Dorothee Birke und Michael Butter
Wissen ordnen
FRIAS-Arbeitsgespräch »Literatur und Wissen – Sondierung eines Forschungsterrains« 29.09.-01.10.2008.
Die »School of Language and Literature« des Freiburg Institute for Advanced Studies veranstaltete vom 29. September bis 1. Oktober 2008 ein Arbeitsgespräch zum Thema »Literatur und Wissen«, das seit geraumer Zeit unter den Schlagwörtern »Poetologie des Wissens«, »Geschichte des Wissens« oder auch »Wissenspotenziale von Literatur« vor allem in der Germanistik, aber auch in anderen Literaturwissenschaften kontrovers diskutiert wird. Ziel der Tagung war es, wie Organisator Tilmann Köppe (Freiburg) in seiner Einführung darlegte, erstens das mittlerweile unübersichtliche Forschungsfeld des Verhältnisses zwischen Literatur und Wissen zu strukturieren, zweitens die Methoden oder Verfahren näher zu beleuchten, die zur Untersuchung des Bereiches angewandt werden, drittens Gegenstände und Erkenntnisinteressen der Wissenspoetologie bzw. Geschichte des Wissens zu untersuchen und so viertens zu Ansätzen einer Bewertung der einzelnen Forschungszweige zu gelangen. Köppe schlug für eine erste Sondierung des Forschungsterrains drei Ordnungsschemata vor: das traditionelle Modell literarischer Kommunikation bestehend aus Autor, Text, Leser und Kontext, bei dem verschiedene Forschungsansätze an unterschiedlichen Positionen ansetzen; ein Modell, das Ansätze danach ordnet, wie sie die Funktionen von Literatur im Hinblick auf Wissen behandeln (z. B. Literatur vermittelt Wissen vs. Literatur antizipiert Wissen); und schließlich ein Modell, das einzelne Arbeiten und Ansätze den »traditionellen« Teilgebieten der Literaturwissenschaft wie Literaturgeschichte, Literaturtheorie oder Rezeptionsforschung zuordnet.
Olav Krämer (Freiburg) leistete in seinem Beitrag »Intention, Zirkulation, Korrelation. Zu verschiedenen Konzeptionen der Beziehung zwischen Literatur, Wissenschaft und Wissen« einen wichtigen Schritt zur angestrebten Strukturierung des Forschungsfeldes, indem er drei verschiedene Ansätze unterschied, die sich unter die jeweiligen Leitbegriffe »Einfluss/Intention«, »Zirkulation« und »Korrelation« subsumieren lassen. Während Intentionalisten laut Krämer meist traditionelle Einflussforschung betreiben und somit an der Autorseite des Modells der literarischen Kommunikation ansetzen, fokussiert der »Zirkulations«-Ansatz, der sich oft auf den angloamerikanischen New Historicism beruft, das wechselseitige Austauschverhältnis von Literatur und Wissenschaft. Krämer kritisierte die Arbeiten dieser Schule für ihre unpräzise Verwendung nicht explizierter Konzepte wie »soziale Energie«, »kulturelle Codes«, »Problemlagen« oder »Begehren«. Korrelationistische Ansätze, die sich ebenfalls dem Verhältnis von Text und Kontext widmen, überzeugen Krämer dagegen dadurch, dass sie keine unhaltbaren Hypothesen über Austauschprozesse zwischen Literatur und Wissenschaft formulieren, sondern die Bereiche als eigenständig begreifen und somit auch deren spezifische Eigenlogiken untersuchen.
Andrea Albrecht (Freiburg) wies zu Beginn ihres Vortrags »Zur Ästhetik, Rhetorik und Poetik mathematischen Wissens« auf die Notwendigkeit hin, den Wissensbegriff je nachdem, auf welche Wissenschaft man sich bezieht, zu differenzieren. Sie betonte den epistemischen Sonderstatus der Mathematik, die ihr Wissen widerspruchsfrei und regelgerecht aus Ausgangssätzen ableitet und somit nicht in Erfahrung gründet. Zugleich forderte sie, die Mathematik nicht auf ihre propositionale Struktur zu reduzieren, sondern über die Praxis der mathematischen Arbeit auch das nicht-propositionale Wissen der Disziplin in den Blick zu nehmen. In zweiten Teil ihres Vortrags diskutierte sie dann anhand von Textbeispielen der deutschen klassischen Moderne verschiedene Arten des literarischen Bezugs auf mathematisches Wissen und insbesondere auch auf Wissen über die Mathematik.
Tom Kindt (Göttingen) ging in seinem Vortrag auf die im letzten Jahr in der Zeitschrift für Germanistik geführte Debatte zwischen Tilmann Köppe und anderen um das Verhältnis von Literatur und Wissen ein, während der verschiedene Forscher (Roland Borgards, Andreas Dittrich und Fotis Jannidis) Köppes Forderung nach einem engen, epistemischen Wissensbegriff für die Literaturwissenschaft kritisierten. Kindt argumentierte, dass die Kritiker zumeist die Form, in der Köppe seinen Wissensbegriff bestimmt (nämlich ein an R. Carnap orientiertes Explikationsprogramm), ignorierten und dass Hinweise auf die Etymologie des Wortes oder seine empirische Verwendung für eine Explikation folglich nicht relevant seien. Zudem greife der mehrfach erhobene Vorwurf des Ahistorismus zu kurz, da Köppes enge Verwendung des Wissensbegriffs differenzierte Begriffsschemata (Wissen vs. Auffassung vs. Intuition etc.) möglich mache und so exaktere Beschreibungen konkreter historischer Phänomene erlaube. Kindt kritisierte, dass Vertreter eines weiten Wissensbegriffs diesen meist nicht explizierten, sondern lediglich durch Fallstudien illustrierten. Zudem bestehe insbesondere bei denjenigen Arbeiten, die zu einer Poetologie des Wissens beitragen wollen, die Gefahr eines Zirkelschlusses, da die Suche nach Ähnlichkeitsrelationen oft produziere, was zuvor postuliert worden sei.
Einen deskriptiven Ansatz wählte Thomas Klinkert (Freiburg) in seinem Beitrag »Literatur und Wissen: Zum Wissensbegriff in einigen neueren Studien zu ihrem Verhältnis«. Anhand aktueller Forschungsarbeiten unterschied Klinkert vier verschiedene Bestimmungen dieses Verhältnisses. Am häufigsten wird nach wie vor davon ausgegangen, dass Literatur in den Wissenschaften generiertes Wissen rezipiert und verbreitet. An Foucault orientierte Studien betrachten Literatur und Wissenschaft dagegen als Diskurse, die zu einer bestimmten Zeit vom derselben »Episteme« bestimmt werden, diese aber – unabhängig davon, ob die Literatur zum Gegendiskurs erklärt wird – auf unterschiedliche Art und Weise repräsentieren. Wieder andere Studien schreiben Literatur die Fähigkeit zu, selbst Wissen generieren zu können, und zwar entweder durch die Vorwegnahme wissenschaftlichen Wissens (z. B. psychiatrisches und psychoanalytisches Wissen in der Literatur des 19. Jahrhunderts) oder durch die Produktion von Wissen, das nur im Prozess literarischer Kommunikation entsteht und existiert. Gegen diese Position wende sich eine vierte, von Tilmann Köppe vertretene Position, der zufolge erstens Wissen stets Personen zugeschrieben werde müsse und nicht Texten und zweitens die für den Erwerb von Wissen notwendigen Bedingungen – Überzeugung, Wahrheit und Rechtfertigung – im Falle fiktionaler literarischer Werke oftmals nicht erfüllt seien.
Diesen engen Wissensbegriff wies Gideon Stiening (München) in seinem Vortrag »Erkenntnistheorie und Wissensgeschichte« ebenso zurück wie denjenigen der Befürworter einer Poetologie des Wissens. Er forderte, zwischen einem wissensgeschichtlichen und einem epistemischen Wissensbegriff zu unterscheiden und betonte zudem die Notwendigkeit, das relevante Wissen zu identifizieren, das in einen Text eingeflossen sei. Am Beispiel von Georg Büchners »Lenz« demonstrierte er, wie eine solche Identifikation erlaube, die möglichen Kontexte eines literarischen Texts zu hierarchisieren, wodurch manche Interpretationen ermöglicht, andere jedoch ausgeschlossen würden.
Lutz Danneberg (Berlin) und Carlos Spoerhase (Kiel) insistierten in ihrem Referat »Wissen in Literatur: Kann es epistemische Situationen geben, in denen Wissen in Literatur ist und in denen Literatur Wissen überträgt?« auf der epistemischen Heteronomie der Literatur. In Literatur eventuell enthaltenes Wissen bedürfe immer der Verbürgung von außen, da die Literatur selbst aufgrund ihres fiktionalen Status (von Danneberg/Spoerhase bestimmt als Art des Umgangs, die den Text als einzigen Zugang zu der von ihm beschriebenen Welt behandelt) eine solche Legitimation nicht leisten könne. Daraus ergebe sich auch, dass Literatur neues Wissen zwar enthalten könne, dieses aber erst ex post von einem Interpreten als neu erkannt werden könne, wenn das Wissen unabhängig vom literarischen Text verfügbar geworden sei. Sie betonten zudem, dass die Frage nach dem Wissen in Literatur eng mit dem Interpretationsproblem verknüpft sei, weil sich zum einen die Frage stelle, welches Wissen auf Rezipientenseite für ein Verstehen/Interpretieren eines Textes als relevant zu betrachten sei und zum anderen, wie Wissen in Literatur überhaupt erkannt werden könne und so eine Unterscheidung zwischen Wissen, das auf Literatur appliziert wird, und solchem, das den Texten selbst zugeschrieben werden kann, möglich werde.
Nicht die Literatur, sondern die Literaturwissenschaft nahm Sandra Richter (Stuttgart) in ihrem Beitrag »Wissen im Wettbewerb – Wettbewerb um Wissen: Epistemologie eines nicht-metaphysischen Prinzips« in den Blick. Nachdem sie kurz die Geschichte des Wettbewerbsbegriffs skizziert hatte, wandte sich Richter verschiedenen wirtschaftswissenschaftlichen Modellen zu, die von einem Markt der Ideen ausgehen. Sie nutzte diese Modelle, um über Literaturwissenschaft im Markt und den Markt in der Literaturwissenschaft zu sprechen und zu zeigen, wie sie mit unterschiedlichen Haltungen zu Ermöglichung, Bewertung und Verbreitung von Erkenntnis zusammenhängen.
Simone Winko (Göttingen) ging in ihrem Vortrag »Textanalyse, Interpretation, Wissen« von der These aus, dass Literatur Wissen erfordere, um auf elementare Weise verstanden zu werden. Ein solches Verstehen liegt laut Winko »vor« komplexeren Bedeutungszuschreibungen, die Gegenstand einer Interpretation sind. Die Beschreibung einschlägiger Wissensbestände erfordere die Unterscheidung verschiedener Wissenstypen, wie sie etwa in der Psychologie vorgenommen werden (u. a. deklaratives und prozedurales Wissen); deren Verhältnis zu einem »engen« Wissensbegriff, wie er Gegenstand der Erkenntnistheorie ist, sei zu klären.
Claus-Michael Ort (Kiel) führte in seinem Beitrag »Was ›weiß‹ Literatur? Oder: Was die Literaturwissenschaft von der Wissenssoziologie (nicht) weiß« einen soziologischen Wissensbegriff in die Debatte ein, der Wissen im Anschluss an die Luhmann’sche Systemtheorie im Spannungsfeld zwischen Semantik und Praxis verortet. Er betonte damit im Gegensatz zu den meisten anderen, eher philosophisch orientierten Beiträgen die Rolle von sozialen Praktiken und Aushandlungsprozessen bei der Konstitution von Wissen.
Aus der Tagung gingen eine Reihe fruchtbarer Beobachtungen zum Forschungsfeld »Literatur und Wissen« hervor. Anhand der referierten Gesichtspunkte und Unterscheidungen wurde nicht zuletzt deutlich, dass es kein einheitliches Forschungsprogramm »Literatur und Wissen« gibt. Zum Teil handelt es sich um neue Perspektivierungen altbekannter Problemstellungen – etwa der Frage nach Kontexten der Interpretation, die jetzt als Frage nach interpretationsrelevanten Wissensbeständen gestellt wird. Systematisch zu unterscheiden ist weiterhin etwa die Frage, inwiefern fiktionale literarische Texte heutigen Lesern als Quellen von Wissen dienen können, von der Frage, welche Rolle literarische Texte in einer »Geschichte des Wissens« spielen können. Zu klären ist dabei in jedem Fall, was im Rahmen der jeweiligen Untersuchung unter »Wissen« verstanden wird und an welchen Stellen programmatische Unterschiede mit begrifflichen Unterschieden einhergehen müssen oder sollten. Ein erster Schritt in diese Richtung wurde im Rahmen der Tagung unternommen. Die Publikation eines erweiterten Tagungsbandes ist für den Herbst 2009 vorgesehen.
Dorothee Birke und Michael Butter
Freiburg Institute for Advanced Studies
School of Language and Literature
2009-03-03
JLTonline ISSN 1862-8990
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