Jonathan Fine/Sarah Skupin/Marcus Willand
Literaturwissenschaftliche Pragmatik:
Geschichte, Gegenwart und Zukunft (sprach-)handlungs-theoretischer Textzugänge
Heidelberger Meisterklasse: »Der Zweck der Werke«. Theoretische Grundlagen und historische Anwendungsfelder der literaturwissenschaftlichen Pragmatik. Internationale Germanistische Meisterklasse, gefördert vom DAAD, 25. Juli bis 6. August 2010.
Mindestens zwei bemerkenswerte Perspektiven führten im Sommer 2010 Doktorandinnen und Doktoranden aus unterschiedlichsten Teilen der Welt zur Heidelberger Meisterklasse – einem neuen Förderungsangebot des DAAD zur Unterstützung »exzellenter Nachwuchswissenschaftler der Germanistik aus dem Ausland« – zusammen: einerseits der Blick aus dem Seminarraum des Palais Boiserée auf die Akademie der Wissenschaften mit dem prominenten Schloss im Hintergrund, und andererseits die Aussicht auf zwei Wochen intensiver Beschäftigung mit den »theoretisch-methodologischen Grundlagen der literaturwissenschaftlichen Pragmatik und ihren paradigmatische[n] Anwendungsfelder[n]«, so die Ausschreibung des Germanistischen Seminars.
Fünfzehn Promovierende aus Deutschland, Indien, Italien, Japan, Kamerun, Österreich, Togo, Ungarn und den USA trafen vor dieser historischen Kulisse auf renommierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Deutschland, Frankreich und den USA. In den Einführungsworten der Veranstalter Helmuth Kiesel und Carsten Dutt sowie in einem Grußwort Roman Luckscheiters, des Referatsleiters Auslandsgermanistik des DAAD und Initiators des Meisterklassen-Programms, wurden die wichtigsten Dimensionen und Konzepte des Projekts einer »literaturwissenschaftlichen Pragmatik« vorgestellt. Die Untersuchung des Handlungsaspekts literarischer Texte betrifft unterschiedliche Analyse-Ebenen, nämlich:
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die der Prozesse (Produktion und Autor[-intention], Rezeption und Leser[-intention], Vermittlung, Gebrauchssituation, Zweckbestimmung, Funktion);
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die der Produkte (Genres, Werke, Interpretationen, Kritiken);
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die der (literarischen und außerliterarischen) Kontexte.
Untersuchungen zur Pragmatik der Literatur können, so Carsten Dutt in seiner Einleitung, Einzeltexte oder Textreihen ins Auge fassen. Dabei können sie synchron oder diachron vergleichend verfahren und makro-, meso- oder mikroanalytisch dimensioniert sein. Das close reading beispielsweise repräsentiert eine mikroanalytische Herangehensweise an die Pragmatik literarischer Texte,
sofern in ihm wissenschaftssprachlich oder bildungssprachlich bereitstehende Handlungs- und speziell Sprachhandlungsprädikate für Bedeutungs-, Zweck- und Funktionsrekonstruktionen genutzt werden: die Erzählung S satirisiert den Sozialzustand Z, um bei ihren Lesern die Überzeugung R zu wecken; die Ode F lobt die Wohlordnung der Schöpfung im großen, des Staates im kleinen und fungiert so als literarischer Legitimitätsausweis der Herrschaftsordnung des Absolutismus; Sonett H parodiert Sonett G und stellt, indem es dies tut, Gs Lehre vom Erlösungssinn der Kunst in Frage.
(Einführung C. Dutt)
Verglichen mit den sprechakttheoretisch so genannten illokutionären Rollen und perlokutionären Effekten einfacher sprachlicher Äußerungen, wie sie uns in Gestalt von Behauptungen, Fragen, Versprechen oder Aufforderungen alltäglich begegnen, sind die pragmatischen Relationen literarischer Texte erheblich komplexer strukturiert. Die literaturwissenschaftliche Pragmatik
sieht sich dementsprechend vor weiter ausgreifende Theoriefragen und komplexere Beschreibungs- und Erklärungsaufgaben gestellt als ihre linguistische Schwesterdisziplin, mit deren Systematisierungsangeboten sie freilich ebenso in einen fruchtbaren Dialog treten sollte, wie sie sich des begrifflichen Horizonts philosophischer und soziologischer Handlungstheorien zu versichern hat.
(ebd.)
Im direkten Anschluss an diese einführenden Überlegungen konnte der Konstanzer Romanist Karlheinz Stierle, der jetzt als Honorarprofessor in Saarbrücken lehrt, das Themenfeld der Meisterklasse weiter konkretisieren. Stierle zeigte in seinem Eröffnungsvortrag »Text, Werk, Handlung. Perspektiven der literaturwissenschaftlichen Pragmatik« auf, dass die literaturwissenschaftliche Pragmatik sich nicht nur um philosophische Fragen der Handlungs- und Sprachhandlungstheorie zu kümmern habe, sondern ebenso gattungs-, diskurs-, und fiktionstheoretische Zusammenhänge beachten müsse. Anhand von Conrad Ferdinand Meyers »Der römische Brunnen«, Eduard Mörikes »Auf eine Lampe« und Peter Handkes »Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27. 1. 1968« konnte er die Transformation elementarer sprachlicher Handlungsschemata in Lyrik veranschaulichen und gleichzeitig die Relevanz des Wissens um diese elementaren Sprachhandlungsmuster für die Interpretation als genuin pragmatischen Beitrag zum Textverstehen betonen. Welche Problemlösungsoptionen die Pragmatik darüber hinaus bereitstellt, wurde am nächsten Tag – tentativ mit Blick auf die zwei folgenden Seminarwochen – mit dem Vortragenden der Einführungsveranstaltung diskutiert. Dabei wurde nochmals die Forderung nach einer präzisieren Differenzierung der Gegenstands- und Methodenbegriffe formuliert, die für die literaturwissenschaftliche Pragmatik unabdingbar sind: Autorabsicht, Textbedeutung, Textfunktion, ›Sitz im Leben‹, Gebrauchssituation, Leserverhalten, Rezeptionsgeschichte etc.
Nicht ungeschickt situiert folgte auf diese die Leitfragen der Meisterklasse aufwerfende Sitzung die Vorstellung der einzelnen Arbeitsprojekte der TeilnehmerInnen. Deren Diversität verdeutlichte gleich zu Beginn, dass für eine (unmittelbar) zukünftige Germanistik die Einschränkung des Themenkomplexes Pragmatik, wie etwa auf die Arbeiten der ordinary language philosophy oder der Untersuchung der pragmatischen Relation literarischer Texte im Rahmen einer historischen Literaturwissenschaft, problematisch erscheint. Die Einzelprojekte stellten, wenn auch auf je unterschiedliche Weise, einen hohen, aber durchaus einlösbaren Problemlösungsanspruch an pragmatische Theorieansätze. Die dabei bestellten Forschungsgebiete bezogen sich unter anderem auf kommunikationswissenschaftliche, literatur- und kulturwissenschaftliche, dichtungsgeschichtliche und wissenschaftshistorische Fragestellungen. Die Arbeiten, ihre gegenstandsorientierten Zugänge sowie ihre methodischen Ausrichtungen, wiesen empirische und induktive Forschungsdesigns zu Literatur, Kunst und Kultur, Begriffsgeschichte, Geschichtswissenschaft und aktueller Politik auf: Eine Untersuchung der wechselseitigen Rezeption deutscher und italienischer Kulturzeitschriften in der Zwischenkriegszeit fand sich ebenso darunter wie ein neuer Grundlegungsversuch zur historisierenden Rezeptionsanalyse. Während das Zeitschriftenprojekt etwa Übersetzungen und Übersetzungsprobleme als Fragen der Pragmatik identifizieren konnte, versuchte die rezeptionswissenschaftliche Arbeit, Handlungsprädikate, die man dem Text zuschreibt, genau zu bestimmen. Ideengeschichtliche und literaturgeschichtliche Studien über die Würde des Menschen, das deutsche Geschichtsdrama der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und die Rezeption der Weimarer Klassik in der österreichischen Literatur des 19. Jahrhunderts stellten andere Fragen an die Pragmatik. So zum Beispiel, ob in der Zeit der stärkeren Ausdifferenzierungsprozesse von Kunst (und Literatur) die Handlungen im Dramentext oder auf der Bühne ebenso als Handlungen der Stücke selbst verstanden werden können; andere Projekte galten der Wassersymbolik in Goethes lyrischem Schaffen, dem europäisch-afrikanischen Kulturdialog, Gottfried Benns Prosa, Ingeborg Bachmanns Entgrenzungspoetik und Friedrichs Dürrenmatts Tragikomödien. Fragen der Pragmatik richteten sich hier etwa auf die Bedeutung von Autorenbiographien für die Analyse ihrer Werke und suchten sie im Sinne einer Handlung an der Grenze zwischen Text und Kontext neu zu stellen. Andere wiederum beschäftigten sich mit dem Konzept der Kohärenz als verstehenstheoretischem und literaturdidaktischem Grundbegriff, mit der Herausbildung einer öffentlichen Streitkultur in Deutschland im Zeitalter der Aufklärung und der literaturgeschichtlichen Signifikanz des Koselleckschen Begriffs der Sattelzeit. Während die kulturwissenschaftlichen Arbeiten die literaturwissenschaftliche Pragmatik eher als soziale und kulturgeschichtlich interpretierbare Handlung systematisierte, berührten die begriffsgeschichtlichen Arbeiten die Frage der Nachträglichkeit der Semantik. Daran anknüpfend stellt sich für die Literatur ganz allgemein die Frage, ob sie gesellschaftliche Prozesse nachträglich beschreibt oder Begriffe bereitstellt und in diesem Sinne in gesellschaftliche Prozesse eingreift.
Am Abend des zweiten Tages wurde die Relevanz pragmatischer Fragestellungen durch Elisabeth Décultot (École Normale Supérieure, Paris) anhand einer historischen Stichprobe eindrucksvoll vor Augen geführt. In ihrem Vortrag »Von der Seelenkunde zur Kunsttheorie. Zur Entstehung von Johann Georg Sulzers Ästhetik« untersuchte sie die Entstehung von Sulzers Interesse an der neuen Wissenschaft der Ästhetik ausgehend von seinen frühen psychologischen Studien. Im Zentrum von Sulzers Interessen standen ursprünglich die Seelenkunde und ganz besonders die Funktion des Empfindungsvermögens, das von ihm zu einem selbständigen, machtvollen Vermögen aufgewertet wurde. Sulzers Vorhaben, eine Allgemeine Theorie der schönen Künste (1771-1774) zu schreiben, ergab sich also direkt aus diesen frühen psychologisch-philosophischen Untersuchungen. Im Laufe seiner Arbeiten zur Seelenkunde ist Sulzer dann allmählich zu der Erkenntnis gekommen, dass das beste Erziehungsmittel für das Empfindungsvermögen die Künste seien. Die wesensmäßige Verbindung von Kunst und Empfindung hat zunächst einmal in Hinsicht auf die Produktion von Kunstwerken bedeutende Konsequenzen: In einigen Artikeln der Allgemeinen Theorie wird der Gedanke formuliert, dass nur der empfindende Künstler dem wahren Begriff der Kunst gerecht werden und daher zum Schönen gelangen kann. Aber auch auf die Rezeption von Kunstwerken wirkt sich die wesensmäßige Verbindung von Kunst und Empfindung aus: der Hauptzweck der schönen Künste besteht keineswegs darin, uns zu unterrichten, sondern uns zu rühren oder »in Empfindung zu setzen«, wie Sulzer schreibt. All diese tiefgreifenden Umwälzungen in der philosophischen Grundlegung der Kunst haben natürlich auch wichtige Änderungen in der Einschätzung und Einordnung der einzelnen Künste mit sich gebracht. Am Ende seines Artikels »Künste« entwirft Sulzer ein System der Künste, das logischerweise auf der Beschaffenheit des Empfindungsvermögens basiert. Die Künste (Poesie, Malerei, Skulptur, usw.) werden somit auf den jeweiligen Sinn zurückgeführt, aus dem sie entstanden sind, bzw. dem sie am meisten ansprechen.
Die folgenden zwei Sitzungen standen im Zeichen zweier Einführungen in die philosophischen und linguistischen Grundlagen einer textpragmatisch reflektierenden Theoriebildung. Sie erfüllten ihren Zweck, zu Beginn der Tagung das teilweise stark variierende Vorwissen der Teilnehmer zu egalisieren. Dieter Teichert (Konstanz) erläuterte die Unterscheidung zwischen einer allgemeinen Pragmatik (Handlungstheorie) und der Sprachpragmatik (Theorie der Sprachhandlungen). Die allgemeine Pragmatik untersucht den Begriff der Handlung (in Abhebung vom Begriff des Ereignisses). Dabei werden die Konzepte des Handlungssubjekts, der Handlungsgründe (Intentionen), der Vollzugsmedien, der Ziele und der Interaktionspartner analysiert. Grundlegend für die Handlungstheorie sind die Unterscheidungen von Freiwilligkeit/Unfreiwilligkeit, Absichtlichkeit/Unabsichtlichkeit sowie das Konzept des Handelns unter Zwang. Die Sprachpragmatik behandelt Sprachhandlungen und ihre Regeln. Im Bereich der Textwissenschaften werden die Textproduktion und die Textrezeption als Handlungsweisen untersucht. Gattungstheoretische und textsemantische Fragen werden damit in textpragmatische Fragestellungen transformiert. Eine aus der allgemeinen Handlungstheorie übernommene Einsicht kann dabei für die Textinterpretation von Bedeutung sein: Unterlassungen (›x unterlässt es, den Ertrinkenden zu retten‹) sind ebenso Handlungen wie positive Handlungsvollzüge (›x rettet den Ertrinkenden‹). In Analogie dazu kann der Verzicht auf ein bestimmtes Sprachhandlungsmuster, eine bestimmte gattungsspezifische Konvention usw. innovativ und für die Bedeutung eines literarischen Texts zentral sein.
Marcus Müller (Heidelberg) trug zur Klärung der grundlegenden Begriffe und Untersuchungshinsichten bei, indem er nach den »Leistungen und Grenzen der linguistischen Pragmatik« fragte. Er fächerte dabei vergleichend linguistische und sprachphilosophische Theorien auf: von Austins und Searles speech act theory bis zu Grices Theorie der Konversationsmaximen und konversationellen Implikaturen.
Erprobt werden konnte das so gewonnene Grundlagenwissen in dem unmittelbar anschließenden Seminar »Zur literaturwissenschaftlichen Relevanz von Gattungsaspekten. Systematische Überlegungen am Beispiel der Tragödie« von Mark W. Roche (University of Notre Dame). Er warf die Frage auf, inwiefern gattungstheoretische Aspekte für eine literaturwissenschaftliche Pragmatik relevant sind. Diskutiert wurde zum einen, wie sich Gattungsfragen auf der Ebene der Werkästhetik selbst stellen. Gattungskonventionen stagnieren nicht, sie sind beweglich und werden oft mit den Regeln anderer Gattungen gemischt. Auf diese Weise entstehen neue Gattungen und Subgenres. Andererseits sind Gattungsentscheidungen Teil des Produktionsprozesses. In einer Literaturwissenschaft, die sich als Pragmatik begreift, sich also für den Handlungsaspekt literarischer Texte und Textreihen interessiert, richten sich die Fragen implizit oder explizit an den Verfasser und seine produktionsleitenden Absichten. Doch gerade in diesem Sinne muss das Kunstwerk immer als autonomes Ganzes betrachtet werden, weil bestimmte Aspekte sich überhaupt erst durch die gewählte Gattung realisieren. Gattungsfragen müssen also zum einen die Intentionalität des Verfassers auf der Ebene der Produktion problematisieren, sie sollten zum anderen das werkästhetische Problem von Form und Inhalt berücksichtigen.
Neben der vollständigen Moderation des zweiwöchigen Kurses hielt Carsten Dutt eine Sitzung zum Thema »Theorieressourcen der Tradition: Sprachhandlungsbegriffe der Rhetorik und der literarischen Hermeneutik«. Beide Traditionen textbezogener Theoriebildung gehen von der intentional verbürgten und jeweils situativ verankerten Zweckbestimmtheit ihrer Gegenstände aus. Anhand des rhetorisch-hermeneutischen Begriffs des Skopus, der in theoriegeschichtlich unterschiedlichen Akzentuierungen das Ziel einer Rede bzw. eines (dichterischen) Textes meint, systematisierte Dutt die Beschreibungsmöglichkeiten einer auf Wirkungsabsichten und Wirkungsmittel, kommunikative Funktionen und Effekte fokussierenden Literaturbetrachtung.
Das zweite Seminar von Mark Roche stand unter dem Titel »Proleptische Auslegungskunst am Beispiel von Gottfried Benns Gedicht ›Verlorenes Ich‹«. Nachdem Roche den argumentationstechnischen Begriff der Prolepse als Vorwegnahme und Prüfung möglicher Einwände gegen die eigene Interpretation eines Textes eingeführt und den Wert dieses Verfahrens für die literaturwissenschaftliche Pragmatik erläutert hatte, bekamen die TeilnehmerInnen Gelegenheit, die proleptische Auslegungskunst unmittelbar anzuwenden: Ihnen wurden verschiedene Standpunkte der Interpretation von Benns Gedicht zugewiesen, die sie in ihrem Für und Wider, ihren Stärken und Schwächen erwägen und mit dem Plenum diskutieren sollten. Auf diese Weise gelang es, möglichst viele Bedeutungen zu erschließen und zugleich die je eigenen Beobachtungen am Text zu kontrollieren. Außer einer kontroversen Debatte über die angemessenste Lektüre des umstrittenen Gedichts hatte diese Aspektanalyse der Pragmatik ihrerseits ein pragmatisches Ziel: Roche bat die jungen Wissenschaftler darum, ihre intellektuellen Fähigkeiten durch offene Zugänge und Interpretationen zu verbessern; eine Anspielung auf die Rolle der Intuition des Literaturwissenschaftlers, die im bilanzierenden Schlussteil der Meisterklasse noch einmal zentral fokussiert wurde.
Zum Ende der ersten Woche ermöglichte Fritz Peter Knapp (Heidelberg) nach der bereits diskutierten Gattungsgeschichte eine eingehendere Beschäftigung mit historischen Fragestellungen: Er dozierte am Beispiel von Liedern Reinmars des Alten und Walthers von der Vogelweide zur »Thematik und Pragmatik des Minnesangs«. Die Erörterung der gesellschaftlichen Position und Funktion des Minnesangs als eines wesentlichen Bestandteils der Selbstdarstellung höfischen Lebens konkretisierte die bisher gewonnenen, eher theoretischen Einblicke der vorigen Tage in die literaturwissenschaftliche Pragmatik.
Die zweite Woche begann mit einem Seminar Helmuth Kiesels zur »Hofkritik im 17. und 18. Jahrhundert: Formen und Funktionen eines literarischen Handlungstyps«. Unter anderem anhand eines Auszugs aus Andreas Gryhius’ Papinian diskutierte er Handlungsaspekte literarischer Hofkritik und ihrer idealisierenden Pendants in den Fürstenspiegeln. In seinem Seminar wurde deutlich, in welche Handlungsanforderungen oder gar Handlungsnöte der Höfling in der Zeit des Absolutismus geriet. Gryphius’ Schultheater sah es als eine seiner Aufgaben, den Politicus auszubilden, ihm seinen Actus am Hof zu lehren und unmittelbar einzuüben. Durch das Theater eignete sich der Höfling den Umgang mit den stets instabilen Gesetzen am Hofe an, um sich so im Sinne von Lipsius’ Beständigkeitspostulat als kluger, geschickter und sittlich integerer Hofmann zu erweisen. Die Literatur stellte sich hier sowohl idealisierend als auch kritisch, in jedem Fall mit ganz konkreten Bezugnahmen oder Gegenentwürfen zum Zeitgeschehen. Sie reagierte mit eigenen Angeboten für den, der in der Politik überleben wollte. Unter dem Signum der Prudentia trat die Literatur dezidiert als Bildungsinstanz auf. Über diese konkrete Agenda hinaus wird aber zugleich deutlich, dass Literatur eine eigene Weltdeutung beanspruchte. So entwickelte sie einen Kommentar auf die Höfe, deutete diese als die Hölle und stellt ihr die Idylle des Landlebens gegenüber. Sie bot also selbst Gegenmodelle an, für die die Frauenzimmergespräche Harsdörffers nur ein Beispiel sind.
Norbert Groeben (Köln/Mannheim) zeigte in seinem Seminar »›Und die Moral von der Geschicht’?‹ Das Problem der (Text-)Botschaft als Autor-, Werk- oder Leser-Kategorie (am Beispiel der Judenbuche)« auf, dass die pragmatisch orientierte literaturwissenschaftliche Analyse (mit dem Ergebnis der Bestimmung des Handlungssinns eines Textes in angebbaren Kontexten) immer eine intensive Textarbeit voraussetzt. Im interaktiven Austausch mit den Meisterschülern näherte er sich der Antwort auf seine leitende Frage, ob die Botschaft eines Textes als Autor-, Werk-, oder Leserkategorie aufzufassen sei. Dabei rekonstruierte er die Intentionalitätsbegriffe dieser drei Interpretationskategorien und untersuchte systematisch die Tragfähigkeit der Interpretationsresultate der jeweiligen Intentionsbegriffe anhand der Judenbuche. Da der enge autorbezogene Interpretationsbegriff der Bedeutungskomplexität literarischer Texte nicht gerecht wird, kann dies nur eine Kombination der weiten Intentionsbegriffe von Text und Leser leisten. Es empfiehlt sich daher, so Groeben, die »(empirische) Rezeptionsvielfalt für die Sinn(re)konstruktion der Textbotschaft zu nutzen, allerdings unter Rückgriff auf ein close reading des Textes, das sichern kann, welche Rezeptionsvarianten (adäquat) vom Text bedingt bzw. ausgelöst werden« (Seminarvorlage Groeben).
Bernhard Fischer, Direktor des Goethe- und Schiller-Archivs in Weimar, griff am Folgetag die Frage nach dem Handlungsaspekt für »Das Literaturprogramm der Weimarer Klassik« auf. Als Kenner der Verlagsgeschichte der Horen wies er insbesondere das Editorial der Zeitschrift Schillers und Cottas als einen strategischen Text aus. Das Projekt ist neben dem Bildungsideal Goethes und Schillers ganz offensichtlich programmatisch im klassischen Sinne ex post. Ideengeschichtliche Aspektanalysen wie auch eine genaue Kenntnis der Moralphilosophie der Zeit helfen, so Fischer, die Horen als eine schroffe Abgrenzung zum Zeitgeschehen zu verstehen. Vor allem aber gelte es, ihren Charakter der Selbstverständigung auf der Ebene der Werkästhetik ganz ernst zu nehmen. Die Autonomie der Literatur, die sich gegen das Tumultarische der Geschichte abgrenzen will, lässt sich demnach besonders gut erschließen, wenn man die Handlungsprädikate der Verfasser mit in den Blick rückt. Das setzt voraus, dass die Pragmatik einerseits die Kontexte des Programms, andererseits aber auch ihren ästhetischen Anspruch berücksichtigt.
Literarischen Texten Sprachhandlungsprädikate wie ›ironisieren‹, ›parodieren‹, ›affirmieren‹ oder ›in Frage stellen‹, zuzuschreiben ist besonders dort eine schwierige Aufgabe, wo die Texte selbst mit den einschlägigen Zuordnungen, Unterscheidungen und Alternativen spielen. Aus dieser Perspektive sind die Athenäums-Fragmente, in denen Friedrich Schlegel sein Programm einer Transzendentalpoesie exponiert hat, besonders interessant. Carsten Dutt und Bernhard Fischer diskutierten in ihrem Seminar »›…in sich selbst vollendet wie ein Igel‹. Ästhetik und Pragmatik des Fragments bei Friedrich Schlegel und Novalis Fragmente« die ihren Fragmentcharakter ausdrücklich metatextuell reflektieren. Dabei geben die Fragmente einen mehrdeutigen Kommentar zu ihrer eigenen Form und den mit ihr verbundenen Kommunikationsabsichten ab: Ihre Selbstbeschreibung, so das Fazit der teilweise kontroversen Debatte zwischen Fischer und Dutt, oszilliert zwischen der Affirmation und der ironischen Negation des Ideals organischer Werkgeschlossenheit.
In die jüngste Vergangenheit führte Sandra Kluwe (Heidelberg) in ihrer Sitzung: »›Es lebe der König!‹ – Sprachlicher Widerstand als Handlungsform moderner Dichtung«. In seiner Büchnerpreis-Rede »Der Meridian« unternimmt Paul Celan, so die Dozentin, den Versuch einer Antwort auf das Diktum Adornos, nach Auschwitz könne es keine Dichtung mehr geben. Celan entwickle in der Sprache der Täter und im Zitat Büchners, wie überhaupt noch Kunst möglich sei und wie über sie gesprochen werden könne und dürfe. Für den Fragezusammenhang der historischen Anwendungsfelder der literaturwissenschaftlichen Pragmatiker erwies sich die Büchnerpreis-Rede als komplexes Fallbeispiel. An ihr ließen sich eine Vielzahl sprachlicher Möglichkeiten und sprachlicher Grenzen aufzeigen. Dabei berührte Kluwe auch den Aspekt einer Ethik der Kunst, mit der Celan seine Leser zugleich auf eine Ethik des Verstehens verpflichtet.
In der letzten Sitzung, »Die Weltkriegsromane der Weimarer Republik: Zur bewusstseinspolitischen Pragmatik eines umkämpften Genres«, dozierte der Stuttgarter Historiker Wolfram Pyta. Stark interdisziplinär ausgerichtet betonte er, dass die Geschichtswissenschaft von der Literaturwissenschaft und ihrer Fokussierung des Qualitativen (der inneren Erfahrung) als wichtige methodische Erweiterung der quantitativen Rekonstruktion (von äußeren Tatsachen) profitieren könne. Andererseits könne keine historisch arbeitende Literaturwissenschaft, besonders keine pragmatisch orientierte, das Sinnangebot eines Textes aufnehmen, ohne zuvor etwa den Historiker, Soziologen oder Politikwissenschaftler konsultiert zu haben. Anhand der Kriegsliteratur der Weimarer Republik machte Pyta deutlich, wie sehr die vor allem auch literarisch transportierte Idee der »Schützengrabengemeinschaft der Frontkämpfer« die historisch-faktischen Anforderungen an Herrschaftslegitimation von Repräsentation zu Teilhabe verschoben hat und so die Veränderungen der kulturell-ideologischen Voraussetzungen für den politischen Machtwechsel von 1933 unterstützte.
Bilanzierend lässt sich festhalten, dass gerade die unterschiedliche Herkunft der Teilnehmer zu kontroversen Diskussionen führte: Es trafen sehr unterschiedliche Initiationsniveaus pragmatikbezüglicher Vorkenntnisse aufeinander. Angesichts der für Theoriegebäude selten gänzlich zu klärenden (für diese Veranstaltung aber immerhin Titel gebenden) Grenzziehungsschwierigkeiten reüssierte die internationale Zusammenarbeit besonders durch Schärfung des individuellen Problembewusstseins. Die genannten Abgrenzungs- und Definitionsprobleme konnten so nicht als subjektives Ungenügen, sondern als objektives Problem einer Theoriebildung im Zeichen der Pragmatik herausgestellt werden. Dies bedeutete jedoch nicht, dass die anfangs zur Aufgabe gestellte präziser Differenzierung der Gegenstands- und Methodenbegriffe nicht für jeden der Teilnehmer individuell gelöst werden konnte. Norbert Groeben brachte lakonisch auf den Begriff, was er, die Organisatoren Dutt und Kiesel wie die anderen Dozenten in den lehrreichen zwei Wochen bei jedem einzelnen der Teilnehmer in Sachen Pragmatik zu evozieren wussten: eine für jede literaturwissenschaftliche Arbeit unerlässliche präzise Intuition.
Jonathan Fine
University of California, Irvine
Sarah Skupin
Universität Bielefeld
HU Berlin
2010-12-08
JLTonline ISSN 1862-8990
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