie heran, [8] die sie punktuell erweiterte, und argumentierte für den Entwurf einer »systemische[n] interikonische[n] Kunsttheorie«. Auf systematischer Ebene stellte sie Arbeiten vor, die sich mit der Malerei auseinandersetzen (MediaDesign.mome, Pietö Anna. Renaissance [2010]), mit dem Spannungsverhältnis von Video und computergraphischer Bildlichkeit (Evelien Lohbeck, Notebook [2008]) oder mit dem Film bzw. Videoclip (Perry Bards aktuelles Projekt Man with a movie camera. A participatory global remake bzw. Nathalie Bookchins Mass Ornament von 2009).
Die Referentinnen und der Referent der letzten Sektion (»Interpiktorialität im Comic«) befassten sich mit einem Medium, der graphic novel, das durch seine Kombination von Bild und Text eine Sonderstellung in der Literatur(wissenschaft) genießt und erlaubt, das Konzept der Interpiktorialität als literarisches und zugleich nicht mehr ganz literarisches Phänomen zu untersuchen. Nicht nur in Form von Fallstudien, sondern auch auf theoretischer bzw. systematischer Ebene lassen sich hier interessante Beobachtungen anstellen, da die Interpiktorialität in Comics gerade durch deren narrative Struktur teilweise ganz spezifischen Dynamiken zu gehorchen scheint.
Zentrale These von Christian A. Bachmann (Bochum) war, dass Comics schon allein aus historischen und strukturellen Gründen besonders dazu geeignet seien, Interpiktorialität zu erforschen. Die Referenz auf existierendes Bildmaterial sei seit der Entstehung des Mediums um das Jahr 1900 üblich und verbreitet. Zudem schaffe etwa das Selbstzitat innerhalb eines Comics die Folie, vor der eine Bildnarration überhaupt erst möglich sei. In seinem Vortrag »Der Comic als Labor der Interpiktorialitätsforschung. Paul Karasiks und David Mazzuchellis Adaption von Paul Austers City of Glass« exemplifizierte er diese These und zeigte, wie die Autoren in ihrer »künstlerisch ambitionierten« Umsetzung des Romans interpiktoriale Verweise zu ganz unterschiedlichem Bildern herstellen, z.B. zu Einzelwerken der bildenden Kunst wie etwa von René Magritte und Albrecht Dürer oder auch bestimmten Stilrichtungen, Bildern der Popkultur, Filmen oder auch zu Comics anderer Autoren wie z.B. Dick Tracy von Chester Gould, den Peanuts von Charles M. Schulz und Henry von Carl Anderson.
Monika Schmitz-Emans (Bochum) untersuchte in ihrem Vortrag »Interpikturalität im Literaturcomic. Zur Funktion von Bild- und Stilzitaten in Comic-Adaptionen literarischer Texte (am Beispiel von Stéphane Heuets Graphic-Novel-Paraphrase zu Marcel Prousts ›À la recherche du temps perdu‹)« die Umsetzung einer literarischen Vorlage in eine graphic novel, legte ihren Schwerpunkt jedoch auf Zitate aus der Kunstgeschichte. Sie legte dar, dass die Beschreibung von oder die Anspielung auf Kunstwerke, seien es nun existierende oder fiktionale Gemälde oder Bauwerke, schon bei Proust eine große Rolle spielt. Davon gehe Heuet aus und orientiere sich (allerdings nicht ausschließlich) an diesen Werken, wobei er auch die von Proust erfundene Kunst visuell erfahrbar mache. An anderen Stellen verwende er, geradezu kommentierend, Kunstwerke eigener Wahl. Es bestehe also ein enger Zusammenhang von textuellem und visuellem Zitat. Das Medium erlaube ihm, so Schmitz-Emans, zugleich Bilder und Texte zu zitieren. Besonders interessant sei hier das »Zitat zweiten Grades«, nämlich das visuelle Zitat eines im Roman nur textuell vermittelten Kunstwerkes. Da sich Heuet an der literarischen Vorlage orientiere, zitiere er die Kunst nicht unmittelbar. Darüber hinaus dienten die Kunstzitate in Heuets Comics als »Scharnier zwischen der Comic-Geschichte und der Kunst-Geschichte«, etwas, das besonders bei Autoren von Bedeutung sei, die sich in einer Tradition mit Künstlern bzw. Graphikern wie z.B. William Hogarth oder Frans Masereel sähen, die auf beiden Gebieten arbeiteten. Neben dem künstlerischen Selbstverständnis dokumentierten graphic novels auch das Bestreben des Autors – die »(bild-)erzählerische Reflexion über Kunst als Raum des kulturellen Gedächtnisses«.
Abschließend skizzierte Linda-Rabea Heyden (Jena) eine Typologie von Bezügen von Bildern auf andere Bilder innerhalb und außerhalb des Comics (»Interpikturalität im Comic. Vorschlag einer Systematik«). Heyden eröffnete eine Perspektive auf die Interpiktorialität, die über zitathafte Einzel- oder Systemreferenzen (sie stützte sich hier auf Irina O. Rajewsky) hinausgeht und eine visuelle Verknüpfung bzw. Serienbildung von Comicpanels über formale Mittel (match cuts, graphic matches, Positionierung) als wesentliches Merkmal einer bildlichen Narration auffasst. Heyden stellte dar, inwiefern diese Verknüpfungen für das Medium spezifisch sind, ebenso wie die Bildung von Serien im zitathaften Rückgriff verschiedener Comics auf bestimmte Einzelbilder, die so zu ›emblematischen Bildern‹ werden. Letzteres Phänomen ließe sich durch das Konzept der Motivikonographie nicht fassen. Sie ging in ihren Ausführungen sowohl auf die narrative Funktion von Interpiktorialität als auch auf formale bzw. stilistische Aspekte ein und illustrierte diese anhand von Comics wie z.B. Alan Moores und Dave Gibbons’ Watchmen.
4. Fazit
Hauptsächlich Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker sind der Einladung Isekenmeiers gefolgt, in Bochum ihre Forschungen zu präsentieren. Nur die letzte Sektion bestritten LiteraturwissenschaftlerInnen, deren Arbeiten allerdings einem spezifischen Bereich der Komparatistik, der Bild-Text-Forschung, zuzuordnen sind und schon aus diesem Grund den Fragestellungen der Kunstwissenschaft etwas näher stehen als denen der rein textzentrierten Literaturwissenschaft. Der große Anklang des Themas ›Interpiktorialität‹ dokumentiert das wachsende Bedürfnis der Kunstgeschichte, sich mit der Theorie und den methodischen Ansätzen der Intertextualitätstheorie auseinanderzusetzen und die Überlegungen zur Interpiktorialität nicht (mehr) der Literaturwissenschaft zu überlassen.
Der Umstand, dass aus der Tagung beinahe eine kunsthistorische Tagung mit literaturwissenschaftlichem Gastgeber und Gästen wurde, muss allerdings kein Problem darstellen. Ganz im Gegenteil. Nicht nur die Kunstwissenschaft profitiert hier von der Literaturwissenschaft, sondern gerade auch die Literaturwissenschaft vom Einfluss kunsthistorischen Denkens, insbesondere von den Methoden visuellen Vergleichs. Bekanntlich wird die Intertextualitätsdiskussion in der Literaturwissenschaft seit 45 Jahren geführt. Laut Jost Schneider hat sie ihre Durchsetzungs- bzw. Akutphase hinter sich und ist in eine Phase der Perseveranz eingetreten. [9] Mit einem Wort: Als Theorie und Methode ist sie etabliert und wird auch als analytisches Instrument verwendet; auf theoretischer Ebene ist in den letzten Jahren aber nicht allzu viel Neues hinzugekommen. Gerade durch die Öffnung auf interdisziplinäre Fragestellungen hin kann hier eine Belebung der Diskussion und eine Fokussierung auf innovative Fragestellungen stattfinden (vgl. die Sektion zur Comicforschung).
Die vielleicht wichtigsten Einsichten zur Interpiktorialität, die die Tagung zutage gefördert hat, waren die folgenden:
-
Uneinigkeit – und dieser Dissens wird sich wohl auch nicht auflösen lassen – herrscht darüber, ob die Verwendung des Begriffs und des Konzepts ›Interpiktorialität‹ zunächst einmal theoretisch bzw. semiotisch legitimiert werden muss oder ob man nicht ebenso gut mit der Metapher wertvolle Einsichten über visuelle Relationen gewinnen kann. Dies steht wohl im Zusammenhang mit den z. T. konkurrierenden Wünschen, sich mit einer spezifischen Fragestellung am historischen Objekt zu orientieren oder sich vorab einer theoretischen Diskussion der Voraussetzungen von Interpiktorialität zu widmen.
-
Die Reduktion der Interpiktorialität (oder Interikonizität etc.) auf Beziehungen zwischen Kunstwerken wird allgemein als problematisch erachtet, auch wenn diese Einschränkung vielfach nur eine vereinfachende Arbeitshypothese darstellt. Tatsächlich nimmt sich die Kunstwissenschaft so die Möglichkeit, visuelle Prozesse besonders der Gegenwartskunst sinnvoll zu beschreiben, die nicht an Gattungsgrenzen und Grenzen zwischen high und low gebunden sind. Gerade die Öffnung auf andere Ausdrucksformen als die Kunst der klassischen Kunstgeschichte, auf interpiktoriale Prozesse aller Art und damit auch auf deren Materialität wird als Chance der Interpiktorialitätsforschung gesehen, die sich dann im Resultat nicht mehr im Rahmen der bekannten kunsthistorischen Fragestellungen und Methoden bewegen muss.
Die Tagung bot dem interdisziplinären Publikum ein Forum für die Präsentation aktueller Forschungsarbeiten und ermöglichte eine ertragreiche Diskussion des Themas. Die gut durchdachte Gruppierung der Vorträge durch den Organisator war hier von großem Nutzen. Es wäre wünschenswert, diesen Austausch über Interpiktorialität in absehbarer Zeit in größerem Rahmen fortzusetzen.
Eine Publikation der Tagungsbeiträge ist geplant.
Universität Bern
Kunsthistorisches Institut
Anmerkungen
[1] Wendy Steiner, Intertextuality in Painting, American Journal of Semiotics 3:4 (1985), 57–67, hier 57. [zurück]
[2] Vgl. Lena Bader/Martin Gaier/Falk Wolf (Hg.), Vergleichendes Sehen, Paderborn 2010. [zurück]
[3] Valeska von Rosen, Interpikturalität, in: Ulrich Pfisterer (Hg.), Metzler Lexikon Kunstwissenschaft. Ideen, Methoden, Begriffe [2003], Stuttgart/Weimar ²2011, 208b–211a, hier 208b. [zurück]
[4] Z.B. Gérard Genette, Palimpsestes. La littérature au second degree, Paris 1982; Tiphaine Samoyault, L’intertextualité. Mémoire de la literature, Paris 2005; Irina O. Rajewsky, Intermedialität, Tübingen/Basel 2002. [zurück]
[5] Vgl. Margaret Waller, Intertextuality and Literary Interpretation, in: Ross Mitchell Gubermann (Hg.), Julia Kristeva. Interviews, New York/Chichester 1996, 188–203. [zurück]
[6] Zu dieser Abhängigkeit vgl. etwa Julia Gelshorn, Interikonizität, Kritische Berichte 35:3 (2007), 53b–58a, hier 55a. [zurück]
[7] So z.B. die Terminologie aus Ulrich Broich/Manfred Pfister (Hg.), Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, Tübingen 1985. [zurück]
[8] Vgl. Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft [1995], Frankfurt a.M. 52005. [zurück]
[9] Vgl. Jost Schneider, Einleitung, in: J.S. (Hg.), Methodengeschichte der Germanistik, Berlin/New York 2009, 1–31, hier 5–9. [zurück]
2012-06-19
JLTonline ISSN 1862-8990
Copyright © by the author. All rights reserved.
This work may be copied for non-profit educational use if proper credit is given to the author and JLTonline.