Birte Fritsch

Quid est enim tempus?

Zeit(en) erzählen. Narrative Verfahren – komplexe Konfigurationen. 2. Wuppertaler Graduiertenforum Narratologie. Universität Wuppertal, 07.–09.07.2011.

Die vom Zentrum für Graduiertenstudien (ZGS) der Bergischen Universität Wuppertal in Kooperation mit dem dortigen Zentrum für Erzählforschung (ZEF) veranstaltete Tagung verfolgte das Ziel, Produktions- und Präsentationsweisen von Zeit(en) in literarischen Texten zu analysieren. Die Möglichkeiten literarischer Zeitdarstellung sollten ebenso eine Rolle spielen wie Fragen nach verschiedenen Modellen zur Zeit-Konfiguration, nach der Verquickung von Zeit und Raum, nach ästhetischen Präsenzeffekten und nicht zuletzt nach historischen Differenzen in der Konzeption der erzählten Zeit.

In dem einleitenden Vortrag »Zeit(en) erzählen: Positionen, Probleme und Perspektiven« präsentierten die Organisatoren der Tagung, Antonius Weixler und Lukas Werner (Wuppertal), einen systematisch-historischen Überblick über den Stand der (narratologischen) Forschung zur Kategorie ›Zeit‹ und benannten einige Forschungsdesiderate. Weixler und Werner begriffen ›Zeit‹ als historisches und kulturspezifisches Konstrukt. ›Zeit‹ sei als Hyperonym für eine Reihe unterschiedlicher konzeptueller Zeitbetrachtungen aufzufassen: aus der Zeit werden Zeiten; Konzepte, die stets in Relation zu ihrem jeweiligen diskursiven Kontext zu verstehen sind. Zeit als Bedingung der Narrativität sei trotz der Fülle erzähltheoretischer Positionen mithilfe der etablierten Terminologie und den umfangreichen Beschreibungsmodellen für die Erfassung der Differenz zwischen fabula/histoire und sjužet/discours nicht beschreibbar. Abschließend skizzierten Weixler und Werner als Desiderat die Ausgestaltung einer Theorie diegetischer Zeit, die diese in ihrer Verschränkung mit Bestandteilen der erzählten Welt und der erzählerischen Vermittlung beschreibbar macht und dabei die Möglichkeit zur Historisierung impliziert.

Einen solchen historischen Ansatz stellte Uta Störmer-Caysa (Mainz) in ihrem Eröffnungsvortrag »Kausalität und Episode. Über die Aufgaben linearer Zeit in der erzählten Welt« vor. In der Linearität der Zeit liege scheinbar der Schlüssel eines sukzessive gestalteten Plots. Mangels einer logischen Anordnung im Text müsse diese Kausalität indes erst durch den Rezipienten konstruiert werden. Seit dem griechischen Epos lasse sich beobachten, dass kausale Zusammenhänge zwischen den Episoden einer Erzählung auf Implikation, Sukzession und Kontingenz beruhen, d.h. auf (Ab-)Folge und Variabilität in Bezug auf eine übergeordnete Notwendigkeit. Ein Blick auf die Texte des beginnenden 13. Jahrhunderts verdeutliche, dass hier konkurrierende Episoden einander ausschließen oder zumindest scheinbar negieren und zunächst kein Kausalnexus erkennbar werde. Die Rehabilitation des Ritters im Artusroman als konstituierendes Element der Doppelwegstruktur beispielsweise schließe jedoch heterogene Zeitkonzepte nicht aus: Persönliche Zeit und Âventiure-Zeit können nebeneinander existieren, es bedürfe in der Erzählung allerdings einer allumfassenden Weltzeit, ohne die deren Kausalität aufgehoben wäre, einer kausalen Klammerung. Abschließend betrachtete Störmer-Caysa Rezeptionsformen und den Zusammenhang von Sukzessivität und Romantypen wie dem Antikenroman, dem mittelalterlichen Liebes- und Abenteuerroman, dem Artusroman, dem Schelmen- und dem Ritterroman. Das Zeitkonzept verändere sich insofern, als die Kausalität von Ursache und Wirkung im Bildungsroman aufgehoben werde: Hier entfalte sich das Subjekt aus sich selbst heraus und Episodenstruktur und innere Kausalität änderten sich. Eine etwaige Vertauschbarkeit von Episoden, wie Störmer-Caysa sie für mittelalterliche Literatur konstatierte, werde unmöglich. Erzeugung und Konzeption von Serialität sei im neuzeitlichen Roman generell anders angelegt als im Artusroman.

Methodische Zugriffe

Lena Schüch (Hamburg) stellte in ihrem Vortrag »›Tagging in a huge meadow of time‹ – Computergestützte Analyse der Zeit in literarischen Texten mit Hilfe des Programms CATMA« die Möglichkeiten und Ziele einer computergestützten Analyse von Erzähltexten mit dem an der Universität Hamburg entwickelten Programm CATMA (Computer Aided Textual Markup and Analysis, http://www.catma.de) vor. Das Programm ermöglicht es dem Nutzer, individuelle Tags (Auszeichnungskategorien) zu definieren, mit denen Texte annotiert und über Abfragen (Queries) anhand quantitativer Daten analysiert werden können. Schüch analysierte mithilfe eines Zeit-Tagsets, das sich an Genettes Kategorien ›Dauer‹, ›Frequenz‹ und ›Ordnung‹ orientiert, die Short Story »A Rose for Emily« von William Faulkner. Bei näherer Untersuchung der getaggten expliziten und impliziten Zeitdaten zeigte sich die Möglichkeit einer Rekonstruktion der zeitlichen Abläufe auf der Ebene der histoire. Ein quantitatives und qualitatives Profil eines Textes zu erstellen und computergestützt auszuwerten, wie Schüch es vorgestellt hat, könnte in Zukunft ein close reading maßgeblich ergänzen, etablierten sich in der angestrebten Zusammenarbeit vieler Narratologen einheitliche Tagsets und Verfahrensweisen.

Im zweiten methodischen Beitrag stellte Christiane Scheeren (Bayreuth) verschiedene Verfahren der Zeiterzeugung heraus. Ihr Vortrag »›Erzählzeit‹ und ›Erzählte Zeit‹. Zu narrativen Verfahren der Zeiterzeugung in literarischen Texten« widmete sich dieser bekannten Unterscheidung. Scheeren betonte, dass durch das Erzählen von Zeitlichkeit Spannung und eine Illusion von tatsächlich vergangener Zeit und damit von Wirklichkeit erzeugt werden könne. Im Fokus ihres Vortrages stand die systematische Untersuchung von narrativen Kategorien literarisch-fiktionalen Erzählens und die Rolle des Rezipienten im Prozess der narrativen Zeiterzeugung. Scheeren unterschied abschließend in einem eigenen Raster narrativer Kategorien zwischen ›abbildendem Erzählen‹ und ›konstituierendem Erzählen‹ sowie zwischen ›analytischem‹ und ›synthetischem Erzählen‹, ›abstraktem‹ und ›wertendem Erzählen‹. Es fehlte jedoch an Beispielen, sodass abzuwarten und auszuführen bleibt, wie sich ein solches Inventar in der Analyse bewährt.

Historische Perspektiven

Jana Maroszová (Prag/München) legte im Rahmen ihres Vortrages »Überlegungen zur Untersuchung der ›erzählten Zeit‹ in Grimmelshausens simplicianischen Schriften« den Schwerpunkt auf die Darstellung der Schlacht bei Nördlingen (1634). Sie ging der Frage nach, wie die Zeit in Grimmelshausens Roman-Zyklus mithilfe der verwendeten Bildlichkeit und Motivik dargestellt werde und wie sie sich zum Kontext des apokalyptischen und utopischen Schrifttums verhalte. Ihr Ziel war es zu zeigen, inwiefern die damalige Zeitwahrnehmung und insbesondere das theologisch fundierte Konzept der Heilsgeschichte in der Erzählintention funktionalisiert werden und wie sich dieses Prinzip auch in der Sinnkonstitution der Werke widerspiegle. Die vorgestellten Textausschnitte enthielten zahlreiche explizite Zeitangaben. Zeit werde dabei sowohl in der Rede des Erzählers als auch der Figuren thematisiert. Maroszová begriff Zeit als Kategorie, die durch Motivkomplexe wie Hermetik und durch biblisch motivierte Bildlichkeit ergänzt werde. Diese verknüpften das heilsgeschichtliche und das eschatologische Moment der ›letzten Zeit‹ mit den beschriebenen Ereignissen. Überdies beleuchtete Maroszová die Prophetie mit ihren spezifischen Ausprägungen und Zusammenhängen als ›frühneuzeitliche Apokalyptik‹. Allegorisierungen der Schlacht hob Maroszová in besonderer Rücksichtnahme auf die zeitliche Komponente hervor und präsentierte sie gerade bezüglich ihrer apokalyptischen wie eschatologischen Deutungsdimensionen. Zudem verdeutlichte Maroszová die Zeitwahrnehmung im Spannungsfeld von erzähltem Ich, erzählendem Ich und Autor anhand der verglichenen Textstellen.

Lukas Werner (Wuppertal) sprach in seinem Vortrag »Von ›kurtzen tagen‹ und ›langen jaren‹. Diegetische Zeiten in Jörg Wickrams Romanen ›Ritter Galmy‹ (1539) und ›Der Jungen Knaben Spiegel‹ (1551)« zunächst über die Unterschiede in der strukturellen Gestaltung der Romane, woraufhin er in Bezug auf den Ereigniszusammenhang chronologisch mit temporal verfassten Erzählungen verglich und eine Typologie erstellte. Das Zeitkonzept im Roman der Frühen Neuzeit sei in dieser Formationsphase der Gattung geprägt von Veränderungen. Werners Konzept für diegetische Zeit orientierte sich an den ›Spuren‹ im Sinne Hörischs und implizierte zudem die figurale Subjektivität. Ihre narrative Herstellung, ihre (subjektiv erlebte) Qualität und ihr Raumbezug seien Kriterien von Zeit. Diese Konzepte diegetischer Zeit ließen sich hinsichtlich der Schlagwörter ›kurtze tage‹ und ›lange jahre‹ wie folgt erklären: Die ›kurze‹ Zeit beziehe sich auf Zeit in ihrer Ereignishaftigkeit, die an ein einzelnes Ereignis gebunden sei. ›Kurze‹ Zeit beziehe sich ebenso auf episodisch gestaltete Texte, wobei Episoden in sich abgeschlossene Zeitfenster darstellten, ohne eine makrostrukturelle Linearität erkennen zu lassen. So fänden sich bei Wickram Mikroebenen als eine gewissermaßen ›schnelle‹ Zusammenführung. Der Einschluss von Zeit in der Episode sei als ›partikularer Parameter‹ zu begreifen, einem konstituierenden Element des Ritter Galmy. Das Konzept der ›langen‹ Zeit impliziere hingegen keinen konkreten Ereigniszusammenhang. Ein abstraktes Netz sei kohärenzbildend. Hier handele es sich um biographische Zeit und die Rationalisierung von Zeit. In Der Jungen Knaben Spiegel etwa finde sich eine uniregionale oder polyregionale Welt, deren unterschiedliche Wirklichkeitskonzepte differente Zeitlichkeiten akkumulierten.

Spannungen: Raum, Figur, Wahrnehmung

Kai Spanke (Berlin) skizzierte in seinem Vortrag »Romantische Leichen im Keller des Realismus. Zum Verhältnis von Zeit und Raum in Adalbert Stifters ›Ein Gang durch die Katakomben‹« wie in dieser Erzählung die Wiener Oberwelt als Raum einer erfahrungsgemäßen Wirklichkeit in Kontrast zu den Katakomben stehe, die als ›Heterotopie‹ im Sinne Michel Foucaults aufzufassen seien. Der mit dem Raumwechsel der Figur einhergehende Bruch mit der Zeit manifestiere sich auf kategorial unterschiedlich gelagerten Ebenen: Auf einer geistesgeschichtlichen Ebene in der Opposition von Realismus und Romantik, auf einer narrativen Ebene durch verschiedene Zeit-Konkretionen, auf der Ebene des Subjekts im Rahmen der Veränderung, anhand derer sich der Erzähler der (räumlich manifestierten) ablaufenden Zeit bewusst werde. Der diegetische Gang durch die Katakomben sei temporal, wie erzähltechnisch linear und kontrastiere mit einer zirkulären Lektüre, die dadurch angeleitet werde, dass der Text mit Reflexionen beginne, die nach dem Besuch der Katakomben stattfinden. So verlaufe die Erzählung achronologisch, der wesentliche Gang der Figur jedoch linear, wohingegen die Lektüre zirkulär verlaufe. Lineare Zeitlichkeit werde, so Spanke, nur in der perpetuierenden Lektüre verwirklicht.

Carmen Lacan (Wuppertal) untersuchte in ihrem Vortrag »Zum Verhältnis von Zeit und Figur. Die Konfiguration der Figur durch die Zeit« das Verhältnis von Zeit und Figur im Hinblick auf Ricœurs Theorie der narrativen Identität und seine Betrachtungen bezüglich Zeit und Erzählung. Die in der Narratologie dominierende Verortung der Kategorie Zeit auf der Ebene des discours und der Figur auf der Ebene der histoire lockerte Lacan mit Blick auf die enge Bindung der Handlung an die Figur der erzählten Welt auf. Identitätskonstruktion im Sinne von Ricœurs narrativer Identität weise schon etymologisch eine Ambivalenz im Widerspruch von idem und ipse auf, dem Selbigen und dem Selbstlichen, wobei ersteres Permanenz (idem) und letzteres Dynamik (ipse) impliziere. Ihre Ausführungen exemplifizierte Lacan anhand von Max Frischs Roman Stiller, in dem White und Stiller als verschiedene Hypostasen derselben Entität zu interpretieren seien. Stillers Selbstverweigerung sei als die Polarität der narrativen Identität, als idem und ipse, zu verstehen. Lacan thematisierte folglich die Figur als eine Auseinandersetzung der narrativen Fiktion mit Identität. Die Dynamik der textuellen Konfiguration der Figur berge demnach heuristisches Potential für die Textanalyse. Das narrative Verständnis des Identitätsphänomens, d.h. dass die temporale, lineare Dimension identitätsstiftend wirken kann oder nicht, stehe dabei im Vordergrund.

Andrea Erwig (München/Wien) skizzierte in ihrem Vortrag »Die ›Versuchung stehenzubleiben‹. Figuren des Wartens in Musils ›Vollendung der Liebe‹« eine Poetik des Wartens in der Literatur des ausgehenden 19. Jahrhunderts, in der, neben der modernen Progression, das Warten an die Stelle des zielgerichteten Erwartens trete. In »Die Vollendung der Liebe« werde das Warten auf der Ebene der Handlung und zugleich als strukturbildendes erzählerisches Prinzip etabliert. In Musils Novelle äußere sich dieses Warten auf der Ebene des Erzählten in unterschiedlichen Bildern der Stillstellung von Zeit, ihrer Verräumlichung, der Überblendung von Vergangenheit und Gegenwart sowie einer Diskrepanz zwischen messbarer und erlebter Zeit. Zudem stellte Erwig heraus, wie sich dieses Motiv mit einer komplexen Erzählweise verbinde. So fänden sich viele Vergleichskonstruktionen, ein dichtes Motivnetz und darüber hinaus manifestiere sich das Warten auch durch Pausen, Leerstellen und Auslassungspunkte. Neben diesen ästhetischen Funktionen und narrativen Verfahren des Wartens betonte Erwig vor allem die Beziehungen zu zeitgenössischen psychoanalytischen Theorien, in denen Wartezeiten auf der Ebene des Subjektes in Denkfiguren hysterischer Zustände und auf der Ebene therapeutischer Maßnahmen (talking cure) als Methode eines ›erwarteten‹ Erzählens thematisiert würden.

Stefanie Roggenbuck (Wuppertal) stellte in ihrem Vortrag »Doppelte Zeiten in Erzähltexten von Leo Perutz und Ambrose Bierce. Eine Betrachtung aus narratologischer Sicht« zunächst plot-basiert Perutz’ Zwischen neun und neun und Bierces An Occurence at Owl Creek Bridge vor, um eine narratologische Untersuchung der mehrstimmigen Erzählinstanz anzuschließen. Perutz‘ Roman inszeniere eine multiple Gegenwart; die Zeit der erzählten Welt oszilliere gleichsam mit der logischen Möglichkeit und Unmöglichkeit des Erzählten: Der Protagonist erlebe zwölf Stunden, in denen er nicht lebe. An Occurence at Owl Creek Bridge bediene sich einer ähnlichen Konzeption und Motivik. Erzählte Zeit und Erzählzeit klafften in beiden Texten weit auseinander. Während bei Perutz die zwölf Stunden erzählter Zeit zwischen 9 Uhr morgens und 9 Uhr abends in Frage gestellt werden, werde bei Bierce in der Beschreibung der vermeintlichen Rettung die Sturz-Zeit des Erhängten extrem gedehnt. Die Aufhebung der Analogie des Verhältnisses der Dauer von Ereignissen und der Wahrnehmung durch die Figuren münde in einer Verdopplung der Zeitstruktur bei Perutz und Bierce. Die Ambivalenz der Erzählinstanzen und das mit der internen Fokalisierung einhergehende unzuverlässige Erzählen ermöglichten entsprechend ein ›unzuverlässiges‹ Deuten, beispielsweise als Traumvision. Roggenbuck schloss ihren Vortrag rekurrierend auf die Terminologie Booths und den implied author mit einer plausiblen Hypothese bezüglich der Verdopplung von Erzählzeit und erzählter Zeit als Folge einer mehrstimmigen Erzählinstanz. Eine solche polyphone narrative Instanz lasse die Fragen nach der Entstehung erzählter Zeit, dem Ungleichgewicht von Erzählzeit und erzählter Zeit, und der Frage, wie überhaupt erzählt werden könne, was nicht ist bzw. sein kann, in einem anderen Licht erscheinen.

Verfahren und Effekte: Präsenz und Simultanität

Christoph Bartsch (Wuppertal) analysierte in seinem Vortrag »Augenblicke der Ewigkeit. Überlegungen zur Auflösung erzählter Zeiten« Daniel Kehlmanns Mahlers Zeit – ein phantastischer Roman unter psychologischen Aspekten der (Zeit-)Wahrnehmung und stellte im Zuge dessen kognitive und psychologische Theorien zur Entstehung von Déjà-vu-Situationen am Beispiel des Motivs der Libelle vor. Im Motiv der Fausse reconnaissance könne das Déjà-vu-Phänomen des Protagonisten auch auf den Leser übertragen werden, der in der Zeit der Rezeption möglicherweise ähnliche kognitive Prozesse durchlaufe. Über derlei Phänomene und das Zustandekommen eines gewissermaßen immersiven Zeitwahrnehmens sprach Bartsch mit Berkeleys dictum ›esse est percipi‹, das die Autonomie des Augenblickes und der Identität von gleichartigen Augenblicken in verschiedenen Individuen betont. Die Wiederholung von Gleichartigem finde sich im untersuchten Roman an zahlreichen Stellen: Der Protagonist Mahler sei in seiner Wahrnehmung getäuscht und erlebe (zusammen mit dem Rezipienten) die Wiederkehr bestimmter Symptome der (geschilderten) Wirklichkeit. Nach seinem Tod tauchten diese Motivkomplexe erneut auf und auch Mahlers Freund Marcel erlebe im Folgenden dessen (Schein-)Realität. Mit dem permanent evozierten Déjà-vu dränge sich die Frage nach den Grenzen von Realität und Paranoia auf. In Kehlmanns Text finde sich demnach, so Bartsch, eine Art der Zeitbeschreibung und des vermeintlichen Wiederaufgreifens von Geschehenem und Angedeutetem, die mit bestehenden narratologischen Ansätzen nicht adäquat beschrieben werden könne.

Julian Hanebeck (Wuppertal) stellte in seinen Ausführungen unter dem Titel »Der unzeitliche Raum der Erzählung als Text: Eine Simultanität von Zeiten in ›Tristram Shandy‹« die Metalepse als besondere Inszenierungsstrategie eines Erzählens von Simultaneität vor. Tristram Shandy manifestiere sich in der dargestellten Verschränkung unterschiedlicher Zeitebenen wie in der Kopräsenz von Erzähler und erzählter Welt und sei daher mit ontologischen Zeitkonzepten nicht greifen. Die diegetische Zeit entspreche, so Hanebeck, einer Pseudo-Zeit, einer »timeless time of imagination« (mit den Worten Tristrams), die eine temporale Multiplizität darstelle, eine Art sowohl der Simultaneität als auch der achronen Aufhebung der schlichten Sukzession. Anhand dieser Dischronie konnte Hanebeck die narrativen Verfahren des Erzählers aufzeigen. Im Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit, im Gegenüber des erlebenden Ichs und des erinnerten Ichs offenbare sich demnach eine »Inferenz der Existenz«: Mit der Auflösung und Erweiterung der Grenzen einer physisch gedachten Existenz und mit ihr der wahrnehmenden und sprechenden Erzählinstanz werde die bloße chronologische Zeit ihrer Macht entbunden.

Christoph Gardian (Zürich) referierte in seinem Vortrag »›Ich fuhr als Schreibtisch einen Strom hinauf und vermengte in der Geschwindigkeit ein wenig die Zeit.‹ – Präsenz und Achronie in Robert Müllers ›Tropen‹« über das Zustandekommen von Präsenz durch das ekstatische, affektive perzeptorische Wahrnehmen in Konfrontation mit dem Primitiven. Präsenz und Primitivismus entfalteten sich in der Gegenüberstellung eines impressionistischen passiv-rezeptiven Sehens und eines expressiven inneren Sehens. Ein solch sinnliches »wildes Denken« (Lévi-Strauss) beeinflusse hier die Wahrnehmung. Präsenz fasste Gardian mit Martin Seel als phänomenale Fülle, als Riss im Symbolischen auf. Gardian konnte die Präsenzstrategien in Müllers Tropen als mehrfache Aufhebung der Konstruktion der raumzeitlichen Welt in Paradoxien, infiniten Strukturen und der Verschränkung der diegetischen Ebenen darstellen. Präsenzverfahren ließen sich als eine visionäre Poetik Müllers verstehen, in der Präsenz nicht nur thematisiert, sondern erzeugt werde. Diese literarischen Präsenzeffekte beschrieb Gardian als Kippphänomene zwischen der Bedeutungsebene des Textes und der Zurschaustellung ihres medialen Substrates. Mit Iser seien diese als ein »Ineinander von Präsenz und Absenz« zu begreifen. So werde die Gegenwärtigkeit als Dialektik von Präsenz und Absenz im Text mittels literarischer Techniken der Intensivierung realisiert. Dabei reflektiere der Tropen-Roman die Aporien solcher Überschreitungsversuche und verweise auf die Absenzstruktur des Präsenzbegehrens, sodass sich konstatieren lasse, dass Präsenz und Sinn stets zusammen – jedoch in einem Spannungsverhältnis – auftreten und Präsenzphänomene nicht umhin kämen, unweigerlich ephemer zu sein.

Auch Berit Callsen (Berlin) bezog sich auf Seels Präsenzbegriff, indem sie in Ihrem Vortrag »›…ce mouvement fugitif, à peine perceptible…‹. Zeit-Lupen-Einstellungen und ephemere Präsenz im Werk von Nathalie Sarraute« ein autorenspezifisches ›Tropismen‹-Konzept vorstellte. Ausgehend von einer aisthetischen Poetik, die nicht bloß ein ›Sehen in der Zeit‹, sondern vor allem ›ein Sehen der Zeit‹ impliziere, gelinge es Sarraute, in ihrem ephemeren Charakter kaum wahrnehmbare Bewegungen zu erfassen. In ihren Ausführungen verdeutlichte Callsen, dass Sarrautes ›Tropismen‹ einen Zeitbegriff provozierten, der sich zwischen drei Koordinaten organisiere: Simultaneität (die Gleichzeitigkeit von conversation und sous-conversation), Momentanität (das instantane Erscheinen dessen, was ›hinter der Rede liegt‹) und epheme Präsenz (die Flüchtigkeit dessen, was zur Sprache kommt). ›Zeit-Lupen-Einstellungen‹, die Sarraute im Sinne einer sinnlichen Erfahrbarkeit der ›Tropismen‹ nutze, brächten somit die Flüchtigkeit selbst zur Erscheinung und verdeutlichten das Spiel von ephemerer und räumlicher Präsenz. Der Poetik Sarrautes näherte sich Callsen aus philosophischer Perspektive mit Seel und Gumbrecht an, um zu verdeutlichen, dass sowohl das Momenthafte als auch das Gegenwärtige als wesentlich für ein Formwerden in der Zeit oder gar der Zeit zu erachten seien. Callsen beschrieb dies als ein Sehen der ›Tropismen‹ in der Zeit und als ein Sehen der Zeit der ›Tropismen‹.

Fazit

Als Quintessenz der dreitägigen Veranstaltung bleiben viele interessante Entwürfe von Zeit- Konfigurationen und den verschiedenen Möglichkeiten, Zeit(en) zu erzählen: Seitens der Computerphilologie erwies es sich in Bezug auf die Zeitstruktur von Texten als probate Ergänzung der herkömmlichen Analysemethoden, Texte oder ganze Korpora zu taggen und quantitativ zu analysieren. Fänden sich möglichst viele, die gemeinsam die Digitalisierung von Texten und deren Tagging vorantrieben, so wären die Ergebnisse sicher profitabel. Es bleibt jedoch die Schwierigkeit, sich auf das individuelle Ermessen anderer verlassen zu müssen. Außerdem bliebe immer noch in Frage, wie Tagsets adäquat auf solche Erzählungen bzw. Texte zugeschnitten werden könnten, die augenscheinlich nicht nur über die klassischen Herangehensweisen zu entschlüsseln sind, wie beispielsweise die im Vortrag von Roggenbuck behandelten polyphon erzählten Texte von Perutz und Bierce. Die historisch ausgerichteten Beiträge – insbesondere die diachrone Übersicht Strömer-Caysas – machten deutlich, dass die Zeitgestaltung in Erzähltexten sehr unterschiedlich sein kann und insbesondere Formen des vormodernen Erzählens eingehenderer narratologischer Untersuchungen bedürfen. Es zeigte sich auch, dass die kultur- und epochenspezifischen Eigenschaften der Texte eine je eigene Beschreibung erforderlich machen.

Sowohl die Einbindung psychoanalytischer als auch philosophischer Konzepte und Theorien erwies sich einmal mehr als fruchtbar. Zeitkonzepte der ästhetischen Wahrnehmung bildeten ebenso eine Untersuchungsbasis, wie solche, die ein stetiges Voranschreiten der Zeit aufheben. Figurale Entwicklungsprozesse spielten kaum eine Rolle, vielmehr waren es die erwähnten Brüche und Paradoxa im logischen Zeitverlauf, die zur Diskussion gestellt wurden. Es zeigte sich, dass die formalen Kategorien der Narratologie sich immer noch nicht als ausreichend erweisen, solche Heterogenitäten in der Zeitdarstellung und durch die Erzählstimme polyphon oder unzuverlässig wiedergegebene Zeit(en) zu analysieren.

Leider wurden ausschließlich Erzählungen analysiert und andere Textsorten und Gattungen nicht berücksichtigt. Ebenso wenig wurden andere Medien oder gar transmediale Ansätze behandelt.

Birte Fritsch

Bergische Universität Wuppertal

Fachbereich A: Geistes- und Kulturwissenschaften

Romanistik

2012-01-31

JLTonline ISSN 1862-8990

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