Nikola Mirković

Literatur aus philosophischer Perspektive

»Heidegger und die Literatur«. Tagung der Martin-Heidegger-Gesellschaft vom 9.-11. Oktober 2009 im Deutschen Literaturarchiv Marbach.

»Literatur« ist für Heidegger kein unproblematisches Wort. Die Sprachkunst, die für seine philosophische Arbeit zunehmend an Bedeutung gewinnt, nennt er selbst stets Dichtung. Dichtung wird dabei nicht als Teilbereich der Literatur verstanden, sondern steht sowohl für das einzelne dichterische Wort als auch für den Grundcharakter von Kunst überhaupt. Der Titel der Tagung suggeriert daher, wie Ulrich Raulff (Marbach) in seiner umsichtigen Begrüßungsrede bemerkte, einen gewissen Abstand zu Heideggers Verständnis von und Umgang mit literarischen Werken. Zudem wurden, neben den für das Thema zentral bleibenden Hölderlin-Interpretationen Heideggers, auch Bezüge zu Autoren diskutiert, die auf den ersten Blick eine untergeordnete Rolle spielen. Im Vorfeld der Haupttagung fand unter der Leitung von David Espinet (Freiburg) ein Workshop für Doktoranden und Postdoktoranden statt, in dem das Thema in seiner ganzen literaturwissenschaftlichen wie philosophischen Bandbreite aufgegriffen wurde. Die Arbeit des Workshops wird in einem Sammelband dokumentiert, der voraussichtlich Ende dieses Jahres bei Klostermann erscheint.

Die Haupttagung begann mit einem Vortrag von Donatella Di Cesare (Rom) über das Verhältnis zwischen Celan und Heidegger. Bemerkenswert ist, daß Di Cesare nicht nur die Auseinandersetzung Celans mit Heidegger darstellte, sondern ebenso intensiv nachfragte, welche Bedeutung Celan für Heidegger besaß. Auch wenn Heidegger die hebräischen und jüdisch-messianischen Motive Celans wohl unzugänglich blieben, ist dennoch eine von weitreichendem Verständnis geprägte Lektüre der Gedichte nachzuvollziehen. Dieses Verständnis konzentriere sich in dem Heidegger aus seinem eigenen Schreiben vertrauten Versuch, ein wesentlich zur Sprache gehörendes Schweigen beredt zu machen. Celans Enttäuschung über Heideggers Schweigen zur Shoah sei vor diesem gemeinsamen Sprachverständnis beider Autoren zu sehen. Heideggers »unverzeihliche Schweigen« (Lacour-Labarthe) sei nicht zuletzt das Eingeständnis, das Unsagbare, das der Schoah eigne, nicht in die eigene Sprache übersetzen zu können. Es sei womöglich die Zurückhaltung des Denkers, der dem Dichter das Wort überlasse. Eine Zurückhaltung, die der Dichter, der das Gespräch immer wieder suchte, nicht verstanden habe.

Markus Wild (HU Berlin) ging in seinem Vortrag über die grundsätzliche Frage, warum wir lesen, von der Kontroverse zwischen Staiger und Heidegger aus. Er zeigte, wie Philosoph und Literaturwissenschaftler in dem Austausch über Mörikes Gedicht Auf eine Lampe aneinander vorbeireden, da sie von unterschiedlichen Auffassungen des repräsentationalistischen Paradigmas ausgehen. Aus der Perspektive Walter Muschgs seien aber sowohl Heidegger als auch Staiger »Antimodernisten«, die das Leid ausgrenzten und die Dichtung sakralisierten. Dagegen lasse sich Heidegger, insbesondere in seinen Hölderlin-Interpretationen, auch als ein »emphatischer Leser« (Peter Bichsel) verstehen. Er »bewohne« die Literatur. Sie sei ihm eine Gegenwelt, eine Fluchtmöglichkeit vor der Langeweile des Alltäglichen, in die er sich »ein- und hineindenke«, um sich selbst zu begreifen. Obwohl dieses Verfahren subkjektivistische Züge aufweise, könne es zugleich als Anleitung für den Leser verstanden werden.

Am Beispiel des Umgangs mit Jünger zeigte Günter Figal (Freiburg), wie selektiv Heidegger bei der Interpretation von Autoren verfährt. Nicht selten ist es ein einziger Text, der den Ausschlag gibt, wodurch die Interpretation des ganzen Autors bestimmt wird. Im Falle Jüngers ist dies der 1932 veröffentlichte Essay Der Arbeiter, dessen epochale Bedeutung Heidegger unmittelbar erkannte, aber erst spät philosophisch verarbeitete. Der Einfluß Jüngers ist bis in die Wortwahl nachzuvollziehen. So klingt in Heideggers Begriff des »Ge-stells«, der in den 1950er Jahren im Zuge der Technik-Kritik eine prominente Rolle einnimmt, Jüngers Wort »Gestalt« an. »Gestalt« bedeute dabei aber nicht, wie Heidegger behauptet, dasselbe wie Nietzsches »Wille zur Macht«. Dementsprechend sei die Zuordnung Jüngers zum metaphysischen Standpunkt Nietzsches wenig überzeugend. Die eigentliche Stärke Jüngers liege vielmehr darin, dass er sich »am Rande der Philosophie« bewege. Die Genauigkeit seiner Sprache erzeuge eine phänomenale Offenheit, die Heidegger vielleicht erfahren habe, aber mit der Etikettierung als bloße »Beschreibung« nicht ausreichend würdige. Sich einzudenken in die spezifische Qualität der Jünger’schen Prosa und sie für die Philosophie fruchtbar zu machen, sei Heidegger daher letztlich fremd geblieben.

Dennis Schmidt (Pennsylvania State University) thematisierte in seinem Vortrag Heideggers Interesse an Homer, das mit der Suche nach einer Sprache zusammenhängt, die es ermöglicht, die Grundbewegtheit des menschlichen Lebens auf eine ursprüngliche Art und Weise zu beschreiben. Philosophische Sprache zeichne sich durch präzise Begriffe aus, sei aber letztlich durch die Geschichte ihrer Überlieferung unbeweglich und versteift. Demgegenüber zeige sich die vorphilosophische Beschreibungskraft der homerischen Sprache beispielsweise in der Szene im achten Gesang der Odyssee, in der Odysseus sich am Phäakenhof verhüllt, um seine Scham, seine Trauer und damit schließlich sich selbst zu verbergen. Dieses von Heidegger mehrfach interpretierte Verhüllen/Verbergen kann aber auch als gesteigerte Präsenz erfahren werden, wie Schmidt mit Hilfe von Parallelstellen in den platonischen Dialogen Phaidros und Phaidon darlegte. Diese intertextuellen Bezüge können mit Heidegger wiederum als Ausdruck eines ursprünglichen Wahrheitsverständnisses interpretiert werden, demzufolge Wahrheit und Unwahrheit, Verhüllung und Enthüllung als ein dynamisches Geschehen zusammengehören und als solche verstanden wurden. In diesem Sinne sei auch der Tod eine Form der Verbergung, deren Zugehörigkeit zu Leben und Erde heute nur noch in der Dichtung erfahrbar sei.

Marion Hiller (Vechta) untersuchte in ihrem Vortrag den Kunstwerkaufsatz Heideggers in Hinblick auf die Begriffskonstellation von Seinsgeschichte, Welt und Erde. Hiller konstatierte, dass die philosophische Forschung sich mit diesem Text anhaltend beschäftige, dies jedoch auf die Literaturwissenschaft nicht zutreffe. Die Anwendung in der Literaturwissenschaft sei zwar wünschenswert, dabei könne Heideggers »ekstatische Denken« aber nur in einem »Mit- und Durchdenken« seiner Texte adäquat aufgegriffen werden. Bei der Wesensbestimmung von Kunst und Dichtung sei zu bedenken, dass diese ausdrücklich nicht als »Ästhetik« verstanden werden will. Der Kern von Heideggers Bestimmung liege in der seinsgeschichtlichen Rede des »Streits von Welt und Erde«. Nur in dieser Perspektive könne die eigentliche Bedeutung der Kunst, der Geschichte und des Dichtens und Denkens erscheinen, und nur aus dieser würden auch Heideggers aus den 1930er Jahren stammende, geschichtliche Wörter der ›Erde‹ und des ›Volkes‹ in veränderter und produktiver Weise sprechend.

Johann Kreuzer (Oldenburg) widmete sich in seinem Vortrag Heideggers Rilke-Rezeption. Er stellte dar, wie Heidegger in der Abhandlung Wozu Dichter? das Gespräch mit Rilke sucht, dabei aber bei Hölderlin nicht nur den Ausgangspunkt, sondern auch seinen Maßstab nimmt. An und mit Rilke zeige Heidegger das Erbe des wissenschaftsgläubigen und an seiner Wissenschaftsgläubigkeit zugleich irre gewordenen 19. Jahrhunderts. Es sei die »abgemilderte Metaphysik Nietzsches«, die in Rilkes Exposition von »Innigkeit«, dem Zeigen eines »Weltinnenraums« zur Sprache komme. Genau darin entspreche, Heideggers Verständnis folgend, Rilkes Dichtung jenen Subschichten der gesellschaftlichen Verfasstheit des Bewusstseins, die sich mit dem Koordinatensystem »moderne Wissenschaft – totaler Staat – Funktionäre der Technik« beschreiben ließen und die Restmoderne der Neuzeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts kennzeichneten. Ob diese Deutung der Gedichte Rilkes, die Heidegger schließlich wieder in seinen Ausgangspunkt, nämlich in die Auseinandersetzung mit Hölderlin zurückführt, dem Dichter des »Weltinnenraums« gerecht wird, war nicht mehr Gegenstand des Vortrags, sondern der anschließenden Diskussion.

Bezüge zu Lesertypologien, Gattungsklassifikationen sowie Bewertungskriterien für die Qualität von Literatur, die in den Vorträgen und Diskussionen entwickelt wurden, verwiesen auf die literaturtheoretische Relevanz der Philosophie Heideggers. Diese Bezüge näher herauszuarbeiten und zu systematisieren, stand jedoch nicht im Vordergrund der primär an philosophischen Fragen interessierten Tagung. Ihnen weiter nachzugehen, bleibt der künftigen Forschung aufgegeben.

Nikola Mirković

Albert-Ludwigs Universität Freiburg

2010-02-24

JLTonline ISSN 1862-8990

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