Andrea Albrecht und Olav Krämer

Interpretationstheorie nach dem »practice turn«

Theorien, Methoden und Praktiken des Interpretierens. Tagung am Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS), 13.–16.09.2011.

The philosophical literature on epistemology and the historical literature on scientific practices, especially in English, is overwhelmingly slanted towards the natural sciences. […] Insofar as any epistemological question about the knowledge of humanists has been posed, it has centered on the objects of that knowledge […]. But what about an epistemology based upon the practices of humanists, on what they do? [1]

Was Lorraine Daston hier 2004 für die humanities im Allgemeinen konstatiert, gilt im Besonderen für die textinterpretierenden Geisteswissenschaften, allen voran die Literaturwissenschaften: Denn während inzwischen eine stattliche Anzahl von praxisorientierten Untersuchungen für die Naturwissenschaften vorliegt und die epistemologische Diskussion nachhaltig bereichert hat, gibt es bislang nur vereinzelte Studien zu geisteswissenschaftlichen Wissenschaftskulturen und zu einzelnen literaturwissenschaftlichen Praktiken. Eine kritische Reflexion der Möglichkeiten und Grenzen, aber auch der Erkenntnisziele praxeologischer Fragestellungen für die philologisch-geisteswissenschaftliche Epistemologie steht ebenso aus wie eine Verhältnisbestimmung von philologischen Praktiken einerseits, methodologischen und theoretischen Diskursen andererseits.

Eine von der Fritz-Thyssen-Stiftung und dem Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS) unterstützte Tagung hat sich dieses Desiderats nun angenommen und die »Theorien, Methoden und Praktiken des Interpretierens« ins Zentrum einer international und interdisziplinär besetzten Tagung gestellt, die auf Einladung durch Andrea Albrecht, Lutz Danneberg, Olav Krämer, Steffen Martus und Carlos Spoerhase vom 13. bis 16. September 2011 am FRIAS stattgefunden hat. Gefragt wurde nach den Möglichkeiten, auch die Geisteswissenschaften aus der Perspektive eines ›practice turn‹ zu beobachten und am Beispiel einer geisteswissenschaftlichen Basistätigkeit: dem Interpretieren von Texten, zu analysieren, welche Routinen und Fertigkeiten, welche impliziten Regeln und welche Verfahrensweisen die interpretierende Praxis auszeichnen. Ähnlich wie das für die Naturwissenschaften bereits geschehen ist, sollte für die Literaturwissenschaften geklärt werden, wie Carlos Spoerhase (Berlin) dies für die Veranstalter einleitend erläuterte, ob die Praxis von den explizierten theoretischen Normen und methodischen Regeln abweicht und wie weit überhaupt die Übertragung des ›practice turn‹ der Wissenschaftsforschung für die geisteswissenschaftlichen Disziplinen nutzbar gemacht werden kann.

1. Interpretationspraktiken aus theoretischer und methodologischer Sicht

Den Auftakt der Tagung machte die Göttinger Literaturwissenschaftlerin Simone Winko, die im Rahmen ihres Eröffnungsvortrags (»›Das scheint mir sehr plausibel‹. Zum Begriff der Plausibilität und zu Strategien der Plausibilisierung beim literaturwissenschaftlichen Interpretieren«) über Kriterien und Strategien der Plausibilisierung von Interpretationshypothesen räsonierte, dazu zunächst die literaturwissenschaftliche Verwendungsweise des Plausibilitätskonzepts rekonstruierte und, daran angeschlossen, eine tentative Explikation des Konzepts für den reflektierten literaturwissenschaftlichen Gebrauch vornahm. Der Plausibilitätsbegriff, so eine Hauptthese ihres Explikationsversuchs, sei als ein mindestens dreistelliger Begriff zu verstehen: Eine Interpretationshypothese werde stets als plausibel für eine bestimmte Person oder Gruppe im Bezug auf einen bestimmten Kontext, etwa einen bestimmten Wissenshintergrund, bewertet. Winkos Votum für eine Aufwertung des Plausibilitätsbegriffs gegenüber Konzepten von Wahrheit und Richtigkeit folgte der praxeologischen Maxime, den etablierten literaturwissenschaftlichen Handlungen einen impliziten Sinn zu unterlegen, der sich nicht unbedingt theoretisch oder methodologisch abbilden muss, aber dennoch eine rationale Praxisform, in diesem Fall einer Praxisform der Validierung, darstellen kann.

Einem ähnlich analytischen Blick auf die Interpretationstätigkeit verpflichtet waren auch die Beiträge von Andreas Kablitz, Benjamin Gittel, Thomas Petraschka und Kai Büttner. Andreas Kablitz (Köln) unterschied am Beispiel der Bibel- und Dante-Auslegung die Deutungsverfahren von »Allegorese und Textinterpretation« (so auch der Vortragstitel) und machte deutlich, dass bei allegorischen Deutungen die Wahrheit des Interpretandums vorausgesetzt ist und sich unmittelbar auf das Interpretament überträgt, während bei literaturwissenschaftlichen Textinterpretationen die Wahrheit des Interpretaments als belanglos gilt, im Gegenzug aber die Pertinenzfrage sich in verschärfter Form stellt, der Interpret also sehr viel mehr Aufwand zu betreiben hat, um Bedeutungszuweisungen zu plausibiliseren. Insbesondere bei fiktionalen Texten hängt der Wert einer Interpretation nach Kablitz daher entscheidend davon ab, wieviel Kohärenz sie für den zu interpretierenden Text zu stiften vermag. Die für den modernen Fiktionalitätsbegriff konstitutiven gesteigerten Kohärenzanforderungen, so Kablitz weiter, führen dazu, dass in Textinterpretationen auch solche Textteile gedeutet werden, in denen auf den ersten Blick gar keine Kohärenzstörungen vorliegen.

Fiktionale Texte standen auch im Fokus des Beitrags von Benjamin Gittel (Berlin), in dem er »Überlegungen zur Bestätigung von Interpretationshypothesen zu fiktionalen literarischen Werken« vorstellte. Das Kernstück der Ausführungen Gittels bildete ein Vorschlag dazu, wie sich deskriptive Sätze über ein fiktionales Werk von Interpretationshypothesen unterscheiden lassen; plausibel und praktikabel sei es am ehesten, deskriptive Sätze anhand eines epistemischen Kriteriums, also über das zur Rechtfertigung dieser Sätze verwendete Wissen, zu bestimmen. Mithilfe der solcherart ausgezeichneten Sätze, die Gittel zufolge weitgehend unabhängig von einer bestimmten Bedeutungskonzeption sind, lassen sich Argumente bilden, die zur Bestätigung von Interpretationshypothesen genutzt werden können.

Thomas Petraschka (Regensburg) suchte die Struktur von Interpretationshandlungen zu erhellen und zugleich eine Brücke zwischen zwei philosophischen Traditionen zu schlagen. Den Titel seines Vortrags bildete die Frage: »Welchen Beitrag leistet das hermeneutische ›Verstehen‹ zu einer allgemeinen Interpretationstheorie?« Mit dem hermeneutischen Verstehen war dabei vor allem Diltheys Konzept des Verstehens gemeint, mit der allgemeinen Interpretationstheorie hingegen eine Theorie, die der Philosophie Quines und Davidsons verpflichtet ist. Im Anschluss an Davidson, so Petraschka, könne eine wesentliche Phase der Interpretationstätigkeit als Modifikation einer auf Rationalitätspräsumtionen beruhenden Ausgangstheorie hin zu einer Übergangstheorie beschrieben werden. Diese Modifikation sei ein nicht vollständig methodisier- oder gar formalisierbarer Schritt, zu dem Davidson nicht viel mehr gesagt habe, als dass er Glück und Geschick erfordere – eine Beobachtung, die an die einführend auch von Carlos Spoerhase aufgeworfene Frage nach dem ›philologischen Takt‹ anschloss. Mithilfe des Diltheyschen Verstehenskonzepts nun, so Petraschka, lasse sich genauer bestimmen, worauf es bei diesem Schritt ankommt. Sinnvoll sei hier etwa die Bezugnahme auf psychologische Regelmäßigkeitsannahmen, wie sie eben für das hermeneutische Verstehen kennzeichnend seien.

In mehreren Vorträgen, die sich mit der literaturwissenschaftlichen Interpretationspraxis in der Gegenwart befassten, kam ein Grundzug der aktuellen Situation der Disziplin zur Sprache: die Koexistenz einer Vielzahl von Literaturtheorien und Methoden. Aus praxeologischer Perspektive stellt sich die Frage, welche Rolle literaturwissenschaftliche Praxisformen für die Konstitution und Kohärenz der Disziplin spielen, ob nicht sogar eine Hinwendung zu den Praktiken im Bereich der Geisteswissenschaften zu einer ›stabilisierenden‹ Selbstvergewisserung jenseits theoretischer und methodischer Kontroversen beitragen könnte. Kai Büttner (Berlin) nahm in seinem Vortrag (»Beliebigkeit in der Literaturwissenschaft? Literaturtheorie zwischen Textontologie und Methodenpluralismus«) einen Begriff unter die Lupe, der in Stellungnahmen zu dieser Situation immer wieder begegnet, nämlich den Begriff (oder, wie in der Diskussion vorgeschlagen wurde, die Kampfformel) ›Beliebigkeit‹. Büttner legte dar, dass der gegenwärtig herrschende Methodenpluralismus in der Literaturwissenschaft nicht mit Beliebigkeit gleichzusetzen sei, da dieser Pluralismus nicht die Möglichkeit einer Evaluation von Thesen und Argumenten ausschließe; er wandte sich außerdem kritisch gegen Versuche, dem Methodenpluralismus mithilfe einer Argumentationsstrategie entgegenzuwirken, die er als Ontologisierung bezeichnete: das heißt, mithilfe von Argumentationen, die aus Behauptungen über das Wesen literarischer Texte (etwa: literarische Texte seien Naturphänomene oder literarische Texte seien Kulturphänomene) Aussagen über die allein zulässige Art der Textinterpretation ableiten.

Für eine externe Perspektive, einen ›Blick von außen‹ auf die literaturwissenschaftliche Theorie und Praxis des Interpretierens sorgten die geladenen Wissenschaftsforscher und Wissenschaftsphilosophen. Während Peter Strohschneider (München) wiederholt auf die institutionellen und wissenschaftspolitischen Rahmenbedingungen der textinterpretierenden Wissenschaften hinwies, übernahm die Wissenschaftshistorikerin Christina Brandt (Bochum) die Aufgabe, die Bedeutung des ›practice turn‹ für die laboratory studies und die Wissenschaftsgeschichte nachzuzeichnen und zu veranschaulichen, in welcher Form vor allem in der Darstellung von Wissensansprüchen vermeintlich ›literarische‹ oder besser rhetorische Praktiken zum Einsatz kommen. Im Hinblick auf eine mögliche Übertragung dieser Ansätze auf das Feld geisteswissenschaftlicher Wissenschaftsforschung sprach sie sich in ihrem Vortrag (»Labor und Text – Text als Labor? Thesen zu einem practical turn«) für eine Orientierung an Hans-Jörg Rheinbergers Konzept des ›technischen Dings‹ aus, das im Unterschied zum vagierenden ›epistemischen Ding‹ bereits epistemisch fixierter ist und eine angebbare Funktion für die Herstellung anderer ›Dinge‹ oder für die Konstitution einer Erkenntnis hat. Auch das ›Aufschreiben‹ zählt zu den technischen Seiten eines Experimentalsystems. Brandt sah insbesondere in den Arbeiten von Christoph Hoffmann, in denen das wissenschaftliche Schreiben in Medizin und Botanik als eine heuristische, nicht-zielgerichtete Tätigkeit beschrieben wird, die dennoch letztlich zu wissenschaftlichen Texten führt, als ein für die Geisteswissenschaften appropriierbares Modell an.

Claus Zittel (Berlin) kehrte in seinem Beitrag »›Against Interpretation‹. Close reading in den science studies« dieses Plädoyer gewissermaßen um, insofern er bezweifelte, dass sich die science studies als vorbildhaftes Modell für die Literaturwissenschaften eigneten. Am Beispiel von zwei kanonisierten Studien von Steven Shapin und Peter Dear zeigte er erstens, dass die Protagonisten der science studies ihren eigenen Interpretationsstandards nicht genügen, ihre Bedeutungszuschreibungen theoretisch und methodisch unterreflektiert vornehmen und zu vorschnellen Generalisierungen neigen. Zweitens empfahl Zittel den Literaturwissenschaftlern, sich stärker an Ludwik Flecks Denkstillehre zu orientieren, in der nicht zuletzt auch bereits ein reflektierterer Umgang mit der Sprachlichkeit wissenschaftlichen Wissens, etwa im Hinblick auf die Verwendung von Metaphern, zu finden sei. Die sich anschließende Diskussion kreiste unter anderem um das mutmaßlich zu pauschalisierende literaturwissenschaftliche Bild von den science studies und um die Frage, welche Schwierigkeiten eine Appropriation eines ihrer Konzepte mit sich brächte.

Im Unterschied zu Christina Brandts Plädoyer für eine Übernahme des Konzept des ›technischen Dings‹, konzentrierte sich Steffen Martus (Berlin) in seinem Beitrag auf – so der Titel – »›Epistemische Dinge‹ der Interpretation«, also auf die Dinge, denen in bestimmten lokalen Kontexten die Anstrengungen des Wissens gelten. Dazu rekonstruierte er Rheinbergers Modell des Experimentalsystems und applizierte es auf die Situation des Literaturwissenschaftlers, etwa im Hinblick auf den prozessualen Charakter des Forschens, die funktionale Kopplung von epistemischen Dingen und Praktiken, die Rolle impliziten Handlungswissens und die Selbststeuerung von Forschung. Insbesondere die Bibliothek als ein komplexes, von verschiedenen Dingen, Akteuren und Praktiken konstituiertes Ensemble könnte sich, so seine Vermutung, einer praxeologisch interessierten Literaturwissenschaft als Forschungsgegenstand anbieten.

2. Historische Aspekte des Interpretierens

Einen thematischen Schwerpunkt der Tagung bildete die Analyse älterer Praktiken des Interpretierens und ihrer Beziehungen zu hermeneutischen Theorien und institutionellen Kontexten; die in den Fallstudien behandelten Beispiele stammten aus Epochen von der Antike bis zur Zeit um 1900.

Die Altphilologen Glenn W. Most und Gregor Vogt-Spira stellten jeweils eine Gattung von Interpretationstexten ins Zentrum ihrer Vorträge, nämlich die antike Scholie beziehungsweise die Enarratio poetarum (Dichtererklärung). In einem Abendvortrag mit dem Titel »Hesiods Theogonie in Rom und Byzanz: Umdeutungsstrategien für einen peinlichen Klassiker« arbeitete Glenn W. Most (Pisa/Chicago) am Beispiel von römischen Scholien zu Hesiods Theogonie typische Merkmale dieser Interpretationspraxis heraus und wies dabei auch darauf hin, inwiefern Form und Inhalt der Scholien durch ihren hauptsächlichen Verwendungskontext, den Schulunterricht, geprägt waren. Gregor Vogt-Spira (Marburg/z.Zt. Villa Vigoni) charakterisierte anhand einer Reihe von Vergil-Kommentaren, deren Entstehungszeit zwischen der Spätantike und der Zeit um 1800 lag, verschiedene Ausprägungen und Entwicklungsphasen der »Enarratio poetarum« (so auch der Vortragstitel) und hob dabei ebenfalls die Bedeutung des institutionellen Rahmens dieser Interpretationstexte hervor, die ursprünglich in einen eng mit der Rhetorik verbundenen und wesentlich auf die Schulung der Rede- und Schreibfertigkeit ausgerichteten Grammatikunterricht eingebunden waren. Während Most und Vogt-Spira somit beide die Bedingtheit historischer Interpretationspraktiken durch institutionelle Kontexte, aber auch durch sich wandelnde Dichtungskonzeptionen verdeutlichten, beleuchtete die Altphilologin Constanze Güthenke (Princeton) die Rolle von disziplinären Selbstbildern und den mit ihnen verflochtenen Erkenntniskonzeptionen für die konkrete Ausformung von Interpretationspraktiken. Thema von Güthenkes Vortrag war die Bedeutung von »Emotion und Empathie in der Interpretationspraxis der Klassischen Philologie um 1900«. In den disziplinären Selbstbeschreibungen jener Zeit, so Güthenke, wurde die Antike sehr häufig als eine Person und das Verstehen antiker Texte als eine wesentlich auf Gefühl und Erleben basierende Leistung konzipiert. Die Spannung, die sich zwischen dieser Akzentuierung von Emotion und Empathie einerseits und dem nachdrücklich unterstrichenen Wissenschaftlichkeitsanspruch ergab, prägte auch die Interpretationspraxis jener klassischen Philologen, wie Güthenke am Beispiel von Forschungen Georg Mischs und Ulrich von Wilamowitz-Moellendorffs verdeutlichte.

Der Historiker Philipp Müller (London) ergänzte die Reihe der philologiegeschichtlichen Fallstudien durch einen Beitrag aus der Geschichte der Geschichtswissenschaft, in dem es um »Die Mühen der ›Anschauung‹ des Vergangenen. Briefe, ›Monumente‹ und ›Merkwürdiges‹ während der Forschungsreise Leopold Rankes (1827–1831)« ging. Als Untersuchungsgegenstand dienten Müller die Briefe, mit denen Ranke während seiner Reise, die ihn durch eine Reihe von Archiven führte, seine Augenzeugenschaft beglaubigte, seine Reisetätigkeit legitimierte und sein Forschungsfeld fixierte. Diskussionen entzündeten sich an den Fragen, wie sich das Konzept der Anschauung präzisieren lasse und ob es eher auf Kant oder eher auf Goethe zurückzuführen sei; allgemeine Zustimmung fand dagegen die These, dass die in den Briefen dargestellte Anschauung zum festen Repertoire des um seine Reputation bemühten reisenden Historikers gehöre.

Ähnlich wie Glenn W. Most und Gregor Vogt-Spira untersuchte auch Sandra Richter (Stuttgart) die Entwicklung einer interpretierenden Textform über einen längeren Zeitraum hinweg; in ihrem Fall aber handelte es sich nicht um eine Gattung, die ausdrücklich theoretisiert und methodisch reguliert worden wäre: In einem Beitrag mit dem Titel »Der Bauch des Interpreten. Kondensierte Interpretationen in der Poetik (1770–1960)« verfolgte Richter die Funktionen kurzer, generalisierender Interpretationspassagen, wie sie insbesondere in Poetiken und in Literaturtheorien wiederholt auftreten. Ausgehend von Gottsched über Vischer bis zu Paul de Man zeichnete sie nach, wie sich eine Poetik, die zum Schreiben von Literatur instruieren will, über spekulative Zuschreibungsfunktionen hin zu literaturtheoretischen Darstellungen entwickelt, in denen es nicht mehr um das Schreiben von poetischen, sondern um das Verfassen von literaturwissenschaftlichen Texten und also um die Frage geht, wie man interpretiert.

Über einen besonderen Strang hermeneutischer Theoriebildung und sein spannungsvolles Verhältnis zur philologischen Praxis informierte Marcel Lepper (Marbach). Gegenstand seines Beitrags (»Provenienzheuristik vs. Pertinenzheuristik – hermeneutische Strategien«) waren verschiedene Projekte einer ›hermeneutischen Heuristik‹, also einer Reflexion darüber, wie interpretatorische Probleme festgestellt und die Antworten auf sie gefunden werden können; die von Lepper vorgestellten Entwürfe einer solchen Heuristik stammten größtenteils aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Einen weiteren Schwerpunkt seines Vortrags bildeten die Spannungen, die sich vielfach zwischen den Prinzipien einer solchen hermeneutischen Heuristik und den Ordnungsprinzipien von Archiven – als besonders wichtigen Orten und Instrumenten der philologischen Praxis – ergeben.

3. Interpretationspraxis in der Gegenwart

Eine kleinere Gruppe von Beiträgen widmete sich der Rekonstruktion von Interpretationspraktiken in der aktuellen oder jüngeren Literaturwissenschaft. Lutz Danneberg (Berlin; Vortragstitel: »Das Gespenst der Selbstbezüglichkeit oder Unter welchen Voraussetzungen findet sich bei literarischen Texten Selbstbezüglichkeit?«) untersuchte Kafka-Interpretationen der letzten zwanzig Jahre mit der Absicht, Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten, die es erlauben könnten, von einer geteilten Praxis der Kafka-Interpreten zu sprechen. Als generelle Tendenz sei zunächst zu beobachten, dass in den Interpretationen immer weniger frühere Forschungsarbeiten zitiert werden, wobei die Verfasser auch nur wenige Interpretationen der von ihnen selbst vertretenen theoretischen Richtung zitieren. Wo noch auf andere Arbeiten Bezug genommen werde, geschehe dies meist zu dem Zweck, Bestätigungen für die eigene Interpretation anzuführen, nicht zu dem Zweck, sich mit anderen Positionen kritisch auseinander zu setzen. Ausführlicher diskutierte Danneberg die in den Interpretationen häufig anzutreffenden Thesen, denen zufolge Kafkas Texte selbstbezüglich seien oder sogar eine paradoxale Selbstbezüglichkeit aufwiesen. Diese Thesen, so Danneberg, werden in der Regel unzureichend begründet; so werde in Interpretationen des Texts »Von den Gleichnissen« oft ohne weitere Begründung angenommen, dass der Text selbst ein Gleichnis sei. Dass die methodologischen Probleme solcher Selbstbezüglichkeits-Thesen und des Interpretierens allgemein in den Kafka-Interpretationen kaum wahrgenommen werden, könne darauf zurückzuführen sein, dass die Kafka-Interpreten über eine gemeinsame funktionierende Praxis zu verfügen meinen. Um dies aber als Ausdruck einer gelungenen Interpretationspraxis ansehen zu können, sei es erforderlich, sich über die epistemische Güte der Interpretationen zu einigen oder überhaupt zu klären, worauf diese beruht.

Thema des Vortrags von Olav Krämer (Freiburg i.Br.) waren »Argumentationen in Interpretationen zu Goethes Wahlverwandtschaften: Kontinuitäten und Diskontinuitäten«. Er untersuchte, welche Gemeinsamkeiten und welche Brüche zwischen Interpretationen aus verschiedenen theoretischen Richtungen bestehen und in welcher Form sich Interpreten auf ihre Vorgänger beziehen. Als Folie seiner Fallstudie diente die von mehreren Literaturtheoretikern vorgeschlagene Auffassung, das Verhältnis verschiedener Interpretationstheorien zueinander beruhe auf Unterschieden zwischen ihren Zielsetzungen und den von ihnen fokussierten Textaspekten. Die Interpretationspraxis bietet, wie Krämer anhand der Wahlverwandtschaften-Interpretationen ausführte, häufig ein anderes Bild: Hier finden sich vielfach zustimmende oder kritische Bezugnahmen über Theoriegrenzen hinweg, die darauf schließen lassen, dass die Interpreten durchaus meinen, zumindest teilweise dieselben Ziele zu verfolgen und über dieselben Textaspekte zu sprechen wie Interpreten aus anderen theoretischen Richtungen.

Im Beitrag von Andrea Albrecht (Freiburg i.Br.) ging es unter dem Titel »Metaphorische Extensionen« nicht um Theorie-, sondern um Disziplinengrenzen und Versuche zu deren Überwindung. Sie widmete sich der Rekonstruktion einer Form literaturwissenschaftlichen ›Analogie-Räsonierens‹, die insbesondere innerhalb der literature & science studies zum gängigen, in der Regel stillschweigend praktizierten Verfahrensrepertoire gehört. Als Beispiel diente ihr die ›Chaostheorie‹, die seit den 1990er aufgrund eines forcierten Begriffs- und Methodentransfers Eingang in die literaturwissenschaftliche Beschreibungs- und Interpretationssprache gefunden hat, hier aber zumeist nur zu metaphorischen Extensionen und Neubeschreibungen, nicht aber zu heuristischen Irritationen oder innovativen Fragestellungen oder Ergebnissen geführt hat. Dem Feststellen einer ›interdisziplinären‹ Analogie kommt vielmehr eine argumentative Abschluss-Funktion zu, die Ergebnisevaluationen obsolet erscheinen lässt. Metaphorische Extensionen neigen zur Verselbständigung und tragen so wesentlich zur Ausbildung und temporären Stabilisierung von literaturwissenschaftlicher ›Stimmungskameradschaften‹ im Sinne Ludwik Flecks bei.

4. Didaktische Aspekte des Interpretierens

Zwei Vorträge befassten sich aus didaktischer Sicht mit dem Interpretieren, also mit Praktiken des Vermittelns von interpretativen Fertigkeiten. Claudius Sittig (Rostock; Vortragstitel: »Zur Praxis von literaturwissenschaftlichen Modellinterpretationen«) nahm mit dem Genre der Modellinterpretation eine Textsorte in den Blick, die sich ausdrücklich eine solche Vermittlung von Interpretationskönnen zum Ziel setzt und die schon seit längerer Zeit eine Hochkonjunktur erlebt. Sittig ging es unter anderem darum, die charakteristischen kommunikativen Kontexte von Modellinterpretationen sowie die ihnen zugeschriebenen Funktionen zu analysieren. Im Hinblick auf beide Aspekte sei es wichtig, zwischen verschiedenen Typen von Modellinterpretationen zu unterscheiden, insbesondere zwischen solchen, die in Sammelbänden (meist mit mehreren Interpretationen zu einem Text) vereinigt sind, und solchen, die etwa als Zeitschriftenaufsätze veröffentlicht werden. Vor allem für Sammlungen von Modellinterpretationen sei oft eine Spannung zwischen didaktischen Ansprüchen einerseits und fachinternen Verständigungsversuchen andererseits kennzeichnend; die Interpretationen in solchen Bänden verfolgen oft sowohl die Absicht, literaturtheoretisch-methodologisches Wissen darzustellen und zu vermitteln, als auch die Absicht, theoretische Annahmen und Methoden zu validieren.

Der Beitrag von Dirk Werle (Leipzig) trug den Titel: »Was heißt es, eine Parodie zu verstehen? Perspektiven der Heuristik und der Vermittlung von Interpretationswissen«. Zur Beantwortung der Titelfrage wertete Werle eine Umfrage unter Studierenden aus, mit Hilfe derer am Beispiel eines Auszugs aus Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt eruiert werden sollte, welche Voraussetzungen auf der Seite des Lesers zum Verständnis einer Episode mit parodistischen und komischen Zügen erfüllt sein müssen. Ein Ergebnis lautete, dass die meisten Studierenden, die die in der Textpassage enthaltene Allusion und damit ihren parodistischen Charakter nicht erkannt hatten, den Text gleichwohl verstanden zu haben meinten und kein spezielles Hintergrundwissen für verständnisnotwendig hielten. Für den Lehrenden ergebe sich daraus das Problem, so Werle, wie Studierende im Umgang mit solchen Texten dazu gebracht werden können, sich mit ihrem ersten Verständnis nicht zufrieden zu geben, Auffälligkeiten im Text wahrzunehmen und weitere Frage zu stellen.

Letztlich hat auch diese Tagung die eingangs von Carlos Spoerhase formulierte Frage, ob man durch die intensive Untersuchung des Ensembles von Methoden und Praktiken philologischen Arbeitens irgendwie zur einvernehmlichen ›Solidarität‹ der einen Philologie gelangen oder gar zu einem fundamentalen Konsens geisteswissenschaftlicher Arbeitsformen durchdringen wird, nicht beantworten können. Doch auf dem von Lorraine Daston gewiesenen Weg, Anregungen der Wissenschaftsforschung für eine epistemologische Selbstreflexion der humanities fruchtbar zu machen, ist man ein paar Schritte vorangekommen.

Die Publikation der Beiträge ist geplant.

Dr. Andrea Albrecht und Dr. Olav Krämer

Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS),

School of Language and Literature

Anmerkungen

[1] Lorraine Daston, Whither Critical Inquiry?, Critical Inquiry 30:2 (2004), 361–364, hier 363. [zurück]

2011-11-30

JLTonline ISSN 1862-8990

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