Jan Borkowski und Katharina Prinz

Die Literatur und ihre Sozialgeschichte.

Probleme und Perspektiven

Über Vergangenheit und Zukunft einer Sozialgeschichte der Literatur. Symposium des Promotionskollegs VolkswagenStiftung »Wertung und Kanon« in Zusammenarbeit mit der Göttinger Arbeitsstelle für Theorie der Literatur. Göttingen, 20.11.-21.11.2009.

Dass mit dem Erscheinen des von Wilhelm Haefs herausgegebenen Bandes Nationalsozialismus und Exil 1933-1945 (2009) das Langzeitprojekt der Hanser’schen Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart zum Abschluss gekommen ist, provoziert im Rückblick auf eine seit Mitte der 1970er Jahre geführte Diskussion des sozialgeschichtlichen Ansatzes in Literaturtheorie und Literaturgeschichtsschreibung eine Reihe von Fragen: Was die bisherige Diskussion anbelangt, bedarf es der Klärung, erstens in welcher Weise in den verschiedenen Diskussionszusammenhängen jeweils vom Begriff ›Sozialgeschichte‹ Gebrauch gemacht worden ist und worin zweitens die Leistungen und Grenzen des sozialgeschichtlichen Ansatzes in Theorie und Praxis der Literaturgeschichtsschreibung und als literaturtheoretische Methode bestanden. Mit Blick auf die Zukunft stellt sich drittens die Frage, ob und in welcher Form dieser Ansatz in Verbindung mit oder in Abgrenzung von konkurrierenden theoretischen Ansätzen heute noch von Relevanz ist oder sein kann.

Mit diesen Fragen beschäftigte sich das Symposium »Über Vergangenheit und Zukunft einer Sozialgeschichte der Literatur«, das auf die Initiative des Carl Hanser Verlags hin vom Göttinger Promotionskolleg VolkswagenStiftung »Wertung und Kanon« in Zusammenarbeit mit der Göttinger Arbeitsstelle für Theorie der Literatur unter der Leitung von Matthias Beilein und Simone Winko (beide Göttingen) veranstaltet wurde.

Sind mit den genannten Fragen die übergeordneten Perspektiven bezeichnet, auf die die Vorträge hin orientiert waren, so lassen sich deren konkrete Fragestellungen in Anlehnung an die einführenden Bemerkungen Simone Winkos thematisch zu drei Gruppen ordnen:

1. Literaturgeschichtsschreibung allgemein und Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur im Besonderen betreffende Fragen

1.1 nach den der Konzeption der Hanser’schen Reihe zugrunde gelegten methodischen Prämissen und ihrer Umsetzung;

1.2 nach dem Zuschnitt und dem Status, den die sozialgeschichtliche Methode und sozialgeschichtliche Fragestellungen in Theorie und Praxis der Literaturgeschichtsschreibung seit Mitte der 1970er Jahre hatten und zukünftig haben könnten;

1.3 nach konzeptionellen Richtlinien, an denen sich eine zeitgemäße Literaturgeschichte orientieren sollte.

2. Sozialgeschichte als Literaturtheorie und als Methode der Textanalyse betreffende Fragen (die immer auch im Zusammenhang der unter 1. genannten Fragen virulent werden)

2.1 nach Verlauf und beeinflussenden Faktoren der historischen Entwicklung des sozialgeschichtlichen Ansatzes;

2.2 nach Lösungsansätzen für das Problem der Verbindung von Symbol- und Sozialsystem.

3. Fragen, die die verlegerisch-ökonomische Seite literaturgeschichtlicher Projekte betreffen und unter diesem Aspekt auch die unter 1.2 und 1.3 genannten Punkte noch einmal aufgreifen, mit denen sich Ute Hechtfischer, Lektorin und Programmleiterin u. a. für die Verlagsschwerpunkte Literatur- und Kulturwissenschaften bei J. B. Metzler, am Beispiel von literaturgeschichtlichen Publikationen aus dem Metzler-Verlag auseinandersetzt.

1. Zum sozialgeschichtlichen Ansatz in der Literaturgeschichtsschreibung allgemein und der Hanser’schen Sozialgeschichte der deutschen Literatur im Besonderen

Im Überblick über das abgeschlossene Gesamtprojekt der Hanser’schen Sozialgeschichte der deutschen Literatur stellte Jörg Schönert (Hamburg) die Frage, ob sich aus den expliziten und impliziten Stellungnahmen zum methodischen Ansatz, die sich in den programmatischen Texten der Vorworte, Einleitungen und Überblicke der einzelnen Bände finden, ein gemeinsames Verständnis der sozialgeschichtlichen Orientierung ermitteln lasse. Im Stichprobenverfahren und unter weitgehendem Verzicht auf die Einbeziehung der Rezensionen zu den jeweiligen Bänden unterzog Schönert in seinem Vortrag »Sozialgeschichte der Literatur als ›umbrella term‹?« den erst- und letzterschienenen Band (Bd. 3, 1980, hg. von Rolf Grimminger, und Bd. 9, 2009, hg. von Wilhelm Haefs) sowie die Bände 4 (1987, hg. von Gert Ueding), 6 (1996, hg. von Edward McInnes und Gerhard Plumpe), 2 (1999, hg. von Albert Meier) und 1 (2004, hg. von Werner Röcke und Marina Münkler) einer genaueren Musterung, indem er zunächst aus den programmatischen Äußerungen des Startbandes 3 ein ›sozialgeschichtliches Minimum‹ herauspräparierte und die später erschienenen Bände daraufhin befragte, ob und, wenn ja, in welchem Umfang und ggf. unter welchen Abänderungen sie dieses Minimum erfüllen.

Auch wenn nur in Bd. 4 der sozialhistorische Anspruch ausdrücklich preisgegeben werde und die übrigen Bände zwar nicht ohne Problematisierungen und Modifikationen sowie z. T. erhebliche Unterschreitungen des programmatischen Anspruches in den Einzelbeiträgen, aber immerhin in eingeschränkter Form an den Leitkategorien von Bd. 3 festhalten, so zeichne sich seit 1990 in der Konzeption ihrer Epochendarstellungen doch eine Tendenz zum Sammelbandformat ab, ohne dass es auch nur zu dem Versuch einer methodologischen Integration und einer systematisch fundierten Vorgabe für Thema und Zuschnitt der einzelnen Beiträge komme.

So lautet denn auch Schönerts Fazit, dass die Hanser’sche Reihe nicht die Konturen einer methodologischen Paradigmastiftung für Sozialgeschichte der Literatur erhalte und ›Sozialgeschichte der Literatur‹ für die konzeptuelle Orientierung der einzelnen Epochenbände nicht mehr als ›umbrella term‹ beansprucht werden könne.

Unter dem Titel »Über die Kanonisierung einer Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Innen- und Außenperspektiven« nahm Wilhelm Haefs (München) eine Historisierung des Hanser-Projektes vor und befasste sich mit dessen Entstehungsprozess, den Intentionen seiner Akteure und seiner Vermittlung. Hansers Literaturgeschichte als ›Generationsprojekt‹ der 68er sei als Versuch zu werten, eine Sozialgeschichte der Literatur avant la méthode zu realisieren. Zudem sei eine gewisse Reserviertheit gegenüber abstrakter soziologischer Theoriebildung zu beobachten gewesen. Die praktische Umsetzung des theoretischen Anspruchs sei nicht zuletzt auch aufgrund der Uneinheitlichkeit und der konzeptionellen Schwächen einiger Bände gescheitert, da nach dem Ausscheiden Rolf Grimmingers als des ursprünglichen Gesamtherausgebers die Arbeit von Einzelherausgebern mit zum Teil sehr unterschiedlichen Vorstellungen fortgeführt wurde. Aufgrund seiner methodischen Defizite habe die Hanser-Literatur-geschichte den sozialgeschichtlichen Anspruch nicht einlösen können. Dennoch sei es ihr gelungen, sich als einschlägiges literaturgeschichtliches Referenzmedium zu etablieren sowie als innovative und akzeptierte Marke kanonisiert zu werden. Abschließend fragte Haefs nach den Zukunftsperspektiven derartiger Großprojekte und gelangte zu der Einschätzung, dass anspruchsvolle, methodisch reflektierte und mehrbändige Literaturgeschichten wohl in Zukunft nicht mehr zu realisieren seien. Er verwies in diesem Zusammenhang auf die Konkurrenz durch das Internet, geänderte Studienbedingungen sowie die Tendenz im Fach, stark arbeitsteilig vorzugehen und eine Zusammenschau des exponentiell gewachsenen Wissens nicht mehr vorzunehmen.

Eine wissenschaftsgeschichtliche Verortung und Einschätzung des sozialgeschichtlichen Ansatzes war Gegenstand des Vortrags von Gerhard Sauder (Saarbrücken). Er erörterte die Frage »Sozialgeschichte der Literatur – ein gescheitertes Experiment?«. Zunächst beschrieb er die Ausrichtung der Literaturgeschichtsschreibung in der Zeit um 1970, in der das Projekt einer Sozialgeschichte der Literatur Gestalt annahm, und gab Einblicke in dessen Programmatik. Tonangebend seien in dieser Zeit geistesgeschichtlich und werkimmanent orientierte Ansätze gewesen. Davon zeugten die vielgelesenen einbändigen Darstellungen von Gerhard Fricke und Fritz Martini sowie die großangelegte, mehrbändige Literaturgeschichte von Helmut de Boor und Richard Newald. Im Zuge der 68er-Bewegung habe sich als Gegenentwurf zu diesen als unzureichend wahrgenommenen Darstellungen die materialistische Literaturtheorie formiert, die allerdings aufgrund ihrer reduktionistischen Annahmen (Widerspiegelung, Basis-Überbau-Dialektik u. a.) ebenfalls nicht habe überzeugen können. In kritischer Auseinandersetzung mit marxistischen Ansätzen habe sich dann im Horizont allgemeiner Modernisierungstendenzen der sozialgeschichtliche Ansatz entwickelt. Mehrere Verlage planten zu dieser Zeit sozialgeschichtlich orientierte Literaturgeschichten (neben Hanser waren dies Beck/Metzler, Rowohlt und Athenäum). Sauder gab Einblicke in die methodologischen und konzeptionellen Entwürfe der einzelnen Herausgeber (Grimminger, Voßkamp et al., Glaser, Žmegač). Als zentrales theoretisches Problem habe sich das ›Vermittlungsproblem‹ erwiesen, d. h. die Modellierung des Verhältnisses von Literatur und sozialgeschichtlichem Kontext bei gleichzeitiger Wahrung der ästhetischen und formalen Besonderheiten der Literatur. Bilanzierend stellte er fest, dass trotz des experimentellen Charakters des Projektes und einiger ungelöster theoretischer Probleme der Ansatz einer Sozialgeschichte der Literatur nicht ohne Wirkung auf das Fach geblieben sei. Die meisten der damals etablierten Fragen gehörten heute zur allgemein akzeptierten Praxis der Literaturwissenschaft, auch wenn deren sozialgeschichtliche Provenienz bisweilen nicht mehr wahrgenommen werde. Sauder verwies in diesem Zusammenhang auf den erweiterten Literaturbegriff, auf die Berücksichtigung des gesellschaftlichen Kontextes der Literatur und des sozialen Potentials literarischer Gattungen sowie auf Untersuchungen zu Publikum und literarischen Institutionen.

Weniger um eine fachgeschichtliche Verortung sozialgeschichtlich orientierter Literaturgeschichten zur mittelalterlichen Literatur als um die Frage danach, welchen Beitrag diese Literaturgeschichten im Vergleich zu ihren Vorgängern zur Lösung literaturgeschichtsspezifischer Darstellungsprobleme leisten, ging es in Udo Friedrichs (Göttingen) Vortrag »Sozialgeschichte der mittelalterlichen Literatur und ihre Perspektiven«. Den Ausgangspunkt seiner Überlegungen bildete seine Bestimmung der doppelten Aufgabe von Literaturgeschichte, die er in der Beschreibung und Vermittlung ihres Gegenstandes sieht. Was die mittelalterliche Literatur betrifft, so sei damit die Alteritätsdebatte berührt, weil es um die Fragen nach Distanz und Nähe zum Gegenstand und grundsätzlich nach dem Verhältnis zur Geschichte gehe. In seinem Vortrag untersuchte Friedrich eine Reihe von Literaturgeschichten daraufhin, wie sie mit dem folgenden Problem umgehen, das sich aus der ihnen zugeschriebenen doppelten Aufgabe ergibt: Die distanzschaffende, das Material bloß akkumulierende Dokumentation der mittelalterlichen Texte und ihre Einordnung in den historischen Kontext birgt die Gefahr, den Einzeltext in seiner ästhetischen und sinnstiftenden Dimension zu verfehlen und dem Ziel der Archivierung die auf Erzählung angewiesene Darstellung des diachronen Zusammenhangs zu opfern. Unter Voraussetzung eines zeitlosen ästhetischen Wertmaßstabs aber besteht die Gefahr, die historische Bedingtheit der Texte aus dem Auge zu verlieren und einen Großteil von ihnen – wenn nicht gleich alle wie in Schlaffers Kurzer Geschichte der deutschen Literatur – aus der literaturgeschichtlichen Darstellung auszuklammern.

Wie sich Friedrichs Untersuchungsergebnissen entnehmen lässt, drohte in früheren Literaturgeschichten (Gervinus, Ehrismann, de Boor, Wehrli) aufgrund ihrer Orientierung an der als zeitlos erklärten ästhetischen Qualität eines Werkes insbesondere die spätmittelalterliche Literatur marginalisiert zu werden, während sich mit dem Aufkommen einer sozialgeschichtlichen Zugangsweise (Grundkurs Literaturgeschichte, Janota) zwar eine Aufwertung der dem ästhetischen Anspruch älterer Literaturgeschichten nicht entsprechenden Texte abzeichnet, zugleich aber mit dem Ausklammern der Frage nach einer zeitlosen ästhetischen Qualität der Texte ihre Bedeutung aus der Sicht gegenwärtiger Rezeptionsinteressen problematisch wird.

Im letzten Teil seiner Ausführungen diskutierte Friedrich zwei neuere Ansätze zur Lösung des beschriebenen literaturgeschichtlichen Darstellungsproblems: In dem von Werner Röcke und Marina Münkler herausgegebenen ersten Band der Hanser’schen Sozialgeschichte der deutschen Literatur präsentiere sich Literaturgeschichte als eine Vielzahl von Problemgeschichten, die durch unterschiedliche Narrative organisiert und im Metanarrativ ›Modernisierung‹ integriert werden. Dank dieses Darstellungsverfahrens bleibe Literaturgeschichte als Sozialgeschichte erzählbar, statt in Historismus und Positivismus aufzugehen. Doch trotz der Orientierung am Prinzip der Alterität und Dialogizität, die der historisch-philologischen Distanzierung und ästhetischen Marginalisierung der spätmittelalterlichen Literatur entgegengesetzt worden sei, werde der besondere Status der frühneuzeitlichen Ästhetik in den Einzelbeiträgen nicht systematisch herausgearbeitet. Auf ein Metanarrativ verzichte demgegenüber Eine neue Geschichte der deutschen Literatur, hg. von David Wellbery et al., ebenso wie auf ein Summieren, Katalogisieren und das diachrone Sortieren der Literatur nach Epochen im Namen eines Konzepts von Literaturgeschichte als Anekdote, das auf eine ästhetisch-reflexive Begegnung mit dem historischen Datum abziele. Abschließend wies Friedrich trotz seiner Kritik an dieser Literaturgeschichte darauf hin, dass ein solcher Ansatz die Chance berge, die aus ästhetischer Perspektive problematische spätmittelalterliche Literatur dem Bestand der Literaturgeschichte wieder eingliedern zu können.

Zwei theoretisch ausgerichtete Beiträge präsentierten Überlegungen, wie der sozialgeschichtliche Ansatz um neue Perspektiven – das Konzept ›Wissen‹ und die Kategorie ›Zeit‹ – sinnvoll erweitert werden kann. Mit der Frage »Sozialgeschichte der Literatur als ›historische Soziologie des Wissens‹?« befasste sich Claus-Michael Ort (Kiel). Er stellte eine wissenssoziologisch informierte Theorieoption für eine textbezogene Sozialgeschichte der Literatur vor, die Literatur als Zeichen- bzw. Symbolsystem in den Blick nimmt. Der Begriff des Wissens könne zwischen sozialen Praktiken auf der einen Seite und der Textsemantik auf der anderen Seite eine Vermittlungsfunktion übernehmen. In Auseinandersetzung sowohl mit S. J. Schmidts Ansatz einer Soziologie der historisch variablen Institutionalisierungsformen der Literatur als auch mit Michael Titzmanns Konzept des ›kulturellen Wissens‹ entwickelte Ort einen wissenssoziologisch informierten Ansatz für eine textbezogene Sozialgeschichte der Literatur, der mit einem resoziologisierten Wissensbegriff arbeite und von der diskursanalytisch und neohistoristisch orientierten Wissenspoetik abzugrenzen sei, die Textsemantik und Wissen unterschiedslos in eins setzten. Da literarische Texte an sich nichts ›wissen‹ können, d. h. die Verwendung eines personalen Wissensbegriff in Bezug auf literarische Texte inadäquat sei, müsse ein impersonaler Wissensbegriff angenommen werden. Streng genommen könne eine textbezogene Sozialgeschichte jedoch nicht den Anspruch erheben, ›Wissen‹ zu rekonstruieren, sondern beschreibe – mit Luhmann gesprochen – literarisch sedimentierte und gespeicherte Semantiken, die als kultureller Begriffs- und Themenvorrat für Kommunikationszwecke bewahrt und tradiert werden. Das bekannte Vermittlungs- und Zurechnungsproblem zwischen Sozial- und Symbolsystem der Literatur dürfe dabei nicht länger metaphorisch überspielt werden. Es müsse vielmehr das Ziel sein, beide Bereiche dahingehend zu limitieren, dass weder über Gebühr soziale Aspekte in die literarischen Texte hineinprojiziert würden, wie das bisweilen bei der literaturgeschichtlichen Anwendung der Feld- und Habitustheorie Bourdieus oder der Luhmann’schen Systemtheorie zu beobachten sei, noch dürften Texte vorschnell als Dokumente gedeutet werden. Ferner müssten die Ergebnisse beider Richtungen besser koordiniert werden. Literatur beziehe sich nicht auf soziale Tatsachen, vielmehr sei die gesellschaftliche Konstruktion von Wissen über soziale Tatsachen in Literatur selbst eine soziale Tatsache.

Eine neue Perspektive auf Literatur und Geschichte stellte Walter Erhart (Bielefeld) in seinem Vortrag »Die ›Rache der Sozialgeschichte‹: Literatur und Geschichte ›after theory‹« vor. Nach einleitender Bestandsaufnahme der durch kulturwissenschaftlichen Methodenpluralismus und Stagnation geprägten gegenwärtigen Theoriediskussion benannte er als neuen Ansatzpunkt für die Sozialgeschichte der Literatur eine Theorie historischer Zeitverlaufsformen. Geschichtsschreibung beziehe sich wesentlich auf gedeutete Zeit und Zeitverlaufsvorstellungen. Der Wandel des Sozialsystems ›Literatur‹ vollziehe sich in Korrelation mit dem Wandel anderer Sozialsysteme, der des Symbolsystems ›Literatur‹ in Beziehung zu den Kontexten, in die es gestellt sei. Es stelle sich daher die Frage, wie dieser Wandel erklärt werden könne. Insofern sich die Sozialgeschichte der Literatur beziehungsweise die Literaturwissenschaft allgemein mit historischen Verlaufsformen beschäftigte, habe sie sich in der Vergangenheit lediglich an Modellen geschichts- und sozialwissenschaftlicher Provenienz wie ›Modernisierung‹ und ›funktionaler Differenzierung‹ orientiert. Ausgehend von der neueren geschichtswissenschaftlichen Einsicht, dass Prozesse der Temporalisierung keineswegs gleichförmig verliefen, Zeitwahrnehmung sich mithin (regional, konfessionell, sozial etc.) unterschiedlich vollziehe, und ausgehend von der soziologischen Einsicht, dass Zeit eine grundlegende Kategorie für Gesellschaftstheorie und gesellschaftlichen Wandel sei, könne im Rahmen einer Theorie historischer Zeit nach der Verarbeitung von Zeit und Zeitwahrnehmung in Literatur und Geschichte gefragt werden. Dabei handele es sich nicht um eine neue Theorie der Literaturgeschichtsschreibung, sondern um ein neu perspektiviertes Programm für Literaturgeschichte ›after theory‹, das Literatur- und Geschichtswissenschaft zusammenführen könne in dem Bemühen, die historische Wahrnehmung, Erfahrung und Gestaltung von Zeit in Literatur und Geschichte zu beschreiben.

Wurde die Frage danach, welche konzeptionellen Richtlinien sich für eine zeitgemäße Literaturgeschichte formulieren lassen und welche Rolle dabei eine sozialgeschichtliche Orientierung zu spielen hätte, auch in den Vorträgen von Haefs, Friedrich, Ort und Hechtfischer berührt, so stellte Jutta Osinski (Marburg) sie ins Zentrum ihres »Plädoyers für eine faktualistische Literaturgeschichte«. Den als ›faktualistisch‹ bezeichneten Typ von Literaturgeschichte charakterisierte sie als eine objektivierte literaturgeschichtliche Darstellungsform, bei der auf den Mitabdruck der theoretischen Diskussionen, die gleichwohl vorausgehen und fachintern ausgetragen werden müssen, verzichtet wird: Eine solche Literaturgeschichte solle selbstevident und überzeugend sein. Statt einer Sammlung von Aufsätzen sei eine Meisternarration zu bieten, in der die Interpretation von Einzelwerken zurückzunehmen, kurze Überblicke und biographische Informationen einzuschalten, europäische Literaturbeziehungen zu berücksichtigen und schließlich auch die Darstellung historischer Sozialgeschichten und Sozialtheorien von Literatur zu integrieren wären. Dass Osinski es als Pflicht der Fachvertreter ansieht, einen ins Narrative überführten ›neuen, besseren Frenzel‹ zu liefern, der anders als die bereits bestehenden Literaturgeschichten ähnlichen Typs den fachlichen Ansprüchen genügte, begründete sie mit dem Hinweis auf ein Missverhältnis, das ihrer Einschätzung nach zwischen Angebot und Nachfrage nach bestimmten literaturgeschichtlichen Darstellungstypen bestehe: Jene avancierten Literaturgeschichten, die den Stand der theoretischen Diskussion im Bereich der Literaturgeschichtsschreibung spiegeln, seien nicht geeignet, das Bedürfnis nach literaturgeschichtlicher Information auf Seiten der Studierenden, der Deutschlehrer und der literarisch interessierten Öffentlichkeit zu befriedigen, was sich an den mangelnden literaturgeschichtlichen Kenntnissen bei Studierenden und künftigen Lehrern einerseits und der großen Nachfrage nach kurzen Überblicksdarstellungen andererseits ablesen lasse.

2. Zur Sozialgeschichte als Literaturtheorie und als Methode der Textanalyse

Unter Bezugnahme auf die Einleitung zu seiner Methodengeschichte der Germanistik (Berlin, New York 2009) stellte Jost Schneider (Bochum) in einem ersten Schritt seines Vortrags »Die sozialgeschichtliche Methode in ihrer Perseveranzphase« sein dreistufiges Modell zur Beschreibung der Entwicklungsphasen vor, die eine literaturwissenschaftliche Methode typischerweise durchlaufe, sofern sie sich in der Fachöffentlichkeit zu irgendeinem Zeitpunkt hat durchsetzen können: Anhand einer Reihe von Kriterien wie etwa der Quantität und Qualität von Bezugnahmen auf die Texte der zu ›Diskursbegründern‹ erklärten Methodenvertreter in der Forschungsliteratur, der Präsenz dieser Texte in Fach- und Universitätsbuchhandlungen, der Einrichtung von Lehrstühlen für die Methode u. a. unterscheidet Schneider drei Phasen der Entwicklung einer Methode: 1. die Formationsphase, 2. die Durchsetzungsphase und 3. die Perseveranzphase.

In einem zweiten Schritt ging Schneider auf die Triebfedern des Phasenablaufs ein und stellte dessen Abhängigkeit von ›gesellschaftlichen Großtrends‹ heraus: Ob und ggf. wann eine Methode von der Formations- in ihre Durchsetzungsphase übertritt und wie lang sich letztere erstreckt, hänge entscheidend davon ab, ob und für welchen Zeitraum die in ihrer Formationsphase befindliche Methode in den Fokus der maßgeblich von besonders einflussreichen Akteuren des akademischen Feldes gelenkten Aufmerksamkeit gelange, was selbst wiederum wesentlich von den herrschenden gesellschafts- und mentalitätsgeschichtlichen Bedingungen abhänge. So lasse sich für die Methodengeschichte der Germanistik insgesamt eine signifikante Erhöhung der Anzahl sich formierender Paradigmen um 1918 feststellen und eine Steigerung der sich durchsetzenden oder sich durchgesetzt habenden Paradigmen nach 1968.

Im dritten und letzten Schritt gab Schneider zwei Faktoren an, die in besonderer Weise den Fortbestand jener Methoden sicherten, die ihre Durchsetzungsphase erfolgreich beendet haben: die Bewährung bei der Lösung fachwissenschaftlicher Alltagsprobleme und die Anfeindung von außen. Im Falle des sozialgeschichtlichen Ansatzes, dessen Entwicklungsgeschichte den für literaturtheoretische Ansätze typischen Verlauf genommen und das Perseveranzstadium erreicht habe, sieht Schneider beide Bedingungen seines Fortbestehens erfüllt und beantwortete die Frage nach der Zukunft der Sozialgeschichte dementsprechend mit einer positiven Prognose.

Dem Problem der Verbindung von Symbol- und Sozialsystem, mit dem die sozialgeschichtliche Methode der Textanalyse seit jeher zu kämpfen hat, stellte sich Fotis Jannidis (Würzburg) in seinem Vortrag »Bourdieu und das Interpretationsproblem der Sozialgeschichte«. Bevor er sich der Erläuterung dieses Problems und verschiedenen Ansätzen zu seiner Lösung zuwandte, machte er zunächst deutlich, wie er die Begriffe ›Sozialgeschichte‹ und ›Interpretationsproblem‹ im Folgenden verstanden wissen wollte: Einer Unterscheidung Jan-Dirk Müllers folgend gehe es ihm nicht um Sozialgeschichte in einem engeren, sondern in einem weiteren Sinne und mit dem Schlagwort ›Interpretationsproblem der Sozialgeschichte‹ wolle er auf den Fragenkomplex Bezug nehmen, ob und was für ein Verständnis von Texten sich dadurch eröffnen lässt, dass sie in einen (zunächst einmal nicht-textuellen) historischen Kontext gestellt werden.

Seine kritische Auseinandersetzung mit Modellen, die zur Lösung dieses Problems vorgeschlagen wurden, begann Jannidis nach kurzem Verweis auf die marxistische Widerspiegelungstheorie und ihre moderne Version von Lucien Goldmann bei der Kritischen Theorie Theodor W. Adornos und ging dann ausführlicher auf Luhmanns Systemtheorie und Bour-dieus Feldtheorie ein: Den Vorzug der von einer Koevolution der Systeme ›gesellschaftliche Struktur‹ und ›Semantik‹ ausgehenden Systemtheorie sieht er darin, dass sie ›Freiheitsgrade‹ der Semantik ansetze, die durch die gesellschaftlichen Strukturen limitiert, nicht aber bedingt seien. Allerdings lasse sich auf diesem Weg das genannte Interpretationsproblem noch nicht lösen. Zu demselben Schluss kam Jannidis in seiner Auseinandersetzung mit Bourdieus Beschreibung des literarischen Feldes: Auch mit ihr habe man keine Theorie, mit der es möglich wäre, Texte unabhängig davon, ob sie Gesellschaftliches thematisierten, auf Gesellschaft zu relationieren.

Als Ausgangspunkt für seinen eigenen Problemlösungsansatz diente Jannidis eine andere, von Bourdieu nicht ausgearbeitete Überlegung, nämlich dass ein Werk nicht nur als Text, sondern als Äußerungsakt zu betrachten sei, mit dem zu anderen vorhandenen Äußerungsakten eine Differenz aufgebaut werde. Diese Bourdieu’sche Überlegung weiterdenkend ließen sich alle Aspekte eines literarischen Textes als Mittel einer Relationierung und Positionierung darstellen – von Jannidis unter dem Begriff ›Schreibstrategie‹ zusammengefasst. Bei der Analyse eines Textes diene dann der Rekurs auf die zeitgenössische Rezeption dazu, die Aufmerksamkeit auf jene Aspekte des mit dem Text vollzogenen Äußerungsaktes zu lenken, die wesentlich seine Differenz gegenüber anderen Äußerungsakten ausmachen. Den Mehrwert dieses Ansatzes gegenüber dem verwandten formalistischen Konzept der literarischen Reihe sieht Jannidis darin, dass die literarische Reihe nicht mehr objektivistisch, sondern als soziales Faktum betrachtet werde und sich bestimmte Textmerkmale, zu verstehen als Aspekte von Äußerungsakten und damit von sozialen Handlungen, ins literarische Feld einbetten lassen. Abschließend wies Jannidis auf in diesem Ansatz noch unbeantwortete Fragen bezüglich des Interpretationsproblems hin.

Zur Explikation des von Jannidis behandelten notorischen Problems des sozialgeschichtlichen Ansatzes trugen Carolina Kapraun und York-Gothart Mix (beide Marburg) mit ihrem Vortrag »Das Allerweltswort ›Text‹« insofern bei, als sie in ihren »Thesen zur aktuellen Forschungsdiskussion« insbesondere den in sozialgeschichtlichen Ansätzen vorausgesetzten Textbegriff problematisierten. Es fänden mehrere, miteinander nur bedingt kompatible Textbegriffe Verwendung. ›Text‹ werde verstanden als Zeitzeugnis, als die als Textwelten beschreibbaren Kontexte, als doppelt codiertes Produkt eines nach einem ökonomischen Regelsystem funktionierenden literarischen Marktes, als empirisch quantifizierbares Material oder als Artefakt. Es stelle sich zudem die Frage nach der Übertragbarkeit des in den Bezugstheorien je wissenschaftsspezifisch verwendeten Textbegriffs, z. B. der Geschichtswissenschaft, auf literaturwissenschaftliche Zusammenhänge, z. B. für die Interpretation einzelner Texte. Genau zu unterscheiden sei zwischen faktualen und fiktionalen Texten sowie zwischen sozialgeschichtlich erschließbarem ›Text‹ und ästhetisch codiertem ›Werk‹. Besondere Aufmerksamkeit verdiene ferner die Materialität des Textes. Hierbei handele es sich um ein Desiderat der Forschung, das auch von sozialgeschichtlicher Relevanz sei. Literarischer Sinn sei nicht medial invariant, sondern an mediale und materiale Bedingungen gebunden. Auch den Literaturbegriff gelte es zu präzisieren. Der weite sozialgeschichtliche Literaturbegriff berge die Gefahr einer unreflektierten, ästhetisch nicht legitimierbaren Ausweitung des Textbegriffs in sich und könne dazu führen, dass der Unterschied zwischen informationsbezogener und ästhetisch orientierter Leserhaltung ignoriert und die stilistischen und rhetorischen Spezifika literarischer Texte relativiert werden.

3. Zur verlegerisch-ökonomischen Seite literaturgeschichtlicher Projekte

In ihrem Schluss-Statement ergänzte Ute Hechtfischer (Stuttgart) das Spektrum der Positionen um praktische Aspekte aus Verlags-Perspektive. Sie stellte zunächst die bei Metzler verlegte Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart (1. Aufl. 1979, 7. Aufl. 2009) von Wolfgang Beutin et al. vor und gab Einblicke in die konzeptionellen Veränderungen, die von Auflage zu Auflage vorgenommen wurden. Während z. B. die erste Auflage ein dezidiert materialistisches Modell zugrundegelegt habe, seien in den folgenden Auflagen ästhetische Aspekte zunehmend aufgewertet, eine sozialgeschichtliche Grundorientierung jedoch beibehalten worden. Von den Autoren der anderen bei Metzler verlegten literaturgeschichtlichen Publikationen, beispielsweise den Bänden zu einzelnen Nationalliteraturen oder den Epochen-Einführungen, fordere man nicht explizit eine sozialhistorische Vorgehensweise, lege ihnen jedoch nahe, historische und politische Grundlagen der behandelten Epochen in die Darstellung zu integrieren. Des weiteren beleuchtete Hechtfischer die Rolle der Verlage bei Prozessen der Kanonisierung. Zu unterscheiden sei grundsätzlich zwischen Kanonisierungsabsicht und Kanonisierungseffekt. Wenn in der ersten Auflage der erwähnten Deutschen Literaturgeschichte das Kapitel zum Vormärz vergleichsweise umfangreich angelegt gewesen sei (es war genau so lang wie das Kapitel zu Aufklärung, Klassik und Romantik, die in der ersten Auflage noch in einem Kapitel behandelt wurden), so sei darin die Absicht der Autoren und Lektoren zu erkennen, diese Epoche der Literaturgeschichte aufzuwerten. Ein Kanonisierungseffekt hingegen stelle sich bisweilen ein, weil die notwendige Reduktion des Stoffes dazu führe, dass dominante literaturgeschichtliche Tendenzen und Strömungen in den Vordergrund der Darstellung rückten. Gut zu beobachten sei dies an den Kapiteln zur Gegenwartsliteratur, in denen in Abhängigkeit von medialen und gesellschaftlichen Tendenzen der Zeit bestimmte Trends wie z. B. Migrantenliteratur, Literatur im Netz oder das ›Fräuleinwunder‹ im Fokus der Aufmerksamkeit stünden.

4. Resümee

Mit Blick auf die Vergangenheit der Sozialgeschichte der Literatur lässt sich festhalten, dass dieser Ansatz die Ansprüche, mit denen er angetreten war, nicht befriedigend einlösen konnte. Mehrere Teilnehmer der Tagung wiesen auf diesen Umstand hin und führten als Grund für sein Scheitern an, dass es bisher nicht gelungen sei, zentrale theoretische und methodologische Probleme überzeugend zu klären. In diesem Zusammenhang wurde vor allem auf die Frage nach der angemessenen Modellierung von Text und Kontext hingewiesen: Wie lassen sich welche sozialgeschichtlichen Kontexte gegenstandsadäquat auf Literatur beziehen, sei es in der Literaturgeschichtsschreibung, sei es bei der Analyse von Einzeltexten? Mit Blick auf die Gegenwart der Sozialgeschichte der Literatur kam mehrfach die Einschätzung zum Ausdruck, dass es diesem Ansatz trotz der genannten Probleme gelungen sei, einige seiner Fragestellungen und Untersuchungsgegenstände als allgemein akzeptierte Bestände in die literaturwissenschaftliche Praxis einzuführen und sich selbst als eine Methode im Spektrum der literaturwissenschaftlichen Ansätze zu etablieren. Für die Zukunft der Sozialgeschichte wurde aufgezeigt, in welche Richtung weitergedacht werden müsste, um die ungelösten Probleme dieses Ansatzes einer Klärung näher zubringen. Dazu gehören u. a. Fragen nach den für Literatur besonders relevanten Kontexten, wie z. B. Wissen, aber auch Mentalitäten oder Diskursen, nach der adäquaten Analyse einzelner literarischer Texte im Rahmen des sozialgeschichtlichen Ansatzes oder nach einer fundierten Beschreibung von Entwicklungs- und Wandlungsprozessen. Damit werden auch grundlegende Fragen der Literaturwissenschaft, z. B. nach Grundbegriffen wie ›Literatur‹ und ›Text‹, berührt. Schließlich gehören hierher auch die Fragen, wie die literaturgeschichtliche Forschung effektiv koordiniert und die Ergebnisse angemessen vermittelt werden können.

Jan Borkowski und Katharina Prinz, M.A.

Georg-August-Universität Göttingen

Seminar für Deutsche Philologie

2010-02-07

JLTonline ISSN 1862-8990

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