Dirk Werle

Netzwerk Fiktion – ein philologisches Forschungsprojekt zur Theorie und Geschichte der Fiktionalität

Netzwerk Fiktion. Erstes und zweites Arbeitstreffen. Freie Universität Berlin, 5. und 6. Juni 2009; 11. und 12. Januar 2010.

Mit der Rolle der Fiktionstheorie in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft ist es eine merkwürdige Sache. Einerseits wird die Theorie der Fiktionalität von Literaturwissenschaftlern als etwas so Zentrales betrachtet, dass sie in Rudimenten Bestandteil jeder universitären Einführung in die Literaturwissenschaft ist; andererseits gibt es bis heute im deutschsprachigen Bereich kein instruktives, in die Thematik einführendes Lehrbuch, wie das etwa für Theorien literarischer Makrogattungen wie die Erzähltheorie und die Lyriktheorie oder auch für Theorien literarischer Verfahren, allen voran die Metapherntheorie, der Fall ist. [1]

Aber nicht nur im Bereich der Handbuchwissenschaft, auch im Bereich der Zeitschriftwissenschaft [2] hat sich die Fiktionstheorie in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft nur sehr vereinzelt zu einem veritablen Forschungsfeld entwickeln können. Den beeindruckenden literaturtheoretischen Tagungsbänden der letzten Jahre zur Theorie der Autorschaft, der Bedeutung und der Spezifik des Literarischen [3] ist bislang nichts Vergleichbares zu Fragen der Theorie der Fiktionalität als einem der zentralen Charakteristika literarischer Rede an die Seite getreten. Das mag mit den mitunter schwer überwindbaren Sprachgrenzen in der internationalen Wissenschaftskommunikation zu tun haben. Die reichhaltige internationale Forschungsdiskussion zur Fiktionstheorie hat in den letzten Jahrzehnten beeindruckende Ergebnisse gezeitigt; viele der wichtigen neueren englischsprachigen Monographien zum Thema, etwa Kendall Waltons Mimesis as Make-Believe oder Peter Lamarques und Stein H. Olsens Truth, Fiction, and Literature, liegen aber nicht in deutschsprachiger Übersetzung vor. [4]

Auch die internationale Debatte zur Theorie der Fiktion ist jedoch durch ›Sprachgrenzen‹ geprägt; Grenzen nämlich zwischen den Sprachspielen unterschiedlicher Theorieschulen. Neben der großen Sprach- und Wahrnehmungsgrenze zwischen anglophon-analytischen Schulen auf der einen Seite und dem komplexen Feld kontinentaler Theoriebildung auf der anderen Seite treten kleinräumigere Ausdifferenzierungen im Bereich analytischer Fiktionstheorien: Possible Worlds-Theorien (Lubomír Doležel, Thomas Pavel, Ruth Ronen) auf der einen, Sprechakt- und ›Spiel‹-Theorien (John R. Searle, Kendall Walton, Gregory Currie) auf der anderen Seite. Dabei machen letztere in besonders prononcierter Weise auf den Umstand aufmerksam, dass Fiktionalität nicht als Eigenschaft eines Artefakts, sondern als Weise des Umgangs mit dem Artefakt verstanden werden sollte.

Unter anderem aufgrund dieser vielschichtigen Verständigungsprobleme sind viele der basalen Fragen der Fiktionstheorie bis heute nicht zufrieden stellend geklärt: Wie unterscheidet man Fiktion und Nicht-Fiktion? Wie ist das Verhältnis von Fiktion und Realität beschaffen, wie das von Fiktion und Wahrheit? Gibt es Signale oder gar Merkmale der Fiktion? Gibt es Grade der Fiktionalität? [5] Ein umfassendes Handbuch, das den Weg durch das Dickicht der Forschungen zur Theorie der Fiktionalität weist, existiert bislang nicht.

Ähnlich stellt sich die Situation dar, wenn man auf die Erforschung der Geschichte der Fiktionalität schaut: Es gilt als ausgemacht, dass die moderne Kategorie der Fiktion eine Geschichte hat und zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich konzipiert wurde. Über die genauere Beschaffenheit dieser Geschichte ist jedoch noch relativ wenig bekannt, wenngleich in zum Teil bereits älteren, zum Teil neuen, wegweisenden Studien Grundzüge der historischen Dimension des Fiktionalitätskonzepts beschrieben wurden. [6]

An der Beantwortung der offenen Fragen und an der Behebung der skizzierten Verständigungsprobleme arbeitet das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierte wissenschaftliche Netzwerk Fiktion. Es wird geleitet von dem Berliner Literaturwissenschaftler Remigius Bunia und versammelt in regelmäßigen Arbeitstreffen Neu- und Altphilologen sowie Mediävisten aller Philologien (mit einem Schwerpunkt in der Germanistik), um die umrissenen Probleme zu diskutieren und Lösungen zuzuführen. Die im Netzwerk bearbeiteten Teilprojekte befassen sich mit dem Begriff der Fiktion und seinen Teilaspekten in der Antike und im Mittelalter, mit Formen der Fiktionalität scheinbar nicht fiktionsfähiger medialer Bereiche und formaler Verfahren (akustische Analogaufzeichnungen, Rhythmik), mit den Grenzen der Fiktion gegenüber der Nicht-Fiktion in Grenzfall-Textsorten – historiographisches Erzählen, Ratgeberliteratur, Jenseitsberichte – sowie mit dem Verhältnis von Fiktion und ihren Gegenbegriffen oder auch Teilaspekten: Fiktion und Darstellung, Fiktion und Wahrscheinlichkeit, Fiktion und Dokument, Fiktion und Räumlichkeit.

Beim ersten der bisherigen zwei Arbeitstreffen im Juni 2009 wurde mit der Vorstellung der innerhalb des Netzwerks bearbeiteten Projekte begonnen, und es wurden damit verbundene Fragen diskutiert: Alexander Bareis (Lund) argumentierte für die Notwendigkeit einer genaueren Bestimmung des Verhältnisses von Fiktionstheorie, Kognitionswissenschaft und Erzähltheorie und machte erste Vorschläge in dieser Richtung. Lars Korten (Kiel) zeigte, dass und inwiefern es – vor allem im Bereich der Lyrik – Phänomene wie Fiktion durch Rhythmik gibt, also eine Weise, wie Fiktion nicht durch den Inhalt des Beschriebenen und/oder Erzählten, sondern bereits durch bestimmte Eigenschaften der Textgestalt hergestellt wird, die gelegentlich als ›Überstrukturiertheit‹ beschrieben worden sind. [7] Timo Reuvekamp-Felber (Köln) machte anhand der Untersuchung eines hinsichtlich der Frage nach Fiktionalität so uneindeutigen Texts wie Heinrichs von München Weltchronik (14./15. Jh.) plausibel, in welchen Punkten sich das spätmittelalterliche Verständnis von ›Fiktionalität‹, insbesondere im Hinblick auf Verfahren der Fiktionalisierung und Defiktionalisierung, von modernen Vorstellungen unterscheidet.

Beim zweiten Arbeitstreffen der Gruppe im Januar 2010 wurden die Diskussionen um systematische und historische Fragen der Fiktionalität ausgehend von weiteren Projektvorstellungen aufgegriffen und weitergeführt. Carlos Spoerhase (Berlin) fragte nach der hermeneutischen Funktion von ›fiktionalen‹ Kategorien in der Literaturtheorie, insbesondere in der Theorie der Autorintention (›postulated author‹, ›implied author‹, ›hypothetical author‹, ›fictional author‹), und danach, ob es sich tatsächlich um fiktive Entitäten im engeren Sinne handelt oder doch um anthropomorphisierte Hypothesenbündel. Er zeigte, dass die bisherige Verwendung innerhalb der Literaturtheorie in der Regel zwischen einer realistischen und einer anti-realistischen Konzeption dieser Kategorien schwankt und deshalb meist nicht ohne größeren Rekonstruktionsaufwand kritisierbar ist.

Mark Chinca (Cambridge) untersuchte in einem Gastvortrag Ulrichs von Liechtenstein Frauendienst (13. Jh.) mit Blick auf die Frage, wie die in diesem – nach modernen Kategorien – zwischen Fiktionalität und Nicht-Fiktionalität schwankenden Text enthaltenen fiktiven Ele-mente beschaffen sind, inwiefern man den Text als literarisches Werk bezeichnen kann und wie weit es sich um einen fiktionalen Text handelt. Mit Blick auf die textsortenspezifische Art der Referenz auf Realität zeigte Chinca, dass der Leser mit einem modalisierten Geltungsanspruch rechnen muss: Texte wie der Frauendienst – und fiktionale Texte allgemein – sind dadurch ausgezeichnet, dass die darin vorkommenden Gegenstände ›aspektivisch‹ dargestellt werden und dass daher ihre Bezeichnungen keine volle Extensionalität besitzen. Wenn, so Chincas Beispiel, der Ortsname London in einer fiktionalen Äußerung erscheint, dann wird insofern eine der Bedingungen von Extensionalität erfüllt, als etwas existiert, das der sprachlichen Bezeichnung entspricht – die reale Stadt London. Allerdings ist im Falle der fiktionalen Äußerung eine weitere Bedingung nicht erfüllt: »die prinzipielle Ersetzbarkeit des referenziellen Ausdrucks durch jede andere gleichwertige Bezeichnung bei Bewahrung des Wahrheitsgehalts der Aussage«.

Remigius Bunia (Berlin) fragte, wie sich das Verhältnis von Fiktion und Darstellung differenziert beschreiben lässt. Er argumentierte dafür, Fiktion als eine besondere Form der Darstellung im Sinne einer Herstellung von Präsenz zu bestimmen. Dazu ist es erforderlich, den Begriff der Darstellung terminologisch neu zu bestimmen, und zwar medientheoretisch als Beschreibung von – nicht psychologisch, sondern semantisch verstandenem – Erleben. Bunia erläuterte diese Terminologie mit einem Beispiel: Eine gefüllte Tasse Kaffee sei eine Beschreibung des Einschenkens von Kaffee. Fiktion lässt sich vor diesem Hintergrund beschreiben als Darstellung mit einem gegen die reale Welt abgegrenzten ›Gültigkeitsbereich‹. Die Abgrenzung erfolgt nach Bunia mittels bestimmter Formen der ›Rahmung‹, die den Rezipienten veranlassen, den vorliegenden Text als fiktional zu lesen.

Die Ergebnisse der bisherigen Diskussionen werden auf folgenden Treffen, jeweils auch – wie bereits geschehen – unter Hinzuziehung von Experten für bestimmte Teilbereiche der Themenstellung als Gästen, weiter vertieft und nach Abschluss der Projekte einer interessierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Ziel ist es, die im deutschsprachigen Bereich seit einiger Zeit stagnierenden und ›ausfransenden‹ Forschungsdiskussionen zur Fiktionalitätsproblematik zu bündeln, entscheidend voranzubringen und so Vorarbeiten für das bislang fehlende Lehr- und Handbuch zu liefern, das die Grenzen der angezeigten Schuldiskussionen überschreitet.

Dr. Dirk Werle

Universität Leipzig

Institut für Germanistik

Anmerkungen

[1] Die vorzügliche Dissertation des Netzwerkmitglieds Frank Zipfel, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität: Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft, Berlin 2001, hat in den letzten Jahren diese Lücke ausfüllen müssen – ein Lehrbuch ist sie jedoch nicht und will es wohl auch nicht sein. [zurück]

[2] Die Unterscheidung nach Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv [1935]. Mit einer Einleitung hg. von Lothar Schäfer und Thomas Schnelle, Frankfurt a. M. 1980, 146–164. [zurück]

[3] Vor allem Fotis Jannidis u.a. (Hg.), Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, Tübingen 1999; ders. u.a. (Hg.), Regeln der Bedeutung. Zur Theorie der Bedeutung literarischer Texte, Berlin/New York 2003; Simone Winko u.a. (Hg.), Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen, Berlin/ New York 2009. [zurück]

[4] Peter Lamarque/ Stein H. Olsen, Truth, Fiction, and Literature. A Philosophical Perspective, Oxford 1994; Kendall L. Walton, Mimesis as Make-Believe. On the Foundations of the Representational Arts, Cambridge; Mass./London 1990. [zurück]

[5] Diesen Fragenkatalog stellte Alexander Bareis (Lund) in seinem Einführungsvortrag beim ersten Arbeitstreffen des Netzwerks Fiktion vor. [zurück]

[6] Für reichhaltige Literaturhinweise vgl. die Netzwerk-Homepage http://www.netzwerk-fiktion.de. [zurück]

[7] Vgl. den einflussreichen Überblicksbeitrag von Jürgen Link, Elemente der Lyrik, in: Helmut Brackert/Jörn Stückrath (Hg.), Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs, Reinbek 1992, 86–101. [zurück]

2010-03-29

JLTonline ISSN 1862-8990

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