Diana Mantel und Ingrida Povidisa

Liebe, Tod und Trauer – Emotionen an der Grenze

von Sprache und Literatur

Emotionale Grenzgänge. Konzeptualisierung von Liebe, Trauer und Angst in Sprache und Literatur. Graduiertenkonferenz organisiert von ProLit und LIPP. 8. bis 10. Oktober 2009, München.

»Emotionale Grenzgänge« zu erforschen – das war das Ziel der ersten Graduiertentagung, die von den Promotionsstudiengängen ProLit (Internationaler strukturierter Promotionsstudiengang »Literaturwissenschaft«) und LIPP (Internationales Promotions-Programm Sprachtheorie und Angewandte Sprachwissenschaft) der LMU München gemeinsam organisiert worden war. Unter diesem Überthema standen den Organisatoren mehrere Ziele vor Augen: Zum einen wurde eine Schnittstelle zwischen Literaturwissenschaft und Linguistik gesucht, zum anderen wurde aber auch der Blick über den Rand der eigenen Disziplinen gewagt, damit eine Verbindung zu anderen Wissenschaften wie Philosophie, Kommunikationswissenschaft und Psychologie entstehen konnte – somit stellte die Konferenz auch in ihrer interdisziplinären Ausrichtung einen Grenzgang dar. Eines der Ziele der bei der Organisation beteiligten PromovendInnen war, eine Art Forum und Diskussionsplattform für DoktorandInnen anderer Hochschulen zu bieten, um Projekte vorzustellen, neue Anstöße für die eigene Arbeit zu gewinnen und vor allem mit anderen DoktorandInnen in Kontakt zu treten.

Das Verhältnis von Sprache beziehungsweise Literatur zu Emotionen ist dabei ein momentan sehr intensiv und kontrovers diskutiertes Thema. Auch in Wissenschaften wie Psychologie wurde lange Zeit die Erforschung von Emotionen vernachlässigt, was sich aber seit Beginn der 80er Jahre änderte. Forscher wie Klaus R. Scherler, Harald A. Euler und Heinz Mandl bezogen Emotionen wieder stärker in die Forschung ein, ein Schritt, der auch als »Emotionale Wende« bezeichnet wurde. Die Einbeziehung von Sprache in diese Forschung wurde aber noch lange beiseite gelassen, obwohl sich Sprache und Emotionen bedingen: Emotionen werden unter anderem mit sprachlichen Mitteln codiert, während beispielsweise fehlende Emotionen sich problematisch in Kommunikationssituationen auswirken. Erst in den letzten Jahren gab es eine intensive Auseinandersetzung mit dem Thema ›Emotionen‹ in den Sprach- und Literaturwissenschaften: Auch hier werden jetzt verstärkt diese Wechselwirkungen untersucht und besonders die Empathie des Lesens wird nicht mehr vernachlässigt – in diesem Aspekt steuern gerade diese Wissenschaften eine »Emotionale Wende« an, was von vielen Konferenzteilnehmern immer wieder angesprochen wurde. [1]

Thematisch standen in der Konferenz Emotionen im Vordergrund, die in ihrer Intensität und Ambivalenz meist selbst Grenzphänomene darstellen, wie Liebe, Trauer und Angst. Zentral war in der Konferenz die Grenzsituation, die die Darstellung dieser Emotionen in Sprache und Literatur schafft. Die (Un-)Möglichkeit, die Unmittelbarkeit von Emotionen in ritualisierte oder begrenzte Formen der Sprache zu bringen, aber auch die Überlegung, inwieweit Emotionen die Sprache so selbst zur Grenzerfahrung erweitern beziehungsweise vorgegebene Konventionen sprengen können, waren daher Grundfragen der Konferenz.

Mit jeweils drei parallel laufenden Panels und insgesamt fast 40 Vorträgen bot die Konferenz einen großen Rahmen für das Thema. Aufgrund der zahlreichen Vorträge können nur einzelne davon im Tagungsbericht vorgestellt werden, die besonders einen Überblick über die fokussierten Emotionen Trauer, Angst und Liebe bieten sollen. [2]

Die Konferenz wurde von vier Keynote-Sprechern gerahmt, die zwar aus vier verschiedenen Bereichen stammten, dabei aber stets auch Ergebnisse aus anderen Disziplinen einbrachten.

So untersuchte der Philosoph Mikko Salmela (München/ Helsinki) die Funktion von Emotionalität in Grenzsituationen und verband dabei Erkenntnisse aus Philosophie und Psychologie. Er berief sich in seinem Vortrag »Emotional Authenticity in Boundary Situations« auf Karl Jaspers’ Auseinandersetzung mit menschlichen Grenzsituationen. Zentral war bei Salmela die Untersuchung von Authentizität in Grenzsituationen, wie Tod oder Kampf, in denen das Individuum keine eindeutige Erklärung seiner eigenen Gefühlslage geben kann. Durch diesen inneren Konflikt, der vom Subjekt meist nicht als solcher wahrgenommen wird, kann es zu ambivalenten Gefühlen kommen, wie gleichzeitiger Liebe und Hass gegenüber einem Objekt – was das Individuum in einen noch stärkeren Konflikt stürzen kann. Salmela konstatierte aber auch, dass diese Gefühle das Potential bergen, in diesen Situationen neue Lösungswege zu finden, und damit auch eine Möglichkeit im Prozess der Weiterentwicklung bieten.

Thomas Anz (Marburg) bot am zweiten Tag der Konferenz einen Einblick in die literaturwissenschaftlichen Aspekte der Themenstellung mit dem Vortrag über »Todesszenarien – Literarische Techniken zur Evokation von Angst, Trauer und anderen Gefühlen«. Anz sprach zunächst davon, wie leicht Emotionen über den Tod von den Medien evoziert werden. So werden Kriegsopfer einerseits als gerechtfertigt dargestellt, weil sie, der »politisch bösen Seite« zugehörig, als nicht trauerwürdig erscheinen, andererseits gibt es »unschuldige Opfer« des Kriegsgeschehens, deren Tod Empörung hervorruft. Diese Aufteilung in trauerwürdige und nicht-trauerwürdige Opfer wird durch Bilder und Artefakte reguliert, so Judith Butler in ihrer Studie Krieg und Affekt. Todesszenarien in der Literatur sind üblich und treten oft in enger Verbindung mit der Liebe auf – und sind in Märchen omnipräsent. Literarische Texte als »emotionalisierende Artefakte« evozieren Emotionen, erzeugen Stimmung und rufen Szenarien hervor, die den natürlichen gleichen. Der spezielle Fall der Todesszenarien folgt bestimmten Regeln und besitzt unterschiedliches Emotionalisierungspotenzial (als zukünftige Möglichkeit, gegenwärtiger Vorgang oder vergangenes Geschehen, Erinnerung). Dadurch werden Figuren im Text mit einer emotionalen Wertung versehen, wie Sympathie, Antipathie, und der Leser wird zum teilnehmenden oder distanzierten Beobachter. Die dadurch hervorgerufenen Emotionen stellen eine adaptive Leistung dar und sind somit eine Möglichkeit der spielerischen Erprobung ›natürlicher‹ Situationen.

Anknüpfend an neuere Publikationen von Julia Kristeva, die sich mit Behinderung und Vulnerabilität als politischem Statement auseinander setzen, untersuchte Ulrike Lüdtke (Hannover), Professorin für Sprachpädagogik und Logopädie und dritte Keynote-Sprecherin, in ihrem Vortrag »Die Vulnerabilität des Logos: Zum Verhältnis von Emotion und Sprache aus interdisziplinärer Sicht« Sprachstörungen als Grenzphänomen der Sprache. Verbunden mit der Schwierigkeit, die eigene Sprache vollständig zu kontrollieren, empfinden sich Menschen mit Sprachstörungen auch oft als sozial Ausgegrenzte. Lüdtke wies auf die umgekehrte Verbindung von Sprache und Emotionen hin: So führen beispielsweise nicht nur Sprachstörungen zu emotionalen Problemen, sondern Emotionen sind gerade in der Sprachentwicklung von oft unterschätzter Bedeutung. Lüdtke betonte die Wichtigkeit eines »emotional turns« in der Wissenschaft – nur so könne die Verbindung zwischen Sprache und Emotionen als einander bedingenden Faktoren umfassend erforscht werden.

Reinhard Fiehler (Mannheim) stellte die Frage »Wie kann man über Gefühle sprechen?« und untersuchte die »Sprachlichen Mittel zur Thematisierung von Erleben und Emotionen«. Dabei unterschied er Emotionen vom Erleben, bei dessen Beschreibung unterschiedliche Bildlichkeit und metaphorische Konzepte verwendet werden. Emotionen stellen, aus der Sicht Fiehlers, einen Teil des Erlebens dar, machen es aber nicht aus, und sind aus einer funktionalen Perspektive eine bewertende Stellungnahme, jedoch keine Handlung. Sie sind sozial verfasste oder geregelte Phänomene innerhalb eines Personalsystems oder eines Interaktionssystems. Fiehler unterschied drei kommunikative Prozesse von Erleben und Emotionen: Manifestation als Ausdruck und Thematisierung, als Deutung oder als Prozessierung.

Das Panel »Familie und Trauer« fokussierte die Besonderheiten von Trauer in Familien und widmete sich dem Umgang mit verstorbenen Angehörigen und ihrer literarischen Verarbeitung. Hier eröffnete Andrea Frohleiks (Osnabrück) mit ihrem Vortrag »Literarische ›Trauer-Arbeit‹ im Konflikt zu gesellschaftlichen Normen. Eine Untersuchung zu Simone de Beauvoirs autobiographischen Werken Ein sanfter Tod und Die Zeremonie des Todes«. Frohleiks betonte, dass Schreiben hier stets zur Waffe gegen den Tod wurde und für de Beauvoir die Möglichkeit bot, unaussprechliche Gefühle in eine Form zu bringen. Besonders die Absurdität des Todes wird in Ein sanfter Tod beim Tod der Mutter thematisiert, während in Eine Zeremonie des Todes bei der Beschreibung des Sterbens von de Beauvoirs Lebensgefährten Jean Paul Sartre auch der physische Verfall und die damit verbundenen Erscheinungen im Vordergrund stehen. Zum einen erreicht de Beauvoir so eine sehr ehrliche Darstellung, aber Frohleiks betonte auch, dass gerade die Schilderung von Details zu Krankheit und Sterben in der zeitgenössischen Kritik Widerstand fand. Umso stärker hob Frohleiks den Tabubruch hervor, den de Beauvoir damit beging und der auch an den gendertypischen Zuschreibungen von Trauer liegt. Während Männern zugeschrieben wird, auf Verlusterfahrungen betont rational zu reagieren oder sie zu verdrängen, werden Frauen Reaktionen wie expressives Ausdrücken oder übertriebenes Versinken in Erinnerungen zugeschrieben. De Beauvoir dagegen untergräbt diese binären Geschlechterzuschreibungen, indem sie eine betont distanzierte Haltung sucht, die sich in der demonstrativen Offenlegung des Verfalls widerspiegelt. Hierin liege gerade das Potential von de Beauvoirs Trauerarbeit, weil sie versuche, die Erfahrung von Tod und Sterben eines Geliebten begreiflich zu machen und gleichzeitig gegen das Verschweigen anzukämpfen.

Eva-Maria Schertler (Innsbruck) untersuchte in ihrem Vortrag »›unspoken grief‹ – Geschwistertrauer im Spannungsfeld von Schweigen und Verheimlichung« die selten thematisierte Trauer um tote Geschwister. Dabei verfolgte sie die Thematik anhand von Texten der Gegenwartsliteratur. Besonders im Fokus steht in den Texten dabei das Verhältnis von Schweigen über den Tod der Geschwister (auf der Seite besonders der Eltern) und dessen erzählerischer Verarbeitung, die zwischen extensivem Ausdruck und textlichen Leerstellen schwankt. Dabei zog Schertler auch Erkenntnisse aus soziologischen und psychologischen Studien hinzu, in denen die Trauer von Eltern beim Tod eines Kindes stärker im Vordergrund steht und die Thematik der Geschwistertrauer erst seit einiger Zeit in den Mittelpunkt rückt. So zeigt sich das beispielsweise in Alexa Henning von Langes Roman Woher ich komme, in dem der Unfall des Bruders von Vater und Tochter nicht aufgearbeitet wird und stattdessen Schweigen und stummer Schuldvorwurf zwischen beiden herrschen – eine Situation, die besonders auf Seiten der Tochter und Erzählerin zu psychischen Problemen führt. Schertler betont, dass dieser Roman, wie auch andere Texte über Geschwistertrauer, sich einer positiven Verarbeitung von Geschwistertrauer verschließt: Es kommt zu keiner Auflösung, und wie auch in anderen Texten über Geschwistertrauer können die Figuren mit ihrem Erzählen des Geschwistertodes keinen Frieden finden.

»Angst-Diskurse in Ingeborg Bachmanns Todesarten-Zyklus« verfolgte Sandra Poppe (Mainz) in ihrem Vortrag. Dabei sind diese Diskurse in Bachmanns Werk mit zahlreichen anderen Diskursen verbunden, wie Faschismus und Sprachkritik. So wird beispielweise der Faschismus ins Private gebracht, wenn stets die Väter die Täterfiguren sind. So wird auch das Privat- und Familienleben zum Krieg, in dem besonders das Geschlechterverhältnis problematisiert wird. Stets sind es die Frauen, die Angst vor den Männern haben, was in einer weiblichen Sprachlosigkeit gipfelt – damit scheitert aber, wie Poppe betonte, auch immer das Finden einer neuen Sprache: Jeglicher Versuch, eine eigene Sprache zu finden, beispielsweise in den Briefen der Texte, bleibt fragmentarisch. Bachmann selbst beschäftigte sich in ihrer Dissertation unter anderem mit der Thematisierung von Angst und sah in einer künstlerischen Umformung die einzige Möglichkeit, das Unsagbare zu artikulieren. In ihren Texten geschieht das nicht als bloße Angstliteratur, in der Schrecken um des Schreckens willen dargestellt wird. Trotzdem werden Elemente und Motive dieser Angstliteratur benutzt, beispielsweise die Betonung der Frau als Opfer oder die Thematik des Doppelgängers. Dabei werden diese Motive jedoch variiert, wodurch zu simple Zuschreibungen untergraben werden. Damit schafft sich Bachmann eine ganz eigene Poetik der Angst, in der der sprachlich-poetische Ausdruck dieser Angstdiskurse vor dem Hintergrund der anderen Themen neues Potential hinsichtlich Sprachkritik und Emotionsdarstellung gewinnt.

Im Panel »Liebe – von Werther bis Amélie« sprach Melanie Henkes (Bochum) in dem Vortrag »Emotionale Entgrenzung im Einheitstaumel der Liebe – Goethes Werther« über Die Leiden des jungen Werther als einer Aufklärungskritik und Reaktion auf die Defizite der Aufklärung, als ein Scheitern des Versuchs, mittels medial und emotional konstruierter Phantasien von der Einheit (mit der Natur, mit der Geliebten, mit der Welt) eine sinnstiftende Weltordnung zu begründen. Nur die Liebe als Emotion vermag, so Henkes, das moderne Individuum von der Zersplitterung der Realität zu erlösen. Dabei ist es nicht die Liebe abstrakter Tugenden, sondern einer individuellen Person, wodurch die Einheit mit der Welt und mit sich erreicht wird. Die Liebe wird zum neuen Mythos und zur Überschreitung der Grenze zwischen Individuum und Einheitsverlangen, somit zum kulturellen Phänomen der Moderne.

Der Vortrag »›Ein Romantiker, werden sie sagen.‹ Entgrenzte Liebe in F.R.Fries‘ Der Weg nach Oobliadooh und Das nackte Mädchen auf der Straße« von Jens Kloster (Münster) stellte zwei Werke von Fritz Rudolf Fries vor und konzentrierte sich auf die Liebesfiktionen. Die Romane, stark unter dem Einfluss der Psychoanalyse Jacques Lacans, verbinden die Liebessemantik mit dem Akt des Schreibens und der Literaturproduktion und -rezeption und rekurrieren zudem intertextuell auf Liebesdiskurse. In beiden werden Stereotypen von Frauenfiguren und Schriftlichkeit zum Thema. Die für das Schaffen notwendige Fantasie bewirkt bei der Liebe eine imaginative Aufwertung des Liebesobjekts, im Extremfall eine vollkommene Fingierung desselben. Somit verschmilzt die Grenze zwischen Realität und Fiktion, und der Liebende in einem psychisch destabilisierten Zustand überschreitet die Grenze des Individuellen. Dies manifestiert sich im Text durch die Störungen herkömmlicher Narrationsschemata.

In »Zum Mediengebrauch von Liebe« versuchte Roman Giesen (München) anhand des Films von Jean-Pierre Jeunet Die Fabelhafte Welt der Amélie die Liebessemantik im Film aufzuzeigen und damit seine These, das exklusive Verstehen der Liebenden in den gegenwärtigen Filmbeispielen sei immer an Mediennutzung gebunden, zu belegen. Die Hauptfigur des Films, Amélie, greift in allen Bereichen der zwischenmenschlichen Kommunikation auf (weit definierte) Medien zurück, indem sie beispielsweise, um jemandem Trost zu spenden, einen Liebesbrief erfindet oder Fotografien fingiert, um die Reiselust zu wecken. So scheinen die Medien der einzige Weg zu sein, auf dem die Hauptfigur »jene exklusiven Horizonte harmonischen Verstehens« zu erreichen vermag.

Liebe aus der historischen Perspektive untersuchten zwei Vorträge, die sich mit Romanen aus dem 18. Jahrhundert beschäftigten: Christian Metz (Frankfurt) mit »Liebe, narratologisch: Sophie von La Roches Geschichte des Fräuleins von Sternheim« und Anne Brüske (Heidelberg) mit »Historische Liebessemantik und Struktur intimer Systeme im französischen Briefroman des 18. Jahrhunderts – Mme Riccobonis Lettres de Mistriss Fanny Butlerd und Laclos‘ Liaisons dangereuses«. Beide Vorträge stützten sich auf das grundlegende systemtheoretische Werk Niklas Luhmanns Liebe als Passion. Metz untersuchte narratologische Strukturen der Generierung und Erschreibung von Liebescodes, die in den modernen Texten beschrieben werden. Brüske sprach von dem Zusammenspiel von Liebessemantik und Systemen der Intimität auf den Ebenen der Versprachlichung und der Struktur intimer Beziehungen, in denen sich ein historischer Wandel vollzieht.

Im Panel »Worte; Emotionen«, das einen linguistischen Schwerpunkt der Emotionsforschung innerhalb der Konferenz darstellte, untersuchte Andreas Rothenhöfer (Heidelberg) in seinem Vortrag zu »Kriegsende und Neubeginn: Umbruchskonstruktion und Einstellungsindikation« wie sich Sprache in gesellschaftlichen und historischen Umbruchssituationen wie dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Deutschland verhält. Denn die individuellen und politischen Grenzerfahrungen erzwingen starke Emotionen, die ihren Ausdruck in besonderen sprachlichen Formulierungen finden. Bei gemeinsamen Konflikterfahrungen kommt es auch zu kollektiven Emotionen, die wiederum nach den Bedingungen des kollektiven Gedächtnisses (in Bezug auf Theorien von Jan Assmann) auch auf die sprachlichen Muster der Erinnerung übertragen werden. Rothenhöfer stellte besonders die usuellen Prädikationen von Betroffenheit in den Vordergrund, die sich anders als übliche konnotative Emotionalität verhalten. So zeigt sich in Formulierungen wie »die Zerschlagung unserer deutschen Heimat« und »die Zerschlagung des Hitler-Faschismus durch die Rote Armee« die Unterschiedlichkeit von propositionalen Einstellungen, die sich in einer Reihe von Formulierungen und Schlüsselwörtern niederschlagen, die bestimmte Umbruchstypen abgrenzen.

Einen Blick auf die Grammatik als Grundstruktur der Sprache selbst, und damit auch der Emotionsdarstellung, warf Tiia Palosaar (München) in ihrem Vortrag »Liebe, Angst und Trauer im Estnischen aus der konstruktionsgrammatischen Perspektive«. Dabei baute sie ihre Ausführungen auf der Konstruktionsgrammatik auf, die, statt die Kombination von syntaktischen Einheiten als Grundlage von Grammatik anzunehmen, Konstruktionen als Basis sieht, bei denen Form und Bedeutung untrennbar verbunden sind. Besonders bei der Verbalisierung von Emotionen gibt es einige Sonderfälle im Estnischen, die Palosaar anhand einiger Beispiele vorführte. So spielt zum Beispiel der Inessiv im Ausdruck von Emotionen eine besondere Rolle, wie bei der Formulierung »in Trauer sein« – womit die lokale Vorstellung eines Behälters von Emotionen erzeugt wird. Hier, betonte Palosaar, entsteht ein besonderes kognitives Schema, das Auswirkungen auf die Vorstellungen von Emotionen hat.

Im Panel »Erlesene Angst« eröffnete Claudia Hillebrandt (Göttingen) mit einer Untersuchung zu »›Das grauenvolle Drommetenrot‹ – Zum Angstkonzept in Leo Perutz Der Meister des jüngsten Tages«. In Perutz’ wenig bekanntem Roman aus dem Jahr 1923 wird Angst zum einen in der Inszenierung der individuellen Angst des Protagonisten dargestellt, zum anderen spielt aber auch die »Urweltangst« [3] eine zentrale Rolle im Roman, die alle Menschen seit Urzeiten quält. Angst als grundlegendes, aber gleichzeitig unerklärbares Phänomen wird zu einem stilbildenden Gestaltungsmittel des Romans, wenn es heißt: »Der Sitz der Phantasie ist zugleich der Sitz der Furcht«. [4] Denn Angst wird nicht nur inhaltlich thematisiert, sondern spielt auch in einer steten Verunsicherung des Lesers eine Rolle, indem Perutz mit narrativen Elementen wie dem unzuverlässigen Erzähler spielt – so lässt sich am Ende nicht mit Sicherheit entscheiden, wie weit man dem Protagonisten glauben kann. Mit dieser Verunsicherung wird der Roman selbst zu einer emotionalen Grenzerfahrung, weil sich kaum mehr zwischen narrativen Experimenten und performativen Angstdarstellungen unterscheiden lässt.

»2666 Formen erlesener Angst« stellte Daniel Graziadei (München), vor – basierend auf dem Roman 2666 von Roberto Bolaño. In seinem Vortrag konzentrierte sich Graziadei auf den vierten Teil des Buches, der fast ausschließlich aus Berichten über Leichenfunde und Autopsien ermordeter Frauen in einer mexikanischen Grenzstadt besteht. Scheinbar wird dieses Kapitel fast vollständig von emotionaler Kälte und Distanz beherrscht, doch Graziadei hob hervor, dass so auch eine existenzielle Angst entsteht, die sich auch darin spiegelt, dass es keine Wertung oder Auflösung gibt, also jeglicher sichere Standpunkt fehlt. Ohne eine klare Zuordnung wird der Leser auf seine eigene Irritation zurückgeworfen. Zudem hob Graziadei hervor, dass der Text in seiner kontinuierlichen Reihung ohne Auflösung zu einer narrativen »Müllhalde« wird, genau wie auch der Ort, an dem die meisten Toten gefunden werden – so zeigt sich die Gleichgültigkeit der Gesellschaft, in der die Leichen meist schnell vergessen und zu einer bloßen Zahl werden. So entsteht ein besonderer Grenzgang der Angst: eine Kombination aus narrativen und inhaltlichen Elementen, die aber auch in Relation zu den tatsächlichen Morden in der mexikanischen Grenzstadt Ciudad Juárez stehen und, durch die Verweigerung einer klaren Zuordnung, auch ein vielseitiges Konzept von Furcht erzeugen.

Angst war auch der Gegenstand des interdisziplinären Vortrags von Hans Jörg Schmidt (Heidelberg) über »Ökonomie(en) und Politik(en) der Angst. Unterschiede, Gemeinsamkeiten und Interferenzen semantischer Transposition«. Schmidt präsentierte die Zwischenergebnisse eines DFG-Teilprojekts des Netzwerks Furcht und Zittern – Spielformen der Angst, der in den gesellschaftlichen Teilbereichen der Ökonomie und Politik zeitlich parallele Angstphänomenologien wie Krisen untersucht. Anhand des aktuellen Beispiels der Wirtschafts- und Finanzkrise und deren publizistischer Aufarbeitung diskutierte Schmidt verschiedene Angstauslöser und daran orientierte Bewältigungsmechanismen, ein zentrales davon sind die sprachlichen Wendungen, die implizite Lösungen beinhalten.

Im Panel »Shoa sprechen?« stellte Friederike Reents (Heidelberg) eine Untersuchung über die Versprachlichung der Angst in »Hugo von Hofmannsthals Märchen der 672. Nacht und Jean Amérys Die Tortour« vor. Während sie bei Hofmannsthal eine zentrifugale und diffus-chronische Angst feststellte, die sich sprachlich in Räumen manifestiert, ist es in Amérys Werk eine zentripetale Angst, die der zentrifugalen Lebenskraft entgegensteht. Helge Skirl (Jena) untersuchte in seinem Vortrag mit dem Titel »Zur Verbalisierung extremer Angst und Trauer: Metaphern in der Holocaustliteratur als Beispiel« die sprachliche Manifestation der Angst in der narrativen Holocaustliteratur unter der Perspektive der kognitiven Linguistik. Die Untersuchung fasste Metaphern ins Auge, da sie unvermeidlich sind, um schwer fassbare (Erfahrungs-)Phänomene zum Ausdruck zu bringen, wie die Grenzsituation der Holocaust-Erfahrung, die durch die Emotionen der Trauer und Angst durch die ständige Lebensbedrohung und die Ermordung der Mitmenschen markiert ist. Ina Wester (Eichstätt-Ingolstadt) wandte sich einem weniger bekannten Thema zu: den Kindertransporten des Jahres 1938 aus Deutschland nach Großbritannien und der Bewältigung dieser Erfahrung in der Lyrik der drei Opfer dieser Fluchtwelle Käthe Löwenthal, Gerda Mayer und Lotte Kramer. Der Vortrag »›All the Leaves have lost their Trees‹: Der Kindertransport und seine Präsenz in der Lyrik von Gershon, Mayer und Kramer« untersuchte die Gedichte dieser drei Autorinnen, die nicht durch die Grausamkeit des Holocaust, sondern durch den Verlust der Elternliebe und der Heimat, die Schuld und das Vergessen geprägt sind. Diese Thematik bestimmt die Sprache und die Symbolik ihrer Gedichte, und die sprachliche Traumatisierung, der Verlust der sprachlichen Heimat oder der Erwerb einer linguistischen Heimat, wird zu ihrem Gegenstand.

Durch die Unterschiedlichkeit der Panels und Fachrichtungen wurde das Überthema von verschiedenen Seiten beleuchtet, im Vordergrund stand dabei die Aufgabe, dieses aktuelle Thema in seinen Dimensionen auszuleuchten und neue Perspektiven für die eigene Arbeit zu finden. Insgesamt betonten die Teilnehmer in der Evaluation der Konferenz dementsprechend besonders, dass sich für sie ein gute Plattform ergeben habe, auf der sie zum einen ihre jeweiligen Arbeitsschwerpunkte und Projekte vorstellen konnten, aber auch Austausch mit Teilnehmern anderer Disziplinen hatten, den die meisten als bereichernd für ihre Arbeit empfanden. Kritisiert wurde von einigen Teilnehmern, dass der linguistische Anteil an der Konferenz noch verstärkt hätte werden können, beziehungsweise, dass eine noch stärkere Einbeziehung von anderen Disziplinen vorteilhaft wäre. Gelungen fanden die meisten hingegen die Strukturierung der Panels, innerhalb derer eine intensive Diskussion gelang – die sich vielleicht in einer gemeinsamen Diskussion zu Beginn oder Schluss noch hätte vertiefen können, was auch hätte helfen können, ein deutlicheres gemeinsames Ergebnis für alle herauszuarbeiten. Die anfängliche Aufgabe, eine Diskussionsplattform zu schaffen, ist damit rückblickend gelungen, denn das Interesse war für ein Erstlingsprojekt unerwartet hoch, und es konnten nur ein kleinerer Teil der eingeschickten Abstracts angenommen werden.

Kein Grenzgang war die erfolgreiche Zusammenarbeit der beiden Promotionsprogramme ProLit und LIPP. Die Tagung stellt einen erfolgreichen Auftakt der Reihe languagetalks dar, in der in Zukunft jedes Jahr eine Konferenz für junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Disziplinen organisiert werden wird. Ein Sammelband mit zentralen Themen und Vorträgen der Konferenz ist in Planung.

Diana Mantel, M.A. und Ingrida Povidisa, M.A.

Ludwig-Maximilians-Universität München

Anmerkungen

[1] Vgl. dazu Thomas Anz, Emotional Turn? Beobachtungen zur Gefühlsforschung, URL: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=10267 (letzter Zugriff 27.12.2009) [zurück]

[2] Damit kann leider nur ein kleiner Einblick in das weite Spektrum der Themen gegeben werden, das vollständige Programm kann auf der Homepage der Konferenz http://www.languagetalks.fak13.uni-muenchen.de/programm/index.html eingesehen werden (letzter Zugriff 27.12.2009) Die vorgestellten Panels und Vorträge stellen dabei keine elitäre Auswahl dar, sondern präsentieren einen Querschnitt zentraler Themen der Konferenz. [zurück]

[3] Leo Perutz, Der Meister des Jüngsten Tages, München 2003, 190. [zurück]

[4] Ibid. [zurück]

2010-01-13

JLTonline ISSN 1862-8990

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