Nina Nowakowski

Machtvolle Gefühle

Machtvolle Gefühle. Internationale Tagung vom 24.-26. September 2009 an der Freien Universität Berlin im Rahmen des Projekts »Emotionalität in der Literatur des Mittelalters« des Berliner Sonderforschungsbereichs Kulturen des Performativen.

Unter dem Motto »Machtvolle Gefühle« veranstalteten Martin Baisch, Evamaria Heisler, Ingrid Kasten, Hendrikje Lehmann und Andrea Sieber an der Freien Universität Berlin vom 24.-26. September 2009 eine Tagung unter internationaler Beteiligung, in deren Rahmen Verschränkungen von Macht und Emotionen auf verschiedenen Ebenen und in unterschiedlichen Kontexten in den Blick genommen wurden.

Die Veranstaltung fand im Rahmen des seit 1999 bestehenden Projekts »Emotionalität in der Literatur des Mittelalters« des Sonderforschungsbereichs Kulturen des Performativen statt. Das Berliner Projekt beteiligt sich unter der Leitung von Ingrid Kasten, welche die TagungsteilnehmerInnen begrüßte und das Tagungskonzept vorstellte, seit vielen Jahren rege an der literaturwissenschaftlich ausgerichteten historischen Emotionsforschung. Ausgehend von den in diesem Zusammenhang erarbeiteten performativitätstheoretischen Ansätzen sollten im Kontext der hier angezeigten Tagung unterschiedliche Konzeptualisierungen des Verhältnisses von Macht und Emotionen diskutiert werden. Das Spektrum reichte dabei vom Einfluss, den Gefühle auf Handlungen haben können, bis zu den historisch und kulturell variablen Funktionen, die Emotionen bei der Herstellung von Machtverhältnissen zukommen. Viele Beiträge verfolgten, indem sie Macht- und Emotionskonstellationen in literarischen Texten der Vormoderne analysierten, eine historische Perspektive. Gleichzeitig bot die Thematik interdisziplinäre Anschlussmöglichkeiten und war für literaturwissenschaftliche Fragestellungen auf der Grundlage verschiedener methodischer Ausrichtungen und theoretischer Ansätze offen. Während im Zentrum der meisten Vorträge theoriegeleitete Textanalysen standen, rückten einige ReferentInnen auch explizit systematische Überlegungen in den Mittelpunkt ihrer Beiträge.

Obwohl die Beiträge durch sehr unterschiedliche Fragestellungen und methodisch-theoretische Grundlagen gekennzeichnet waren, bildeten sich im Verlauf der Tagung mehrere Schwerpunkte in Bezug auf die theoretische Ausrichtung der einzelnen Vorträge sowie auf deren Anlehnung an bestimmte Forschungsparadigmen und an systematische Kategorien heraus. Neben Fragen nach genderspezifischen Codierungen, medialitätstheoretischen Aspekten, politischen Funktionalisierungen von Macht- und Emotionskonstellationen bildeten auch rezeptionstheoretische Überlegungen einen wesentlichen Fokus.

Auf dieser Grundlage lassen sich die Beiträge je einer der vier systematischen Schwerpunktkategorien Gender, Politik und Machtpraktiken, Medialität und Rezeption zuordnen. Diejenigen Tagungsbeiträge, die explizit theoretische Kategorien und/oder methodische Ansätze thematisierten, werden hier mit der Kategorie Spezifische methodisch-theoretische Zugänge gesondert berücksichtigt.

1. Gender

Die komplexen Zusammenhänge von Geschlecht, Macht und Emotionen in der mittelalterlichen Literatur thematisierten Andrew Johnston, Judith Klinger und Annette Gerok-Reiter. Sie betonten, dass literarische Inszenierungen genderspezifischer Machtverhältnisse gerade in mittelalterlichen Texten oftmals durch ein ambivalentes Verhältnis von Ermächtigungs- und Entmächtigungsstrukturen gekennzeichnet sind.

Andrew Johnston (Berlin) zeigte mit Blick auf die intertextuellen und räumlichen Verschachtelungsstrukturen in Geoffrey Chaucers höfischem Roman Troilus und Criseyde, wie der Text eine auf die intradiegetische Darstellung von Lektüreprozessen bezogene komplexe Geschlechterdynamik etabliert. Diese erschöpfe sich – entgegen älterer Forschungsmeinungen – gerade nicht in struktural-binären Geschlechteroppositionen, sondern sei vielmehr von semiotischen und emotionalen Uneindeutigkeiten gekennzeichnet, die labile Machtverhältnisse zur Folge hätten. Dies erläuterte Johnston in Bezug auf die gender-distinkten Inszenierungen von Lektüreprozessen auf der Figurenebene des Textes: Hier stehe die bedarfsgerecht bzw. pragmatisch motivierte und funktionalisierte Darstellung männlicher Lektüre im Kontrast zum diskursiv ausgerichteten weiblichen Lektüreprozess der Protagonistin Criseyde, der in ein Kommunikationsangebot münde. Das Angebot zum Diskurs über das Gelesene werde jedoch von der männlichen Figur abgewiesen. Dies könne, so betonte Johnston, nicht nur als Illustration männlicher Macht verstanden, sondern gerade auch als Hinweis auf die Bedrohung gelesen werden, die von der kulturellen Kompetenz der weiblichen Figur ausgeht.

Judith Klinger (Potsdam) nahm literarische Konstruktionen des Komplexes von Macht, Begehren und männlicher Identität in verschiedenen narrativen Texten in den Blick. Im Mittelpunkt stand dabei das Phänomen der körperlichen und emotionalen Selbstverausgabung im Spannungsfeld von Macht und Ohnmacht. Der Vortrag zeigte anhand verschiedener mittelhochdeutscher Textbeispiele, die Begehrenskonstellationen inszenieren (etwa zwischen Roland und Karl im Rolandslied des Pfaffen Konrad, zwischen Lancelot und Galahot im Prosa-Lancelot oder Gawein und Orgeluse in Wolframs von Eschenbach Parzival), wie emotional codierte Verschwendungsszenarien sowohl zur Verunsicherung von Macht und männlicher Identität als auch zu deren Festigung beitragen können.

Die Verschränkungen von Angst, Macht und Ohnmacht in Hartmanns von Aue Erec standen im Mittelpunkt von Annette Gerok-Reiters (Berlin) Vortrag. Sie skizzierte die bipolare Funktionalisierung der Angstemotion zwischen Macht und Ohnmacht in Bezug auf die Erzählstruktur und die Geschlechterordnung und -hierarchie des Textes, indem sie die Darstellungen von Enites Angst genauer analysierte. Gerok-Reiter arbeitet heraus, dass und wie Enites Furcht vor Erec in den Monologen der Enite-Figur in Angst um Erec umcodiert wird. Der damit einhergehende sprachlich-reflexive Ermächtigungsprozess der weiblichen Figur führe zu autoaggressiven Handlungen und wirke somit destruktiv. Darin bestehe eine grundlegende Differenz zu Erecs bzw. dem männlichen Reflexionsprozess über die Angst, der produktives Handeln möglich mache und Handlungsmacht konstituiere.

Die Überlegungen der ReferentInnen ließen erkennen, dass die Berücksichtigung von Emotionsdarstellungen für die Analyse literarischer Inszenierungen genderspezifischer Machtverhältnisse von besonderem Interesse ist: Die Untersuchung der vielfältigen und häufig uneindeutigen Funktionalisierungen und Codierungen von Emotionen im Kontext von literarisch dargestellten Machtgefügen kann die Wahrnehmung für die Ambiguität von oft vermeintlich binär strukturierten Geschlechterhierarchien nicht nur in vormodernen Texten schärfen.

2. Politik und Machtpraktiken

Drei Beiträge thematisierten verschiedene historische Konfigurationen von politischer Macht und ihre Verbindung mit Emotionen. Während die Beiträge von Evamaria Heisler und Ute Frevert das Phänomen der Herrschaft aus unterschiedlichen Perspektiven untersuchten, zeigte Jan Söffner, dass Melancholie in Diskursen der Vormoderne als Ermächtigungsstrategie konzeptualisiert wurde.

Funktionen von Zornesdarstellungen in literarischen Texten des Mittelalters thematisierte Evamaria Heisler (Berlin) in ihrem Vortrag zum König Rother. Grundlegend war dabei die Annahme, dass der Zusammenhang von Zorn und Herrschaft in philosophischen und theologischen Diskursen der Vormoderne gegensätzlich konzeptualisiert wurde: Während Seneca etwa Herrschaft und Zorn in einem Ausschließungsverhältnis denke, verstehe Laktanz Zorn als notwendiges und legitimes Mittel der Herrschaftsausübung. Vor diesem Hintergrund entwickelte Heisler die These, dass Zorn im König Rother gebrochen, d.h. zugleich als Gefahr und Notwendigkeit für die Herrschaftsausübung, dargestellt wird. Die Zwiespältigkeit der Emotion als Herrschaftsmittel führe einerseits zur Auslagerung des Zorns (auf die dem König dienenden Riesen) und andererseits zur Tabuisierung des Zorns der Figur König Rothers. Somit werde, das betonte Heisler, einerseits das Problem der Ambivalenz des Zorns vermieden, andererseits könne Zorn aber dadurch nicht als politisches Mittel der Problemvermeidung produktiv gemacht werden.

Die Historikerin Ute Frevert (Berlin) beschäftigte sich mit Zusammenhängen von Herrschaft, Gefühlen und Kommunikation. Auf der Basis von Max Webers Herrschaftsverständnis, das Herrschaft in Abgrenzung zum soziologisch amorphen Konzept der Macht als konkretes Verhältnis konzeptualisiert, erläuterte sie, dass gesellschaftliche Subordinationsstrukturen immer kommunikativ verhandelt werden müssten und auf die Mobilisierung von Gefühlen der Beherrschten angewiesen seien. Mit Blick auf Huldigungsrituale als institutionalisierte Formen der Herrschaftskonstitution und -performanz thematisierte der Beitrag die historische Variabilität der emotionalen und kommunikativen Grundlagen von Herrschaftsverhältnissen. Frevert machte deutlich, dass sich mit der Entstehung des Bürgertums eine gegenüber der Standesgesellschaft veränderte Gefühlskultur etabliert habe, die etwa durch ein anderes Verhältnis zwischen Untertanen und Herrscher gekennzeichnet ist: Das Konzept der Treue werde mit der Entstehung bürgerlicher Gesellschaftsformen vom Konzept bzw. dem Gefühl des Vertrauens abgelöst.

Vor dem Hintergrund und in Abgrenzung zu der Konzeptualisierung von Melancholie als Teilnahmslosigkeit und damit einhergehender Machtlosigkeit entwickelte Jan Söffner (Berlin) die These von Melancholie als ästhetischer und politischer (Selbst-) Ermächtigungsstrategie, die durch das Paradox der teilnehmenden Teilnahmslosigkeit gekennzeichnet sei. Am Beispiel von Albrecht Dürers Melancholia I erläuterte Söffner die Verschränkung von emotionaler Teilnahmslosigkeit und kosmischer Teilhabe, die für das Melancholieverständnis des Renaissancehumanismus kennzeichnend sei und in unterschiedlichen Diskursen wirksam werde. Er beleuchtete die sinnstiftende bzw. weltbildende Funktion des Erzählens in Giovanni Boccaccios Decameron. Der narrative Akt sei durch Melancholie und Angst bedingt und ziele als Akt der Ermächtigung zugleich auf die Überwindung dieser emotionalen Grundlagen. Dass der Vorstellung der emotionalen Teilnahmslosigkeit in politischen Zusammenhängen produktive Wirkungen zugeschrieben worden seien, indem sie etwa als Voraussetzung politischer Prozesse wie der Staatenbildung verstanden wurde, erläuterte Söffner u.a. mit Blick auf Machiavellis staatsphilosophische Überlegungen.

Die literaturwissenschaftlichen Beiträge verorteten literarische Inszenierungen der Verbindung von Machtpraktiken und Emotionen vor dem Hintergrund der spezifischen historischen Funktionalisierungen dieser Verknüpfung. Dabei wurde vor allem durch die Berücksichtigung von verschiedenen Diskursen, die Machtpraktiken prägen, konfigurieren oder beeinflussen, eine Perspektive eingebracht, die den (kultur-)historischen Fokus für das literaturwissenschaftliche Arbeiten produktiv machen konnte.

3. Medialität

Auf der Grundlage unterschiedlich ausgerichteter medialitätstheoretischer Ansätze widmeten sich Kathryn Starkey, Hartmut Bleumer und Irene Albers Fragen nach dem Verhältnis von Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit in vormodernen Texten. Dabei waren die Gegensätze von ikonischer und mimetischer Wirkung, von textueller Vermitteltheit und lyrischer Präsenz und von Natürlichkeit und Zeichenhaftigkeit des Körpers die zentralen Untersuchungsaspekte.

Unterschiedliche Visualisierungsstrategien der Sünde der Unbeständigkeit in der konsequent gemeinsamen Überlieferung von Text und Bild in Thomasins von Zerclaere lehrhafter Dichtung Der welsche Gast thematisierte Kathryn Starkey (Chapel Hill). Ihre Überlegungen verortete Starkey vor dem Hintergrund mittelalterlicher Diskurse des Sehens und kunsthistorischer Überlegungen zur christlichen Ikonographie. Der Vortrag hob die bis ins 15. Jh. hinein vorhandene Hybridität der Darstellungsstrategien der Sünde in den Handschriften hervor, die auf verschiedene Diskurstraditionen zurückzuführen und an unterschiedliche Affizierungsstrategien gebunden sei. Erst im 15. Jh. werde der ikonische und machtvolle Blick der personifiziert dargestellten Sünde, die den Betrachter frontal anblickt, durch zur Seite blickende und darum mimetisch wirkende Sündendarstellungen abgelöst. Damit werde die ikonische Macht des Blickes zurückgedrängt, und mit der Auflösung der direkten Verbindung zwischen Bild und Betrachter verlagere sich der Schwerpunkt vom Betrachter auf die Darstellung selbst.

Die Überlegungen von Hartmut Bleumer (Göttingen) zielten darauf, auf der Grundlage medialitätstheoretischer Ansätze Eigenarten lyrischer Emotionsdarstellungen und mit diesen verbundene ästhetische Effekte der Unmittelbarkeit bzw. Präsenz greifbar zu machen. Lyrische Präsenzeffekte, so lautete eine grundlegende These des Vortrags, könnten von textanalytisch ausgerichteten Verfahren nicht oder lediglich unzureichend erfasst werden, weil diese auf die Zeichenhaftigkeit der Aussageform und die textuelle Vermitteltheit ausgerichtet seien und auf Unmittelbarkeit und Distanzüberwindung zielende mediale Effekte nicht berücksichtigen würden. Bleumer stellte den Kuss als in der mittelhochdeutschen Lyrik weit verbreitetes Motiv ins Zentrum seiner Beobachtungen und verdeutlichte anhand unterschiedlicher Lieder dessen Funktionalisierung zum Kontaktmedium. Er führte aus, wie das Motiv zur gezielten Ambiguisierung der Denotation beitragen oder auch Klanglichkeit ausstellen und damit das Lied selbst zum Kontaktmedium werden lassen könne. Gerade die mit diesen Aspekten verbundenen ästhetischen Präsenzerfahrungen könnten auch die historische Distanz kollabieren lassen.

In Abgrenzung zu der in der romanistischen Forschung verbreiteten These, Madame de Lafayettes La Princesse de Clèves verzichte auf die Darstellung verkörperter Emotionen und könne gerade deshalb als erster psychologischer Roman verstanden werden, verortete Irene Albers (Berlin) in ihrem Beitrag die Erzählung im Kontext einer novellistischen Erzähl- und Diskurstradition. In das Zentrum ihres Vortrags stellte Albers das Erröten der Protagonistin, das sie als Relikt novellistischer Pathognomik auffasste und im Rahmen einer Affektkommunikation unter den Bedingungen des Verstellens untersuchte. Sie machte deutlich, dass das Erröten auf textinterner wie textexterner Ebene uneindeutig codiert ist, da es als natürlich-körpergebundenes Zeichen einerseits als Indiz für die Disposition der Protagonistin für die leidenschaftliche Liebe, andererseits jedoch auch als Indiz für die geschlechtsspezifische Tugendhaftigkeit und die Bewältigung der Leidenschaften verstanden werden könne. Zudem, so betonte Albers, inszeniere der Text das Erröten zwar als körperliches Zeichen und naturalisiere es damit, zugleich werde diese Naturalisierung jedoch auch problematisiert, indem das Erröten als in Prozesse der Kommunikation, medialen Vermittlung und der Bedeutungszuweisung eingebunden dargestellt werde.

Auf der Grundlage medialitätstheoretischer Ansätze können, so veranschaulichten die Beiträge, beispielweise im Rahmen semiotischer Studien thematisierte, mediale Kategorien wie Präsenz, Unmittelbarkeit oder Natürlichkeit im Kontext eines erweiterten methodischen Horizonts reflektiert und ggf. aus einem neuen Blickwinkel für literaturtheoretische Überlegungen fruchtbar gemacht werden.

4. Rezeption

Die Kategorien Mitleid und Lachen standen im Mittelpunkt der Beiträge von Katja Mellmann und Sebastian Coxon, die sich mit der Frage nach der Übertragbarkeit von Gefühlen vom Text auf die Rezipienten befassten. Für die Kategorie der Faszination interessierte sich Martin Baisch in Bezug auf rezeptionsästhetische Überlegungen.

In ihrem Beitrag zur Psychologie emotionaler Textwirkungen fragte Katja Mellmann (Göttingen) nach den Möglichkeiten der Gefühlsübertragung von literarischen Texten auf die Rezipienten. Ihre Überlegungen basierten auf der in Bezug auf die Kategorie der Empathie seit einigen Jahren viel diskutierten Frage, inwiefern Gefühle neurophysiologisch, vor allem durch sog. Spiegelneuronen, bedingt sind. Mellmann verdeutlichte, dass die Disposition zur emotionalen Ansteckung durch neuronale Strukturen evolutionär geprägt und somit grundsätzlich gegeben sei, aber für die Frage nach den emotionalen Wirkungen literarischer Texte deren mediale Vermitteltheit berücksichtigt werden müsse. So dürfe die Annahme neuronaler Voraussetzungen für Empathie nicht dazu führen, neuronale Prozesse mit Konzepten der Empathie, des Mitgefühls oder gar des Mitleids gleichzusetzen. Sie wies auf Probleme hin, die sich aus einem identifikatorisch motivierten literaturwissenschaftlichen Ansatz ergeben können, der durch ein alltagspsychologisches Konzept von Mitleid als Teilhabe oder Übertragung von Gefühlen motiviert ist und von einer unmittelbaren Gefühlsübertragung von der intratextuellen Ebene auf die Rezeptionsebene ausgeht.

Sebastian Coxon (London) interessierte sich dafür, wie Emotionalität und Komik im Kontext schwankhafter Erzählungen des Mittelalters bzw. der Frühen Neuzeit und der diese prägenden Logik von Schlag und Gegenschlag Gefühle der Überlegenheit herstellen und depotenzierende Effekte bewirken können. Seine Überlegungen zum Ulenspiegel galten dabei sowohl der narrativen Inszenierung von emotionalen Reaktionen wie Zürnen und Lachen im Text als auch der Möglichkeit des textexternen Lachens als Reaktion auf der Rezeptionsebene. Coxon arbeitete heraus, dass Parallelisierungen zwischen der Darstellung des Lachens auf der textinternen und einem dadurch ausgelöstem Lachen auf der textexternen Ebene in Bezug auf deren Funktionalisierungen für die Konstitution von Machtverhältnissen aus zwei Gründen nicht möglich seien: Einerseits seien die Ebenen vielfach durch Asymmetrien in Bezug auf die hierarchischen Strukturen gekennzeichnet, andererseits könne aufgrund der historischen Distanz über die Art der Rezeption nur spekuliert werden.

Martin Baisch (Berlin) widmete sich der Frage, ob und wie die Kategorie der Faszination für die Analyse vormoderner Texte fruchtbar gemacht werden kann, obwohl der Begriff nicht zum Repertoire der ästhetischen Grundbegriffe gehöre und er erst seit dem 19. Jahrhundert wissenschaftliche Verwendung gefunden und seine negative Konnotation abgelegt habe. In Bezug auf Textbeispiele aus Gottfrieds von Straßburg Tristan und Heinrichs von dem Türlin Diu Crône nutzte er die Kategorie der Faszination, verstanden als intensive emotionale Reaktion auf ambivalente Reize, um affektive Überwältigungsstrategien sowohl auf der Ebene der histoire und der Ebene des discours als auch in Bezug auf die Ebene der Rezeption zu beschreiben. Dabei wurde in Bezug auf die Inszenierung der Faszination des Hässlichen in Heinrichs Krone deutlich, dass die Darstellung und das Hervorbringen von Faszinationsmomenten an emotionale Ambivalenzen gebunden ist, die gerade die ästhetische Dimension des Textes, etwa in Form eines Kippens zwischen narrativer Distanznahme und Distanzlosigkeit, kennzeichnen. Baisch zeigte, dass die Kategorie der Faszination trotz ihres Status’ als Begriff ohne geisteswissenschaftliche Begriffsgeschichte für literaturwissenschaftliche Fragestellungen anschlussfähig ist.

Wie medial vermittelte Emotionen rezipiert werden, ist eine im Rahmen der aktuellen Emotionsforschung viel diskutierte Frage, die verschiedene Disziplinen beschäftigt und etwa im Rahmen des Berliner Exzellenzclusters Languages of Emotion von unterschiedlichen, vielfach neurowissenschaftlich ausgerichteten Projekten untersucht wird. Die Vorträge wiesen auf systematische (Mellmann) und historische (Coxon) Grenzen rezeptionsanalytisch ausgerichteter literaturwissenschaftlicher Emotionsforschung hin, zeigten aber auch, dass z.B. auf der Grundlage von Analysen der u.a. durch emotionale settings geprägten Wahrnehmungsstruktur selbst bei historischen Texten Rückschlüsse auf die emotionale Textwirkung sinnvoll sein können (Baisch).

5. Systematisch-theoretische Zugänge

Neben Katja Mellmann, die einen emotionspsychologischen Ansatz mit rezeptionsanalytischen Überlegungen verband, stellten Manuel Braun und Hilge Landweer systematische Überlegungen ins Zentrum ihrer Beiträge. Manuel Braun versuchte, die Frage nach der Verbindung von literarischen Emotionsdarstellungen und der kulturellen Codierung von Emotionen auf der Basis einer gattungstheoretischen Systematik zu klären. Hilge Landweer erläuterte die performative Dimension von Gefühlen auf der Grundlage einer phänomenologischen Konzeptualisierung von Emotionen.

Mit einem Beitrag zum Ebenenproblem der historischen Emotionsforschung knüpfte Manuel Braun (München) an eine in der germanistischen Mediävistik in den letzten Jahren geführte Debatte über den Status literarischer Emotionsdarstellungen an. Er widmete sich der in diesem Zusammenhang lebhaft diskutierten Frage nach der kulturellen Verortbarkeit von Emotionsdarstellungen in der mittelalterlichen Literatur. Braun wollte auf der Basis der Kategorie der Gattung im Hinblick auf Trauerdarstellungen zunächst überprüfen, ob sich textübergreifende Gemeinsamkeiten finden ließen und Trauerdarstellungen somit der Status einer Gattungsfunktion zukomme, um anschließend ggf. Verallgemeinerungen über die Gattungsgrenzen hinaus anstellen und auf eine mögliche gemeinsame kulturelle Matrix schließen zu können. Mit Blick auf verschiedene Texte der Heldenepik führte Braun aus, dass sich ein textübergreifend-gattungsspezifisches Repertoire von Trauerdarstellungen nicht feststellen ließe und Aussagen über eine übergeordnete kulturelle Matrix, die auf die Darstellungen der Trauer Einfluss habe, unmöglich seien. Für Trauerszenen in höfischen Romanen wies Braun auf die im Vergleich zur Heldenepik dichteren intertextuellen Bezüge hin und konstatierte stärkere Übereinstimmungen in den Darstellungen. Neben den uneindeutigen Befunden in Bezug auf die Gattungsebene, sei allen Texten, so führte Braun abschließend aus, eine Darstellung von Trauer als stark veräußerlichter körperlicher Emotion gemeinsam, was einen Rückschluss auf kulturelle Muster eventuell zulasse.

Hilge Landweer (Berlin) ging von der Grundannahme aus, dass Gefühle nicht hinreichend verstanden werden könnten, wenn sie nur als innere Prozesse oder körperliche Zustände gefasst würden und betonte, dass Emotionen von Individuen vielfach in Kategorien wie Atmosphäre, Volumen oder Richtung wahrgenommen werden. Gefühle würden somit oftmals als eigenständig handelnde Akteure und externalisierte Mächte konzeptualisiert. Ausgehend von den Aspekten der Erfahrbarkeit und Wahrnehmbarkeit von Emotionen beschrieb Landweer die Macht, mit der Gefühle handeln und Handlungen hervorbringen können und verfolgte damit eine phänomenologische Perspektive. Am Beispiel der im Roman Drachenläufer von Khaled Hosseini inszenierten Gefühle der Scham und Schuld entwickelte sie den Gedanken, dass bestimmte Emotionen durchaus mit einer dem Gewissen vergleichbaren Autorität und eigenständiger Macht ausgestattet erfahren würden und deshalb zu Handlungen nötigen könnten.

Indem die Vorträge mit einem theoretischen bzw. systematischen Schwerpunkt sehr unterschiedliche (psychologische, literaturtheoretische und philosophische) Perspektiven verfolgten, wurde deutlich, dass im Kontext emotionswissenschaftlicher Ansätze unterschiedliche Theorieentwürfe und methodische Ausrichtungen produktiv gemacht werden können.

6. Fazit

Indem die Tagung die Aufmerksamkeit auf Wechselwirkungen zwischen hierarchischen Verhältnissen und emotionalen Codierungen lenkte und nach literarischen Inszenierungen und kulturspezifischen Funktionalisierungen dieser Beziehungen fragte, berücksichtigte sie einen in der historischen Emotionsforschung bisher zu wenig beachteten Zusammenhang. Die zumeist literaturwissenschaftlichen Vorträge nutzten die von den VeranstalterInnen vorgeschlagene offene Konzeptualisierung der Verbindung von Macht und Emotionen als dynamische sowie kulturell und historisch variable Verknüpfung, indem sie spezifische historische Konfigurationen von Macht und Emotionen untersuchten, einzelne Emotionen ins Zentrum ihrer Überlegungen stellten und verschiedene theoretische Zugänge und methodische Vorgehensweisen wählten. Die vielseitigen Vorträge repräsentierten die Emotionsforschung als ein (noch) nicht systematisch festgelegtes, vielfältiges und lebendiges Forschungsfeld.

Für die literaturwissenschaftlich ausgerichtete Emotionsforschung wurden einige sicherlich auch für zukünftige Studien interessante Aspekte skizziert:

Ein großer Teil der Beiträge betonte, dass Verbindungen von Macht und Emotionen in literarischen Darstellungen vielfach an ambivalente Dynamiken gebunden sind. Viele Texte, so wurde gezeigt, verbinden stabilisierende mit verunsichernden Funktionalisierungen von Emotionen in Bezug auf Machtstrukturen. Auch vermeintlich binär und eindeutig strukturierte Machtverhältnisse, welche die Texte herstellen oder inszenieren, erschienen vor dem Hintergrund von mit diesen in Verbindung gebrachten Gefühlen oftmals fragil oder uneindeutig. Inwiefern bzw. warum Emotionsdarstellungen diese verunsichernde Wirkung entfalten können und ob diese Wirkung auch in Bezug auf andere Kategorien, Konzepte und Strukturen erkennbar ist, muss an anderer Stelle untersucht werden.

Häufig thematisierte Aspekte wie Unmittelbarkeit, (historische) Distanz und Präsenz, aber auch einige rezeptionstheoretische Überlegungen, berührten Fragen nach den Prozessen und Grenzen der Übertragung von Emotionen bzw. der Vermitteltheit (literarischer) Emotionsdarstellungen. Es zeichnete sich ab, dass umfangreichere Studien zur Kategorie der Medialität, die für literaturtheoretische, emotionswissenschaftliche und kulturhistorische Fragestellungen gleichermaßen von Bedeutung ist, lohnend wären.

Die intensiven Diskussionen, die sich den Vorträgen anschlossen, verdeutlichten, dass Emotionen zu einem zentralen Forschungsfeld geisteswissenschaftlicher Disziplinen avanciert sind, das durch produktive Debatten über Methoden und Erkenntnisziele gekennzeichnet sowie für unterschiedliche Paradigmen und Fragestellungen auch in transdisziplinärer Hinsicht anschlussfähig ist. Die VeranstalterInnen haben mit der Fokussierung auf den Konnex von Macht und Emotionen für die literaturwissenschaftliche Emotionsforschung grundlegende Zusammenhänge in den Blick genommen. Der geplante Tagungsband wird sicherlich weiterführende Diskussionen anregen.

Nina Nowakowski

Georg-August-Universität-Göttingen

Seminar für Deutsche Philologie

2010-04-13

JLTonline ISSN 1862-8990

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