Stefan Descher
Ethos und Pathos in den Wissenschaften
Ethos und Pathos des Logos. Wissenschaftliches Ethos und Pathos der Wissenschaften in historischer und systematischer Perspektive, Humboldt-Universität zu Berlin, 24.–26.11.2011.
Wissenschaftler sind die Akteure der Wissenschaft. Diese für sich genommen wenig überraschende Tatsache ist mit einer Hand voll interessanter Fragen verknüpft, die das Verhältnis zwischen Wissenschaftlern als Personen und der Wissenschaft selbst betreffen. Denn wenn Wissenschaftler Wissenschaft treiben, tun sie vielerlei Dinge, zu denen nicht nur Kernpraktiken wie das Experimentieren im Labor, das einsame Lesen in der Bibliothek, stille Grübeleien im Lehnstuhl u.a. gehören, sondern nicht zuletzt auch die Kommunikation mit anderen Wissenschaftlern und Nicht-Wissenschaftlern. Kommuniziert werden dabei nicht nur von aller persönlichen Färbung befreite Thesen, Theorien und Erkenntnisse, sondern auch persönliche Werte, emotionales Engagement und Haltungen zum eigenen und fremden wissenschaftlichen Handeln, die eng mit Person und Persönlichkeit des Wissenschaftlers verknüpft sind und deren Kommunikation soziale, motivationale, strategische, legitimierende und andere Funktionen erfüllen kann. Ein so verstandenes Wissenschaftsethos, das keineswegs nur das Ethos einzelner Personen, sondern auch das einer Wissenschaftlergemeinschaft, eines Faches, einer Institution etc. sein kann, und dessen (unvermeidliche?) rhetorische Inszenierung im Rahmen wissenschaftlicher Kommunikation werfen Fragen auf wie die folgenden: Welche Rolle spielen personelle Faktoren für den Gang der Wissenschaft? Welche Rolle spielt rhetorisches Pathos für die Vermittlung eines Wissenschaftsethos? Wie ist das Verhältnis von Pathos und wissenschaftlicher Rede zu bestimmen? Sollte (und kann?) Wissenschaft frei sein von Werturteilen des Wissenschaftlers? Was ist überhaupt Wissenschaft und welche Kriterien lassen sich für wissenschaftliches Arbeiten in Anschlag bringen? Was – so wurde in der Ankündigung zur Tagung gefragt – sind die »konstitutiven Bedingungen wissenschaftlicher Kommunikationen und Praktiken«?
Die am Jakob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum der Humboldt-Universität Berlin abgehaltene Tagung mit dem respektablen Titel Ethos und Pathos des Logos, die von Ralf Klausnitzer (Berlin), Carlos Spoerhase (Berlin) und Dirk Werle (Leipzig) zu Ehren von Lutz Danneberg organisiert wurde, versammelte Literaturwissenschaftler, Philosophen und Historiker, um solchen Fragen unter systematischer und historischer Perspektive nachzugehen. Im Folgenden werden, dem Profil dieser Zeitschrift entsprechend, die Vorträge mit systematisch-theoretischem Schwerpunkt ausführlicher dargestellt. Dies entspricht nicht der tatsächlichen Gewichtung der Tagung, die deutlich von wissenschaftshistorisch orientierten Beiträgen bestimmt wurde.
1. Systematische Perspektiven auf Ethos, Pathos und Logos in den Wissenschaften
Den Eröffnungsvortrag »Der heroische Forscher: Selbststilisierungen und ihre Darstellungsverfahren in wissenschaftlichen Texten« hielt Horst Thomé (Stuttgart). Er unterschied darin zwischen zwei paradigmatischen Formen des Wissenschaftlerethos anhand zweier wissenschaftlicher Rollenbilder: des heroischen und des asketischen Forschers. Der heroische Forscher, für den Thomé exemplarisch auf Nietzsche verwies, inszeniere in seinen Texten die eigene wissenschaftliche Forschung als gefährliches Unterfangen, bei dem das Aussprechen der Wahrheit gegen gesellschaftliche wie persönliche Widerstände auf sich genommen werde und die wissenschaftliche Arbeit stets ein Moment der Kritik enthalte – an geltenden Meinungen, an geltender Moral, an gesellschaftlichen Zuständen. Dieser Rollenselbstzuschreibung kämen verschiedene Funktionen zu, zu denen neben der Beglaubigung der eigenen Position sowie der Infragestellung der Mehrheitsmeinung und des sensus communis auch die Aufweichung rationaler Beurteilungsstandards für wissenschaftliches Forschen zu zählen seien: Dem heroischen Forscher komme es auf pedantische Detailfragen und übertriebene, vom nur Wesentlichen ablenkende Exaktheit nicht an, vielmehr gehe er direkt auf die Beantwortung der ›großen Fragen‹.
Den asketischen Forscher dagegen präsentierte Thomé gewissermaßen als Normalwissenschaftler: Eingespannt in den akademischen Betrieb gebe dieser sich mit einer bescheideneren Rolle zufrieden, ziele nicht auf die Lösung letzter Fragen und beschränke sich auf das Machbare. Anhand von Beispielen aus den Schriften Friedrich Nietzsches, Ernst Haeckels und Max Webers wurde gezeigt, wie sich diese Autoren im Spannungsfeld zwischen asketischer und heroischer Rolle selbst als Wissenschaftler positionierten und inszenierten. In Sigmund Freuds Darstellung seiner psychoanalytischen Wissenschaft sah Thomé beide Rollenbilder des Wissenschaftlers zusammenlaufen.
Eine heroische Aufgabe nahm auch Paul Hoyningen-Huene (Hannover) auf sich, der in seinem Beitrag »Systematizität: Die Natur der Wissenschaft« nach einem definierenden Kriterium für Wissenschaftlichkeit und insbesondere wissenschaftliches Wissen fragte. Die Antwort darauf sollte v.a. zwei Bedingungen genügen und einerseits der faktischen Verwendung des Wissenschaftsbegriffes in seiner Vielfalt gerecht werden, andererseits ein Abgrenzungskriterium bieten, anhand dessen wissenschaftliches Wissen von anderen Wissensarten, insbesondere dem Alltagswissen, unterschieden werden könne. Wissenschaftliches Wissen – so die zentrale These des Vortrags – unterscheide sich von anderen Wissensarten primär durch einen höheren Grad an Systematizität. Diese von Hoyningen-Huene ausdrücklich als deskriptiv verstandene These wurde in mehreren Hinsichten erläutert, wobei vor allem die pluralistische Dimension des Systematizitätsbegriffs hervorgehoben wurde: Es gebe nicht einen für alle Wissenschaften gleichermaßen einschlägigen Systematizitätsbegriff, sondern viele verschiedene, durch Familienähnlichkeiten verbundene Systematizitätsbegriffe, die zudem relativ zu historischen Kontexten und ebenso relativ zum Gegenstandsbereich der jeweiligen Wissenschaft zu bestimmen seien. Ob also ein Wissen über Gegenstandsbereich G wissenschaftlich genannt werden darf oder eher dem Alltagswissen zuzuordnen ist, hängt vom jeweiligen zeitrelativen Systematizitätsbegriff ab, der sich nur relativ zu G bestimmen lässt. Die Geltung der zentralen These, schränkte Hoyningen-Huene ein, erstrecke sich jedoch nur auf diejenigen Wissenschaften, in denen es Wissen über Gegenstandsbereiche gibt, über die es zugleich auch Alltagswissen gibt – so wie dies beispielsweise in der Literaturwissenschaft, nicht aber in der Mikrophysik der Fall ist.
In welchen Hinsichten wissenschaftliches Wissen höhere Systematizitätsgrade aufweisen kann als Alltagswissen, erläuterte Hoyningen-Huene anhand neun verschiedener Tätigkeiten und Aspekte der wissenschaftlichen Praxis: dem Beschreiben, dem Erklären, der Prognose, dem Verteidigen von Wissensansprüchen, dem Kritischen Diskurs, der epistemischen Vernetztheit wissenschaftlichen Wissens, dem Ideal der Vollständigkeit, dem Streben nach Vermehrung von Wissen und der Strukturierung und Darstellung von Wissen. Für den Fall der Literaturwissenschaft sei hier beispielsweise an die im Vergleich zum Alltagswissen detaillierteren Klassifikationsmuster (etwa hinsichtlich von Genre- oder Epocheneinteilungen) zu denken. Hoyningen-Huene hob v.a. die Dimension des ›Kritischen Diskurses‹ hervor, in welchem die Fallibilität wissenschaftlicher Behauptungen und Theorien systematisch berücksichtigt werde, was sich auch institutionell niederschlage – etwa in Form von Gutachtersystemen, wissenschaftlichen Forschungsüberblicken, Rezensionen oder Vorträgen und Konferenzen mit öffentlichen Diskussionen. Abschließend plädierte Hoyningen-Huene für ein anti-essentialistisches Verständnis der Wissenschaften und wies auf die Tatsache hin, dass seine These »fast leer« sei, d.h. so gut wie nichts darüber sage oder gar vorschreibe, wie ein spezifischer Systematizitätsbegriff für eine spezifische Wissenschaft zu explizieren sei.
Die anschließende Diskussion kreiste vor allem um die Frage, inwiefern die zentrale These falsifizierbar sei und ob sich nicht Gegenbeispiele finden ließen. Letzteres lieferte Hoyningen-Huene gleich selbst: Etwa die Schachtheorie sei ein Beispiel für hochsystematisches Wissen, das allerdings kein wissenschaftliches Wissen sei. Wie er mit solchen Fällen umgehe, konnte Hoyningen-Huene im knappen Zeitrahmen der Diskussion jedoch nicht erläutern und vertröstete das Publikum auf kommende Publikationen.
Das von Hoyningen-Huene angesprochene Verteidigen von Wissensansprüchen, das Geben von Gründen, scheint unbestritten zum Kerngeschäft aller Wissenschaften zu gehören. In ihrem Vortrag »Ethos des Argumentierens. Deskriptive und normative Bemerkungen zur literaturwissenschaftlichen Praxis« untersuchten Tilmann Köppe und Simone Winko (Göttingen), wie es sich mit dem Begründen in der literaturwissenschaftlichen Praxis verhält. Die als »default-Annahme« (dA) bezeichnete These, Literaturwissenschaftler hätten ihre Behauptungen zu begründen, wurde dabei auf faktische Verbreitung einerseits, normative Verbindlichkeit andererseits befragt.
Die erste Frage könne zwar nur anhand einer breit angelegten empirischen Studie beantwortet werden, doch ließen sich zumindest Bedingungen angeben, unter denen eine solche Untersuchung zu erfolgen, und die Probleme benennen, mit denen man dabei zu rechnen habe. So sei etwa im Hinblick auf eine der zentralen Tätigkeiten des Literaturwissenschaftlers, das Interpretieren, zunächst der Vielfalt möglicher Begründungstypen Rechnung zu tragen. Zudem sehe man sich gerade in der Literaturwissenschaft vor eine Vielzahl kursierender Beurteilungsmaßstäbe für Interpretationen gestellt (Wahrheit, Plausibilität, Kohärenz etc.), die jeweils unterschiedliche Spielarten von Begründungen erwarten ließen. Probleme dabei, (dA) in der literaturwissenschaftlichen Praxis zu orten, ergäben sich allerdings bereits bei der bloßen Identifikation von Argumentationen, da gerade im Fall von Literaturinterpretationen nicht explizit gemachte Begründungen der Normalfall seien. Auch habe man mit Pseudobegründungen und irreführenden sprachlichen Begründungsmarkern zu rechnen: Nicht jedem »weil« folgt tatsächlich ein Grund. Ex negativo seien jedoch auch die letztgenannten Phänomene Zeichen dafür, dass das Begründungsspiel – und damit (dA) – zumindest prinzipiell anerkannt werde.
Mögliche Antworten auf die zweite (und wenn man so will: literaturwissenschafts-ethische) Frage, ob (dA) eine Norm darstelle, die auch befolgt werden sollte, wurden in drei Anläufen skizziert: (i) Gibt es Klugheitsgründe, die für die normative Verbindlichkeit von (dA) sprechen? (ii) Ist die Frage nach Gründen dafür, warum Behauptungen zu begründen seien, überhaupt eine sinnvolle Frage? (iii) Lässt sich die These, dass man seine Behauptungen begründen sollte, ganz allgemein, d.h. losgelöst vom spezifisch literaturwissenschaftlichen Kontext begründen? Zu (i): Im Hinblick auf Klugheitsgründe – Gründe also, die auf die Verwirklichung praktischer Handlungsziele bezogen sind – sei zumindest unklar, ob sich (dA) als Handlungsnorm überzeugend begründen lasse. Denn es könne der Fall sein, dass eine Missachtung von (dA) aus Klugheitserwägungen heraus ratsam erscheint – etwa wenn das Ziel verfolgt wird, möglichst viel zu publizieren. Zu (ii): Gegenüber Kritik am Projekt, das Begründen eigens zu begründen (als Ausgangspunkt diente ein Argument Kurt Baiers [1]), deuteten die Vortragenden zumindest Vorbehalte dagegen an, solche Fragen allzu schnell als unsinnig oder letztlich auf tautologische Antworten hinauslaufend abzutun. Zu (iii): Abschließend wurden allgemeine Überlegungen darüber vorgetragen, weshalb (dA) eine gültige Norm darstelle. Insbesondere hänge die Bereitschaft, Gründe für seine Behauptungen anzuführen, eng zusammen mit der Autonomie der eigenen Person, mit dem Vertrauen in andere Personen sowie einer Verantwortung für die Überzeugungen anderer, die mit den impliziten Wahrheitsansprüchen der eigenen Behauptungsakte einhergehe.
Behauptungen und Theorien nicht nur mit möglichst guten Gründen zu untermauern, sondern sie auch systematisch Falsifikationsversuchen auszusetzen, gilt spätestens seit Popper als eine der zentralen Tätigkeiten im Rahmen wissenschaftlicher Forschung. Dazu bedarf es nicht nur institutioneller Vorkehrungen, die kritische wissenschaftliche Diskurse möglichst optimal realisierbar machen (worauf der Beitrag Hoyningen-Huenes hinwies), sondern auch eines wissenschaftlichen Klimas, in dem wissenschaftliche Fehler – zumindest aber bestimmte Arten von Fehlern, die nicht auf unlauteren Absichten oder genereller fachlicher Inkompetenz beruhen – als normaler Teil des wissenschaftlichen Betriebes angesehen werden. Auf diesen Umstand wies Steffen Martus (Berlin) in seinem Vortrag »Der Mut des Fehlens: Über das Ethos des Fehlermachens« hin. Martus regte an, eine »literaturwissenschaftliche Fehlerforschung« ins Werk zu setzen. Zu deren vorrangiger Aufgabe gehöre es, eine Fehlertypologie zu erstellen, die produktive von hinderlichen oder unsinnigen Fehlern unterscheidbar machen könne. Dass Fehler kein Zeichen mangelnder Kompetenz oder unzureichender Intelligenz sein müssen, erhellte Martus anhand historischer Beispiele wie der von Jacob Grimm etablierten universitären Prüfungspraxis, welche das (in Martus’ Terminologie) ›prozedurale‹ Wissen vor das ›propositionale‹ Wissen stelle: Nicht allein auf wahre Überzeugungen komme es bei der Examinierung eines Prüflings an, sondern auch auf den Weg, auf welchem die jeweiligen Überzeugungen gewonnen wurden. Martus’ abschließender Blick auf die aktuelle literaturwissenschaftliche Praxis fiel weitgehend positiv aus – Fehler würden im Regelfall als Anregungen wahrgenommen werden, als Impulse also, welche die wissenschaftliche Forschung vorantreiben können. Der benötigte Mut für gewagte Hypothesen übersteige in der gegenwärtigen Praxis nicht das Maß des Zumutbaren.
In der Diskussion wurde die Frage aufgeworfen, ob nicht der Mut, Fehler zu begehen, auch von der jeweils vorgetragenen Satzmenge abhänge: Während es bei einzelnen Behauptungen zumindest im wissenschaftlichen Kontext im Regelfall so sei, dass der Behauptende annimmt, seine Behauptung sei wahr und enthalte also keinen Fehler, scheine es sich bei größeren Satzmengen (beispielsweise beim Publizieren eines Buches) so zu verhalten, dass Mut zum Fehlermachen gewissermaßen schon aus statistischen Gründen angebracht sei.
Interpersonale Aspekte der literaturwissenschaftlichen Forschung standen in Jörg Schönerts (Hamburg) Beitrag »Zu Nutz und Frommen kooperativer Praxis in der Literaturwissenschaft« im Fokus, dem er ein Zitat Tanja Langes voranstellte. Lange zufolge gelte »kooperatives Vorgehen […] in den Geistes- und Kulturwissenschaften weitgehend als ›terra incognita‹« [2] – eine Diagnose, der sich Schönert anschloss. Im Folgenden zeichnete er z.T. autobiographisch gestützt die Entwicklungen nach, die es im Hinblick auf literaturwissenschaftliche Gemeinschaftsprojekte in den letzten Jahrzehnten gegeben habe. Schönert benannte und bewertete verschiedene Formen kooperativer Praxis (Graduiertenkollegs, interdisziplinäre DFG-Projekte, die Gruppe Poetik und Hermeneutik, die Münchener Forschergruppe Sozialgeschichte der deutschen Literatur 1770–1900, die empirische Literaturwissenschaftsschule um S.J. Schmidt, gemeinsame Publikationsprojekte u.a.) und stellte abschließend die Prognose auf, dass kooperative Projekte sich in der Literaturwissenschaft nur dann durchsetzen würden, wenn die individuelle Zurechnung von Leistungen möglich bleibe, die für Berufungs- und Gutachterkommissionen faktisch maßgeblich seien.
Ruth Amossy (Tel Aviv) wies in ihrem Abendvortrag »Scientific ethos in political discourse analysis: between neutrality and responsibility« (so der ursprünglich angekündigte Titel; Amossy ersetzte in ihrem Vortrag »responsibility« durch »commitment«) auf eine konstitutive Spannung zwischen zwei konkurrierenden Polen des gegenwärtigen wissenschaftlichen Ethos hin. Diese zwei Pole seien (1) ein wissenschaftliches Neutralitätsideal, das den Forscher zu Enthaltsamkeit von normativen Urteilen anhalte; (2) das Ideal einer sozialkritischen Rolle, in welcher der Wissenschaftler zugleich auch engagierter Bürger sei, der seine Werte und Überzeugungen nicht vollständig aus seinem wissenschaftlichen Tätigkeitsbereich verbanne. Um dies zu illustrieren, gab Amossy Beispiele aus Arbeiten der aktuellen linguistisch orientierten discourse analysis: dem Neutralitätsideal verpflichtete, eher deskriptiv ausgerichtete Arbeiten Nathalie Heinrichs, sowie eine engagierte, auf Werturteile nicht verzichtende Form der discourse analysis in Arbeiten u.a. von Érik Neveu. Amossy problematisierte beide Ethosformen: das Neutralitätsideal, weil Untersuchungsobjekt und Forschersubjekt hinsichtlich einer gemeinsam geteilten Sprache nicht vollständig voneinander getrennt seien (warum genau dieser Umstand Neutralität im Sinne einer wertungsfreien deskriptiven Haltung problematisch macht, blieb allerdings offen); das Engagiertheitsideal, weil es die Glaubwürdigkeit des wissenschaftlichen Unternehmens zumindest latent gefährde. Sie wies zudem darauf hin, dass beide Ideale in der Praxis nie in Reinform vorkämen, sondern stets als Mischformen anzutreffen seien.
Amossy selbst zeigte Sympathien für eine ausbalancierte Ethos-Kalkulation: Der Wissenschaftler solle, um seine Glaubwürdigkeit nicht zu gefährden, einerseits die sachliche, distanziert beschreibende und in dieser Hinsicht auf Neutralität verpflichtete Haltung annehmen, andererseits aber seine Überzeugungen und Werte im Sinne fruchtbarer Gesellschaftskritik auch im wissenschaftlichen Raum ins Spiel bringen. Bei diesem Plädoyer blieb es jedoch. Aus Amossys zunächst selbst eher deskriptiv angelegtem und vorsichtig als »work in progress« angekündigtem Beitrag ging nicht hervor, welche Gründe für solch eine Mischkalkulation sprechen würden. Auch die im engeren Sinne diskursanalytische Frage nach den rhetorischen Strategien, mit denen Autoren ihren Standort zwischen diesem oder jenem Pol des wissenschaftlichen Ethos anzeigen (etwa durch den Gebrauch der Personalpronomina, den Umgang mit Zitaten, Quellenangaben etc.), wurde nur am Rande thematisiert.
Pathos und Logos scheinen prima vista nicht sehr verträglich zu sein und sich gegenseitig im Wege zu stehen. Dass dies nicht immer der Fall sein muss, zeigte Wolfgang Detel (Frankfurt a.M.) in seinem Vortrag »Pathos und Wahrheit«, in welchem er eine Abgrenzung zwischen »rhetorischem« (legitimem) und »überzogenem« (und daher illegitimem) Pathos in Angriff nahm. Überzogenes Pathos sei dadurch charakterisiert, dass es mit großem Gestus die vermeintlich grundlegende Bedeutsamkeit der vorgebrachten Thesen postuliere, diese als aufregend und neuartig anpreise und sich dabei oft als radikale Opposition zum derzeit Gültigen inszeniere, jedoch eklatante Begründungsmängel aufweise. Dies illustrierte Detel anhand der jüngeren postmodern inspirierten Publikationen Reviel Netz’ zur antiken Geometrie und Mathematik, die gerade in postmodernen Kreisen (Detel zitierte aus einer Rezension Bruno Latours, der Galionsfigur postmoderner Wissenschaftssoziologie) begeistert aufgenommen wurde. Netz, dem Detel elementare wissenschaftliche Defizite nachwies (u.a. Mangel an Textbelegen und logische Fehler), wurde in guter Alan-Sokal-Tradition als Scharlatan entlarvt. [3] An diesem Punkt zeigte sich unverhofft die aktuelle Relevanz der Tagung, da Detel in einer Randbemerkung darauf hinwies, dass Netz jüngst eine Professur an der Humboldt-Universität angeboten wurde.
Seinen positiv konnotierten Begriff ›rhetorisches Pathos‹ grenzte Detel zunächst gegen die übliche Auffassung ab, dass rhetorisches Pathos die Funktion eines Lückenfüllers in rationalen Begründungszusammenhängen übernehme. Diese Auffassung beruhe auf einer verfehlten Betonung des Form-Inhalt-Dualismus, welcher das Pathos (als Teil der sprachlichen Form) zum scheinbaren Gegenpol dessen mache, worauf es in der Wissenschaft allein ankomme: den ›Inhalt‹ in Gestalt wahrer Überzeugungen und rationaler Begründungen. Stattdessen gebe es legitime pathetische Figuren – wozu Detel überraschenderweise nicht nur Sinn-, sondern auch Klangfiguren zählte –, die das Gesagte nicht bloß auf rein affektive Weise stützen, sondern semantisch unterstützen würden. Gute Pathosfiguren in diesem Sinne besäßen »semantische Relevanz« und wiesen die Eigenschaft der »Wahrheitsfähigkeit« auf. Beispielhaft wies Detel auf Hilary Putnams in der Philosophie des Geistes berühmt gewordene Metapher hin, nach welcher der Geist als Computer verstanden werden könne. Obwohl Metaphern wie die Computer-Metapher wörtlich falsch seien – der Geist ist kein Computer –, seien sie laut Detel doch informativ und »wahrheitsfähig«: Der Geist, so unterstelle Putnams Metapher, teile in der Tat relevante Eigenschaften mit einem Computer. Die Metapher rege damit dazu an, dieses Gemeinsame von Geist und Computer präzise zu bestimmen und somit das Wahre im (wörtlich) Falschen zu suchen.
In der Diskussion ergänzte Detel, dass es s.E. durchaus auch positive Formen des überzogenen Pathos geben könne, nämlich dann, wenn wissenschaftliche Ansprüche noch nicht durch Belege und Argumente gedeckt seien, aber prinzipiell das Potential hätten, gedeckt werden zu können.
2. Wissenschaftshistorische Perspektiven
In der wissenschaftshistorischen Tagungssektion wurden in exemplarischer Absicht Protagonisten verschiedener wissenschaftlicher Ethostypen vom 18. bis ins 20. Jahrhundert vorgestellt. Viele Vorträge trafen sich dabei in der Meinung, jeweils einen »neuen Typ« des Intellektuellen aufgespürt zu haben, der ein zuvor nie dagewesenes wissenschaftliches Ethos etabliert habe – so etwa beim Enzyklopädisten D’Alembert, bei Wilhelm Scherer und Louis Havet. Die Vielzahl und Regelmäßigkeit, in der diese neuen Typen des Intellektuellen aus dem Boden gesprossen wären, mag skeptisch machen, ob die Betonung des Neuen in allen Fällen sachlich angemessen oder auch dem Drang nach entdeckerischem Pathos geschuldet war.
Von einem frühen Streit um geistiges Eigentum im Berlin des 18. Jahrhunderts berichtete Hartmut Hecht (Berlin) in seinem Vortrag »Pierre Louis Moreau de Maupertuis und der lange Atem eines Prioritätsstreits«. Maupertuis, dem damaligen Präsidenten der Berliner Akademie der Wissenschaften, wurde von Samuel König vorgeworfen, er habe seine bahnbrechende physikalische Entdeckung des sog. »Prinzips der kleinsten Wirkung« einem vermeintlichen Leibnizbrief zu verdanken, dessen Original bis heute nicht gefunden wurde. Nachdem Königs Anschuldigungen durch eine Entscheidung der Akademie zurückgewiesen wurden, wandte er sich an die Öffentlichkeit. Den darauffolgenden Streit, in den u.a. Voltaire verwickelt war, hielt Hecht insofern für bedeutsam, als hier die erste öffentliche Debatte über Wissenschaft in Deutschland geführt worden sei.
Zur Geschichte des wissenschaftlichen Ethos gehört auch das keineswegs neue Phänomen, dass Intellektuelle Intellektuelle schelten. Episoden aus dieser langen Geschichte intellektueller Selbstkritik und -reflexion stellte Wolfgang Proß (Bern) in seinem Beitrag »Sapientes pessimi omnium sunt: Die Verschiebung vom Weisen zum Gelehrten im 18. Jahrhundert« vor. Proß’ leitende These: Während das 17. und beginnende 18. Jahrhundert vor allem zwei Figurentypen als Verkörperungen des logos gekannt habe – den Weisen bzw. Philosophen einerseits, den Fürsten andererseits –, sei im 18. Jahrhundert ein kontinuierlich anwachsender Zweifel an diesen Verkörperungsformen zu beobachten. Mit kenntnisreichen historischen Ausführungen zeichnete Proß drei wichtige Stationen auf diesem Weg nach.
Zunächst stellte Proß Rousseaus Aufnahme der italienischen Theorie vom Weisen als Kriminellen vor, wie sie u.a. bei Alessandro Tassoni und Ludovico Muratori zu finden sei. Deren Einfluss wies Proß im Intellektuellenbild des jungen Rousseau sowie insbesondere im Discours sur les Sciences et les Arts nach. Anschließend wurde die Rousseau-Rezeption bei Isaak Iselin skizziert. Dieser habe Rousseaus Thesen zur Degenerationsgeschichte des Menschen im Laufe der zivilisatorischen Entwicklung zwar geteilt, den Weisen aber von dieser Verfallsgeschichte ausgenommen: Der Weise und insbesondere der Geschichtsphilosoph bleibe für Iselin von der Korruption durch die Gesellschaft unberührt und sei daher Symbolfigur dafür, einen geschichtlichen Wandlungsprozess zur Besserung der Gesellschaft einzuleiten. Diese These Iselins allerdings bleibe ein bloßes Postulat. Herder schließlich bildete die dritte Station. Proß zeichnete die Konzeption des Weisen bzw. Philosophen nach, welche Herder in seinem Aufsatz »Auch eine Geschichte zur Bildung der Menschheit« sowie in den Ideen entfaltet hatte. Danach verkörpere der Weise weder die Vernunft, noch sei er exklusiv im Besitz der Wahrheit, sondern er zeichne diese auf und halte sie so für Mit- und Nachwelt fest. Vernunft und Wahrheit seien für Herder nicht mehr im Besitz einzelner oder einer exklusiven Gruppe von Menschen, sondern (so Proß) »im Besitz der Zeit« – sie verkörpere sich im Lauf der Geschichte. Der Weise sei somit nicht mehr der Lehrer der Menschheit, sondern nehme eine bescheidenere Funktion als Chronist und Vermittler ein.
Bei allen Autoren wurde hervorhoben, wie eng die Relativierung der Stellung des Weisen (a) mit dem Erstarken empirischer Tendenzen in der Wissenschaft (von Proß als »Inventarisierung der Wirklichkeit« bezeichnet), (b) mit der immer verbreiteteren Vorstellung, dass die Wirklichkeit reicher sei, als sich mit bloßem menschlichem Verstand begreifen lasse, und vor allem (c) mit den geschichtsphilosophischen Auffassungen der jeweiligen Autoren verknüpft war. Proß’ Beitrag unterschied sich insofern von vielen anderen Tagungsbeiträgen, als hier Beispiele für eine Beschränkung des intellektuellen Ethos gegeben wurden, bei dem das intellektuelle (Selbst-)Bild nicht ausgeweitet, sondern zurechtgestutzt wurde.
Entwicklungen in der Gelehrtenkultur des 18. Jahrhunderts standen auch im Beitrag von Caspar Hirschi (Zürich), »Eine Republik von Gleichen oder Ungleichen? Debatten über den Aufbau der Pariser Académie Royale des Sciences, 1720–1790«, im Vordergrund. Darin wurde faktenreich über die Reformbemühungen innerhalb der Pariser Académie Royale des Sciences informiert, wie sie insbesondere durch D’Alembert im Zuge aufklärerischen Egalitätsstrebens vorangetrieben wurden. Als Kernpunkt der hauptsächlich innerakademisch geführten Debatten hob Hirschi den Streit um eine egalitäre oder hierarchische Struktur der Académie hervor.
Hans-Harald Müller (Hamburg) berichtete über »Wilhelm Scherers Gelehrtenbehavioristik und Wissenschaftsethik«. Müller gab Einblicke in Scherers wissenschaftlich-methodische sowie emotional-affektive Selbstreflexion in dessen Briefen und Schriften. Nach Ausführungen zu Scherers intellektueller Biographie ging Müller zunächst auf die Seminarpraxis Scherers ein, welcher neben der methodischen Anleitung seiner Schüler auch großen Wert auf freundschaftliche, z.T. stark emotional aufgeladene Beziehungen zu diesen gelegt habe, wie dies die Briefwechsel mit Erich Schmidt und anderen dokumentieren würden. Scherers Engagement für seine Schüler sei dabei über die rein wissenschaftliche Beratung und Betreuung hinausgegangen und habe sich bis in den Bereich der Karriereplanung hinein erstreckt. Wissenschaftliches Ethos habe für Scherer somit nicht nur die Verpflichtung auf klassische wissenschaftliche Kardinaltugenden wie Fleiß, Pflichtgefühl und Wahrheitsliebe umfasst, sondern darüber hinaus auch persönlich-emotionale Beziehungen zur ihn umgebenden und von Scherer aktiv mitgestalteten Forschergemeinschaft. Auch habe Scherer im Gegensatz zum zeitgenössischen akademischen Personal wenig Skrupel gezeigt, sich in feuilletonistischer und populärwissenschaftlicher Art breitenwirksam zu äußern. All diese Komponenten des Scherer’schen Wissenschaftsethos zeigten an, dass in Scherer ein neuer Typus des Wissenschaftlers die Bühne der Philologie betreten habe.
Einen neuen Typus des Intellektuellen auf der Schwelle zum 20. Jahrhundert lokalisierte Denis Thouard (Lille) in seinem Vortrag »Science et Ethos de savant. Un philologue dans l’Affaire Dreyfus«. Im Zuge der Dreyfus-Affäre, so Thouards These, sei ein wissenschaftliches Ethos etabliert worden, welches durch eine »Transzendierung« einzelwissenschaftlicher Grenzen gekennzeichnet sei: Forscher aus den unterschiedlichsten Disziplinen verbanden dabei ihre Rolle als Wissenschaftler mit gesellschaftlich-politischem Engagement als Bürger. Als Beispiel diente Thouard der Latinist und Gräzist Louis Havet, der das vermeintliche Schreiben Dreyfus’, den Bordereau, an welchem sich die Affäre entzündete, mit philologischem Handwerkszeug untersuchte, um Dreyfus damit zu entlasten.
Christopher D. Johnson (Harvard University, Cambridge, MA.) informierte in seinem Vortrag »Pathosformeln: Warburg, Cassirer und der Fall Giordano Bruno« über die Bruno-Rezeption bei Aby Warburg und Ernst Cassirer. Die Hinrichtung Brunos und dessen standhaftes Festhalten an seinen wissenschaftlichen Überzeugungen stelle für beide eine signifikante Urszene dar, in der sich ein bis ins Äußerste getriebenes wissenschaftliches Pathos manifestiere. Bruno werde daher von Warburg wie Cassirer, auch unter Ausklammerung wissenschaftlicher Defizite Brunos, zu einer Stifterfigur für »moralische sapientia« stilisiert: zu einem Vorbild für wissenschaftliche Aufrichtigkeit im Sinne des scholastischen Konzepts der ›Synderesis‹, des zum guten Handeln antreibenden Gewissens. Das Bild Brunos diene damit als »Pathosformel«, an welcher Warburg und Cassirer ihr eigenes wissenschaftliches Ethos auszurichten suchten.
Gibt es, und wenn ja: welche Rolle spielen nicht-diskursive Erkenntnisvermögen im Rahmen wissenschaftlicher Forschung? Diesen Fragen ging Andrea Albrecht (Freiburg) in ihrem Beitrag »›Wahrheitsgefühl‹. Zur Verschränkung von kognitiven, emotiven und voluntativen Elementen der Wissensgenese bei Fries, Elsenhans und Nelson« nach, indem sie über das Konzept des ›Wahrheitsgefühls‹ in der Epistemologie von Jakob Friedrich Fries und Leonard Nelson informierte. (Der im Titel angekündigte Theodor Elsenhans konnte aus Zeitgründen nicht berücksichtigt werden.) Albrecht erläuterte zunächst den Begriff und die theoriestrategische Rolle des ›Wahrheitsgefühls‹ bei Fries und hob hervor, dass darunter keine bloße Empfindung, sondern ein nicht-begrifflicher Denkakt zu verstehen sei. Das Wahrheitsgefühl sei von Fries als eigenständiges nicht-begriffliches Erkenntnisvermögen konzipiert worden, dem heutzutage am ehesten der Begriff der ›Intuition‹ entsprechen würde. Das Wahrheitsgefühl habe dabei zugleich eine wissenschaftsethische Dimension, impliziere es doch einen Impuls zur Wahrheitsfindung. Nach einer Darstellung der Kritik an Fries, wie sie u.a. durch Hegel, Herder und die Neukantianer geltend gemacht wurde, stellte der Vortrag abschließend die Fries-Rezeption bei Leonard Nelson in den Fokus. Nelson knüpfe positiv an Fries’ Konzeption des Wahrheitsgefühls an, doch erfülle der Bezug auf das Wahrheitsgefühl als Erkenntnisform vor allem eine Abgrenzungsfunktion gegenüber zeitgenössischen psychologischen Tendenzen, die Gefühlen eine Erkenntnisfunktion generell absprachen.
Albrecht selbst enthielt sich einer Beurteilung des Wahrheitsgefühlskonzepts, in der Diskussion wies jedoch Wolfgang Detel darauf hin, dass kognitive Gefühlstheorien, die zumindest einigen Gefühlen repräsentationalen Gehalt und damit auch in gewisser Hinsicht Erkenntnisqualitäten zusprächen, heutzutage durchaus auf Akzeptanz stießen. Paul Hoyningen-Huene wies kritisch auf die vor allem in der aktuellen analytischen Philosophie grassierende »Intuitionspest« hin, bei der Intuitionen allzu oft die Rolle von ›Begründungsstoppern‹ übernehmen würden.
Drei Entwürfe eines wissenschaftlichen Ethos und ihr Verhältnis zueinander stellte Olav Krämer (Freiburg) in seinem Beitrag »Ethos und Pathos des Metaphysikverzichts: Ernst Mach, Max Weber und Robert Musil« vor. Mach und Weber wurden von Krämer als Protagonisten eines »Metaphysikverzichts« der Wissenschaft dargestellt, nach dem Wissenschaft es mit Tatsachenfragen, nicht aber mit klassischen metaphysischen Begriffen oder Wertfragen zu tun habe. Bei beiden sei dieser Verzicht verknüpft mit dem Anspruch auf moralische Vorbildlichkeit des Wissenschaftlers, der jedoch jeweils unterschiedlich begründet werde. Dass und wie dieser moralische Anspruch auch außerhalb der Wissenschaft auf Resonanz gestoßen sei, zeigte Krämer abschließend an Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften.
Zunächst skizzierte Krämer das antimetaphysische Wissenschaftsethos Machs. Dessen wesentliche Komponenten seien eine nüchterne Einstellung, Unbefangenheit, der Verzicht auf metaphysische Vorannahmen, Beharrlichkeit und das Insistieren auf der unmittelbar gegebenen Erfahrung, welche die allein maßgebliche Basis der Wissenschaft sei. Dieses Ethos gelte allerdings, wie Krämer hervorhob, bei Mach nicht allein für den Bereich der Wissenschaft, sondern beanspruche allgemeinere Geltung, was letztlich evolutionsbiologisch motiviert sei: Alle geistigen Tätigkeiten und damit auch die Wissenschaft seien für Mach eine Ausprägung des Strebens nach Anpassung an die Umwelt. Die speziell wissenschaftliche Tätigkeit sei nur eine Verfeinerung dessen, was Menschen und Tiere ohnehin instinktiv täten. Zudem trage die wissenschaftliche Forschung, indem sie über die Wirklichkeit aufkläre und auch metaphysische Vorstellungen prinzipiell der Kritik aussetze, zum allgemeinen gesellschaftlichen Fortschritt bei und habe auch in dieser Hinsicht eine ethische Dimension.
Auch in Max Webers berühmtem Aufsatz »Wissenschaft als Beruf« sei eine antimetaphysische Ethoskonzeption erkennbar, konkret in Webers Forderung, Wissenschaftler sollten keine ethischen oder politischen Ratschläge erteilen und weltanschauliche Sinnangebote liefern, Werturteile und Tatsachenurteile seien vielmehr streng zu scheiden. (Dies als antimetaphysisch zu begreifen setzt, wie Krämer selbst klar sagte, einen kommentierungsbedürftigen Begriff von Metaphysik voraus, dessen Konkretisierung im Vortrag aber offen bleiben musste.) Webers Metaphysikverzicht sei in dessen allgemeiner Kulturtheorie begründet, nach der die Wahl zwischen unterschiedlichen Wertordnungen nicht rational entscheidbar sei. Die wissenschaftliche Haltung, in der dies besonders deutlich hervorgehoben werde, entspreche nun prinzipiell derjenigen Haltung, die angesichts konkurrierender Wertordnungen auch dem Nichtwissenschaftler abgefordert werde. Auch bei Weber gehe das Ethos somit über den Bereich der Wissenschaft hinaus und sei nur eine besonders konsequente Ausprägung einer allgemeinen Haltung zur Welt.
Schließlich deutete Krämer an, wie in Musils Mann ohne Eigenschaften jener Anspruch auf moralische Vorbildlichkeit zwar einerseits positiv aufgenommen werde (Krämer wies auf Ulrichs anfängliche Begeisterung für ein Wissenschaftsethos hin, das dem Machs und Webers in wesentlichen Zügen entspreche). Im Laufe der Entwicklung Ulrichs werde dieses jedoch kritisch relativiert und statt dessen ein eigenes Wissenschaftsethos entfaltet, das sich von Mach und Weber vor allem in der Antwort auf die Frage unterscheide, in welchem Maße die moderne Wissenschaft es dem Wissenschaftler ermögliche, sich als ›ganzer Mensch‹ zu verwirklichen. Letzteres sei in Musils Augen wesentlich weniger der Fall, als dies noch von Mach und Weber angenommen wurde.
Statt des ursprünglich angekündigten Vortrags zur »Vielfalt der Funktionen epistemischer Werte« warf Cornelis Menke (Bielefeld) in seinem Beitrag einen Blick auf ein Gründungsdokument der Wissenschaftssoziologie, Robert K. Mertons »The normative structure of science« von 1942. [4] Menke stellte zunächst die vier Komponenten des darin entworfenen Begriffs von wissenschaftlichem Ethos dar – universalism, communism, disinterestedness und organized scepticism –, resümierte daraufhin die Einwände, welche gegen den Merton’schen Ethosbegriff erhoben wurden, und versuchte abschließend zu zeigen, inwiefern diese nur auf eine bestimmte Merton-Lesart zuträfen, nach der Merton ein Definitionsprojekt im Hinblick auf wissenschaftliches Ethos verfolgt habe. Einwände, die auf dieser Lesart beruhten, könnten laut Menke jedoch entkräftet bzw. entschärft werden, wenn man die Motivation aufdecke, die hinter Mertons vier Komponenten stehe. Diese würden nicht in erster Linie einen wissenschaftlichen Ethosbegriff als innerwissenschaftliche Angelegenheit fixieren und zu definieren suchen, sondern hätten vielmehr eine engagiert-kritische Funktion, indem sie vor dem Hintergrund der damaligen Krise der Wissenschaft – etwa im Zuge der politischen Indienstnahme der Wissenschaft im nationalsozialistischen Deutschland – das Wertsystem der Wissenschaft gegen das Wertsystem der Gesellschaft und insbesondere totalitärer Systeme in Stellung zu bringen versuchten.
3. Schlussbemerkungen
Die Vorträge waren durchweg gut informiert und lieferten mitunter hilfreiche begriffliche Differenzierungen (so etwa Detels Unterscheidung zwischen legitimem und illegitimem Pathos) oder herausfordernde Thesen zur Natur der Wissenschaft (Hoyningen-Huene), welche die Diskussion um Ethos, Pathos und Logos begrifflich klärten und inhaltlich vorantrieben. Die anschließenden Diskussionen waren lebhaft und fanden in konstruktiver Atmosphäre statt. Die Tagung – auch dies mag ein Erfolgskriterium sein – warf alles in allem jedoch mehr Fragen auf, als sie beantwortete. Beispielsweise wurde die Frage nach den rhetorischen Strategien, mit denen Autoren in ihren Texten ein personales Ethos konstituieren, zwar mehrfach berührt, eine erschöpfende Antwort darauf bleibt jedoch ein Desiderat.
Kritisch kann angemerkt werden, dass sich zuweilen (u.a. bedingt durch die an sich begrüßenswerte interdisziplinäre Ausrichtung der Tagung und ihren großen thematischen Radius) der Eindruck recht heterogener Vorträge einstellte. Verbindungen zwischen philosophisch-theoretischer und wissenschaftshistorischer Perspektive wurden nur selten gesucht. So wurde die Frage nach konstitutiven Bedingungen der Wissenschaftspraxis nicht von allen Vortragenden gleichermaßen beantwortet oder überhaupt gestellt, vielmehr wurde sie von rein wissenschaftshistorischen Darstellungen oft überlagert. Die spannende Frage, welche Lektion aus der Wissenschaftsgeschichte im Hinblick auf ein heutiges wissenschaftliches Selbstbild im Spannungsfeld von Ethos und Pathos zu lernen wäre, blieb daher weitgehend offen. Der geplanten Publikation der Beiträge ist zu wünschen, dass der systematische Ertrag der wissenschaftshistorischen Betrachtungen stärker konturiert wird.
Auch zeigte die Tagung, in welchen Hinsichten weitere begriffliche Klärung nötig scheint. So konnte man beispielsweise einen zum Teil recht uneinheitlichen Gebrauch des Ethos-Begriffs bemerken, der mal für an Einzelpersonen gebundene Einstellungen und Haltungen verwendet wurde, mal im Sinne einer ›Ethik‹ der Wissenschaft, die allerdings – und dies gehört zum Begriff der Ethik – ein Zurücktreten von bloß persönlichen Haltungen und Einstellungen verlangt. Ethos und Ethik können somit durchaus auch konfligieren, so dass eine Gleichsetzung beider Begriffe problematisch sein kann.
Georg-August-Universität Göttingen
Promotionsprogramm Theorie und Methodologie der
Textwissenschaften und ihre Geschichte (TMTG)
Anmerkungen
[1] Vgl. Kurt Baier, A Moral Point of View. Rational Basis of Ethics. Ithaca/NY 1958, 318. [zurück]
[2] Tanja Lange, Netzgestützte Kommunikation und Kooperation für Forschung (und Lehre) in den Geisteswissenschaften, Jahrbuch für Internationale Germanistik 22:1 (2006), 83–94, hier: 83. [zurück]
[3] Diese Kritik kann nachvollzogen werden in: Wolfgang Detel, Geist und Verstehen. Historische Grundlagen einer modernen Hermeneutik, Frankfurt a.M. 2011, 507–514. [zurück]
[4] Mertons Aufsatz wurde zu verschiedenen Zeiten unter verschiedenen Titeln publiziert, zuerst im Jahre 1942 als »A note on science and democracy«. Die heute bekannteste Fassung, auf die sich Menke hauptsächlich bezog, stammt aus dem Jahr 1973 und wurde unter dem Titel »The normative structure of science« veröffentlicht in: Robert King Merton, The Sociology of Science: Theoretical and Empirical Investigations, Chicago 1973. [zurück]
2012-01-23
JLTonline ISSN 1862-8990
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